Standpunkte
Welche Bedeutung haben Orte der Erinnerung für Jugendliche?
In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:
Übertragung von Gefühlswelten
Julia Perschon
Das Theater ist ein Ort, an dem wir mit Jugendlichen Geschichte lebendig machen. Es kann anregen, Geschichte und Geschichten gemeinsam hautnah zu erleben und zu reflektieren. Erinnerungskultur ist dabei ein kollektiver Prozess, egal ob sich Jugendliche gemeinsam ein Stück anschauen oder in partizipativen Formaten mit der Vergangenheit auseinandersetzen.
Das Landestheater Niederösterreich hat vor vier Jahren die Veranstaltungsreihe „Erinnerungsbüro“ ins Leben gerufen, bei der wir uns an Orten inner- und außerhalb des Theaters schwerpunktmäßig dem ehemaligen jüdischen Leben von St. Pölten widmen. Dazu gehören Stadtspaziergänge und das partizipative Jugendprojekt „Die lebendige Bibliothek“: Schulklassen erarbeiten auf Basis autobiografischer Texte verstorbener Zeitzeug:innen künstlerische Kurzfilme. Dabei geht es nicht darum, etwas nachzuspielen, sondern um die Übertragung von Gefühlswelten.
Die Jugendlichen melden uns oft zurück, dass Geschichte erstmals für sie greifbar und lebendig geworden ist. Es ist uns ein Anliegen, ihnen das Gefühl zu geben: Wir verhandeln da eure Sache. Wir eröffnen Spiel-, Denk-, Gefühls- sowie Handlungsräume und verknüpfen so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man kann sich – besonders im Medium Theater – mit Themen wie Krieg oder Widerstand auch spielerisch-lustvoll beschäftigen und so Interesse für Dinge entwickeln, die einen vorher abgeschreckt oder nicht interessiert haben.
Die studierte Philosophin und Soziologin Julia Perschon ist Leiterin der Theatervermittlung am Landestheater Niederösterreich, wo sie partizipative Formate für Kinder und Jugendliche entwickelt und das Jugend-Abo kuratiert. Zuvor war sie unter anderem Dramaturgin und Kunstvermittlerin am Dschungel Wien.
Sprich mit Oma und Opa
Ali Mahlodji
Als junger Mensch solltest du in die Vergangenheit schauen, denn Zukunftsgestaltung heißt Gegenwartsaktionismus und ist nur möglich, wenn du verstehst, woher wir kommen. Wir stehen in unserer Gesellschaft gerade an einem Punkt, Gefahr zu laufen, die Vergangenheit neu aufzulegen. Das liegt an einer Geschichtsverdrossenheit, weil Geschichte oft nicht schön und lustvoll aufbereitet wurde.
Kein Mensch will vor einem Geschichtsbuch sitzen und hören: Da waren diese und jene Kriege. Ich bin ständig in Schulklassen und sage den jungen Menschen: „Du kannst zwar versuchen, anhand von Schulbüchern die Welt zu begreifen, aber sprich mit Menschen, mit Oma und Opa, macht Projekte in der Schule und fahrt an geschichtlich interessante Orte.“ Wir brauchen diese Orte, weil nichts so sehr berührt, wie zu wissen: Auf dem Pflasterstein, auf dem ich stehe, wurden grausame Taten begangen. Ein Ort bleibt immer derselbe, nur die Geschichte, die Zeit und die Menschen verändern sich.
Wir spüren auch die Energie von Orten. Das merken wir, wenn wir in eine Kirche oder auf einen Fußballplatz gehen und die Augen schließen. An Orten, wo schlimme Dinge passiert sind, spürt man eine Bedrücktheit. Das ist nicht schön, aber es macht dich achtsamer und dir bewusst, wie dankbar du sein kannst. Demokratie, Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung sind nicht selbstverständlich. Menschen haben mit hohem Blutzoll erarbeitet, dass wir heute im Paradies leben können.
Der österreichisch-persische Unternehmer, Autor und Speaker Ali Mahlodji ist Jugendbotschafter der EU. Er arbeitete in der Tech-Branche und als Lehrer, bevor er die Joborientierungsplattform Whatchado und weitere Unternehmen gründete. Mahlodji berät Unternehmen und Jugendliche und hält Keynotes.
Geschichte viel näher erlebt
Victoria Korbiel
Wir haben mit der Schule viele Ausflüge an Orte der Erinnerung gemacht und meine Eltern haben mich gefühlt durch die Museen und Schlösser von halb Österreich gezogen. Im Nachhinein bin ich dafür unfassbar dankbar, weil mir das sehr viel für die Allgemeinbildung gebracht hat. Sachen zu sehen, das ist immer viel eindrucksvoller als darüber zu hören oder zu lesen. Ich habe zum Beispiel erst vor Ort, in Rom, realisiert, wie viele Menschen im Kolosseum bei Gladiotorenkämpfen zugeschaut haben und war überrumpelt, als ich gesehen habe, wie riesig das KZ Auschwitz war.
Obwohl ich Geschichte sehr mag, war der Unterricht nie fesselnd für mich, weil wir vor allem aus Büchern gelernt haben. In Museen, Konzentrationslagern oder auf Auslandsreisen habe ich Geschichte viel näher erlebt und mir vieles besser gemerkt – ich erinnere mich auch noch Jahre später an prägnante Erfahrungen. Zum Beispiel haben wir in Mauthausen mit einer Zeitzeugin gesprochen, deren Familie zwei Russen bei sich versteckte, die aus dem KZ geflohen waren. Natürlich ist das auch erschreckend, aber es kann einen wachrütteln.
Geschichte lässt sich interessant gestalten, indem ein Bezug zur Gegenwart hergestellt und interaktiv unterrichtet wird. Es ist die Aufgabe unserer Generation, nicht zuzulassen, dass so etwas wie der Holocaust wieder passiert. Indem wir an Orte der Erinnerung gehen, stärken wir das Bewusstsein dafür, was der Satz „Nie wieder ist jetzt“ wirklich bedeutet.
Die Wienerin Victoria Korbiel ist Referentin für Schüler:innenparlamente, Events und mentale Gesundheit in der Landesschüleri:nnen-Vertretung. Sie hat gerade die Matura am Rainergymnasium absolviert, wo sie noch bis zu Beginn des neuen Schuljahres Schulsprecher-Stellvertreterin ist.