© Sascha Osaka
© Sascha Osaka

Ehemalige Synagoge

Strahlkraft


Als 1984 die ehemalige Synagoge in St. Pölten wiedereröffnet wurde, waren keine Holocaustüberlebenden oder deren Nachkommen eingeladen zu sprechen. Auch in der Presse kamen sie nicht vor – und das, obwohl einige von ihnen aus dem Ausland angereist waren. Das erzählte die Historikerin und Judaistin Martha Keil im April dieses Jahres bei der neuerlichen Inauguration der Ehemaligen Synagoge St. Pölten, die sie wissenschaftlich leitet. Diesmal gestalteten zwei Nachkommen von Mitgliedern der zerstörten Kultusgemeinde St. Pöltens, Kantor Paul Heller und Musikerin Monica Scott, die Eröffnungsfeier mit. Ein Ort für die Nachfahren: Das soll der herausragende, prachtvoll ausgestattete und 1913 eröffnete Jugendstilbau der Architekten Theodor Schreier und Viktor Postelberg heute sein. Er erzählt vom einst blühenden jüdischen Leben hier und gedenkt der Shoah-Opfer. Wir trafen Martha Keil zum Gespräch und besichtigten die aktuelle Ausstellung in der Ehemaligen Synagoge. Dabei lernten wir mehr über die Unmöglichkeit, „das“ Judentum zu erklären, einen beschrifteten Kinderstuhl sowie die Zusammenhänge zwischen Kuranstalten und Geschirrproduktion. Näheres zur Ehemaligen Synagoge unter ehemalige-synagoge.at.

Martha Keil

„Dieses Haus lehrt, wie schnell etwas kippen kann“


Martha Keil arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Historikerin für das Institut für jüdische Geschichte Österreichs. Es hat sein Zuhause in der Ehemaligen Synagoge St. Pölten, die nun rundum renoviert als Erinnerungs- und Kulturzentrum neu eröffnet wurde. Mit morgen sprach Keil darüber, was an einem solchen Ort verhandelt werden kann, mit welchen Erwartungen das Publikum kommt und warum Antisemitismus zwar kein Hauptthema ist,

morgen: Sie waren die treibende Kraft hinter der Sanierung der Ehemaligen Synagoge St. Pölten. Hier soll nicht nur ein historischer Ort gezeigt und bewahrt, sondern der Bogen auch in die Gegenwart gespannt werden. Welche Themen kann man hier abhandeln?

Martha Keil

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Hier wird die Geschichte der jüdischen Gemeinde St. Pölten erzählt – von der Entstehung bis zur Vernichtung, aber auch die vorsichtige Anbahnung von Kontakt und Beziehung mit Vertriebenen oder deren Nachkommen. In diesem breiten Feld, wo die jüdische Gemeinde St. Pölten ja nur ein Beispiel von vielen zerstörten Gemeinden ist, kann ich alles unterbringen, was in diesem Haus wichtig war, von Religiosität bis zum Gemeindeleben, von Fürsorge bis Wohltätigkeit, vom Vereinsleben bis Zionismus. Alltäglich war hier der Kampf gegen Antisemitismus, dabei waren die meisten jüdischen Menschen hier nicht orthodox und bis auf den Rabbiner nicht als jüdisch erkennbar. Aber jeder hat natürlich gewusst, wer jüdisch ist. Und abgesehen von dieser unglaublichen Niedertracht und diesem Hass, mit dem die Gemeinde zerstört und beraubt wurde, ist auch der Umgang der nichtjüdischen Gesellschaft und der öffentlichen Stellen mit dem Haus nach dem Krieg exemplarisch für den Umgang mit Nationalsozialismus an sich. Diese vielen Jahre, in denen die Synagoge völlig darniederlag, zwar noch vorhanden, aber total vernachlässigt, nehmen daher auch breiten Raum ein.

Die Synagoge stand ja sogar kurz vor dem Abriss.

Ja, ab 1975. Die Rechtsnachfolge für alle 15 Kultusgemeinden hatte die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien. Und diese wollte kein Geld in eine Ruine pumpen, was ich sehr gut verstehen kann. 1975 hatte die IKG mit derartig vielen Problemen zu kämpfen. Dass da ein Kulturbau in St. Pölten vor sich hinbröselt, war ihre letzte Sorge. Aber der Abriss der Synagoge in Krems, die innen und außen intakt war, im Jahr 1978, ausgerechnet 40 Jahre nach dem sogenannten Anschluss – der hat St. Pölten aufgerüttelt. Man hat sich die Frage gestellt: Wollen wir das wirklich? Noch eine Synagoge abreißen, ein Zeugnis nicht nur von architektonischer, sondern auch historischer Bedeutung? Nur ein kleiner Teil der Vertriebenen ist nach der NS-Zeit zurückgekommen und musste dann diese Ruine als Stachel, als Wunde der Stadt mitansehen.

Anders als an ähnlichen Orten – ich denke zum Beispiel an die nun als Jüdisches Museum genutzte Synagoge in Amsterdam oder in Krakau – entschieden Sie sich dagegen, hier anhand von Judaika die Grundzüge des Judentums zu erläutern. Warum?

Ich will und kann „das“ Judentum nicht erklären, weil ich aus meiner kulturhistorischen Perspektive sehe: „Das“ Judentum gibt es nicht. Und zeigen, wie die vielen Judentümer gelebt werden, gemeindeorientiert, aber auch individuell, das kann ich keinesfalls. Zum zweiten Punkt, Judaika auszustellen: Das hätte ich sehr gerne gemacht – nur gibt es hier keine mehr. Es sind alle gestohlen, es sind alle geraubt. Es wurde alles kurz und klein geschlagen, eingeschmolzen, vielleicht liegt irgendwo etwas auf einem Dachboden. Die ganzen langen Jahre, die wir jetzt hier sind, ist uns kein einziger Gegenstand irgendwie zur Kenntnis gekommen. Das heißt, wenn ich jetzt etwas leihe oder sogar kaufe, tue ich so, als wäre es von hier. Ich möchte das nicht vortäuschen. Das heißt aber nicht, dass Religion hier fehlen würde. Wir sind in einer ehemaligen Synagoge, und glücklicherweise sind sakrale Bauelemente erhalten. Einige wurden weggerissen, wie die Handwaschbecken oder die Stufen zum Thoraschrein, aber der Schrein an sich ist vorhanden, die Frauenempore, die schöne Gestaltung. Es gibt genug Impulse, die aus dem Raum kommen, um jüdische Religion zu erklären. Und es gibt auch noch zwei Machsorim, also Festtagsgebetbücher, und ein kleines Gebetbuch, sodass ich weiß, welcher Ritus hier war, nämlich der des Wiener Stadttempels. Und wenn Einladungen für einen Purim-Ball erhalten sind, dann ist das eine Gelegenheit zu zeigen, was Purim ist. Es wird aber kein jüdischer Jahreskreislauf geboten.

Der Umgang mit dem Haus nach dem Krieg ist exemplarisch für den Umgang mit Nationalsozialismus an sich.

Die restaurierte Synagoge wurde am Eröffnungswochenende bereits von 3.000 Interessierten besucht. Mit welchen Erwartungen kommen die Besucherinnen und Besucher?

aber auch mit der Erwartung, zu erfahren, wie eine Synagoge aussieht. Wobei ich nicht müde werde zu wiederholen, dass das nur eine Möglichkeit ist, wie eine Synagoge aussieht. Es gibt viele andere Möglichkeiten. Was sein muss, ist, dass der Thoraschrein im Osten ist und die Frauen abseits vom Hauptraum sitzen. Hier waren sie auf der Frauen­empore untergebracht. Erwartet haben aber sicher viele, dass sie das Judentum vermittelt bekommen. Und manche sicher auch, dass es hier zu Begegnungen mit jüdischen Menschen kommt. Es kommt sehr oft die Frage, ob es noch Juden in St. Pölten gebe und eine jüdische Gemeinde. Ich kann da leider nur sagen, dass es seit dem Tod von Hans Morgenstern im November zwar noch Nachkommen gibt, aber in keiner Weise mehr ein gelebtes jüdisches Leben.

Welches Feedback gab es bisher auf diese Art, ein Kulturzentrum zu gestalten?

Alle sind beeindruckt vom Raum, vor allem von den Wandmalereien. Dann kommt oft die Frage, ob das typisch jüdisch sei. Die Menschen sind erstaunt zu hören, dass es ein Gewerkschaftshaus in Budapest und einige Bürgerhäuser in Leipzig gibt, die genauso bemalt wurden. Die Besucher:innen bekommen aber doch einen Eindruck von einer Gemeinde, die zwar nicht groß und auch nicht vermögend war, die sich aber dennoch so ein repräsentatives Haus hinstellte. Das war ja auch ein Statement des Bleiben-Wollens. Schön ist zu sehen, wie die Besucher:innen dann bei den Medienstationen hängen bleiben, da wirklich hineinkippen und dann doch ihre – geschichtlich verschobene – Begegnung mit jüdischen Menschen haben. Sie hören die Stimmen der von hier Vertriebenen, die Emotionen, sie spüren aber auch: Die reden ja wie wir.

Der Bau an sich, 1913 im Jugendstil errichtet, ist ein Architekturjuwel. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde St. Pöltens ist dagegen ein schwarzes Kapitel der Stadtgeschichte. Mit wie viel Stolz und mit wieviel Demut muss man so ein Haus führen?

Stolz wäre mir hier nicht zuerst in den Sinn gekommen, eher Verantwortung und Bewusstsein für die Geschichte. Demut? Ja, weil dieses Haus lehrt, was Menschen tun können, wie schnell etwas kippen kann. Das sind Einsichten, die schon auch an den eigenen Unsicherheiten kratzen. Worauf ich aber doch stolz bin, ist meine Beharrlichkeit. Man nennt mich immer die treibende Kraft, aber ohne politischen Willen und ohne diese günstige Konstellation der Vielleicht-Kulturhauptstadt wäre diese Renovierung nicht passiert. Da braucht man sich keine Illusionen zu machen. Aber durch meine Person war eine Kontinuität da, auch an Wissen. All das, was in den letzten Jahrzehnten am Institut für jüdische Geschichte Österreichs geleistet wurde, ist nun die Basis für die Vermittlung hier. Es gibt aber auch die Kontinuität des Kontakts zu den aus St. Pölten Vertriebenen und deren Nachkommen.

Als Historikerin haben Sie sich in Ihrem ganzen bisherigen Berufsleben mit der jüdischen Geschichte Österreichs auseinandergesetzt. Aktuell sehen sich Juden und Jüdinnen in Israel, aber auch in der Diaspora, mit einem neuen Kapitel jüdischer Geschichte konfrontiert. Der 7. Oktober hat ihren Alltag verändert, auch in Österreich. In der Ehemaligen Synagoge St. Pölten wurde ein Kindersessel aufgestellt, der auf das Schicksal der Geiseln hinweisen soll. Warum ist Ihnen das wichtig?

Ich empfinde deutlich, dass dieser 7. Oktober ein ungeheurer Bruch war. Wir wissen zwar von der Gefährdung Israels durch seine Umgebung und grundsätzlich von der Gefährdung von Jüd:innen durch Antisemit:innen, aber mit so einem Pogrom hat niemand gerechnet. Man muss sich dieses Gemetzel vergegenwärtigen, dass Menschen anderen Menschen gegenüberstehen, Kindern gegenüberstehen, und diese Überwindung der Distanz dann mörderisch ausgelebt wird. Ich war so fassungslos, weil da eine Grenze überschritten worden ist. Wir hatten die Illusion von einem Einhalten einer gewissen Menschlichkeit, trotz aller Kämpfe, trotz aller Terrorattacken in den letzten Jahren. Das war einfach über alle Maßen eine Grenzüberschreitung menschlichen Verhaltens. Und daher war es mir ein Bedürfnis, hier diesen Kindersessel hinzustellen – keine großen Worte zu machen und dennoch eine Präsenz herzustellen.

Ohne politischen Willen wäre die Renovierung der Ehemaligen Synagoge nicht passiert.

Welchen Stellenwert soll das Thema Antisemitismus an diesem Ort bekommen? Und wie verhandelt man dieses Problem in einer Stadt, in der es keine jüdische Gemeinde mehr gibt?

üd:innen braucht, wissen wir ja leider. Der Antisemitismus ist ein Konglomerat an Projektionen, Vorurteilen, Auslagerung von Selbsthass. Da er schon fast Jahrtausende in unserer Kultur verankert ist, ist er so salonfähig. Und durch den 7. Oktober wird die Anfeindung Israels zum Vehikel. Antisemitismus ist in der Ehemaligen Synagoge St. Pölten zwar nicht das Hauptthema, weil es hier um die einstige jüdische Gemeinde gehen soll. Aber abgesehen von der Zerstörung der Synagoge und Gemeinde kommt er natürlich auch in den Lebensläufen vor. Auch die Wechselausstellungen werden immer wieder Aspekte beleuchten. Ich kann leider jüdische Existenz und jüdische Geschichte nicht ohne Antisemitismus erzählen – auch wenn ich finde, dass das ein Thema ist, mit dem sich weniger jüdische Museen und Einrichtungen und mehr die Gesellschaft und die Antisemit:innen selbst beschäftigen sollten. ● ○

© NÖ Museum Betriebs GmbH / Klaus Pichler
© NÖ Museum Betriebs GmbH / Klaus Pichler

Dinge bewegen

Ein Hauch von Luxus


Wie und warum ein Austern- zum Sederteller wurde:
Das – und viel mehr – erzählt die Ausstellung „Dinge bewegen. Gegenstände und ihre jüdischen
Geschichten“ in der Ehemaligen Synagoge St. Pölten.

Es ist eine ungewöhnliche Ausstellung, die Kuratorin Martha Keil in der von ihr geleiteten und kürzlich neu eröffneten Ehemaligen Synagoge St. Pölten gelang. Sie heißt „Dinge bewegen. Gegenstände und ihre jüdischen Geschichten“ und versammelt sieben Exponate von jüdischen Eigentümern und Eigentümerinnen, die in der Shoa vertrieben oder ermordet wurden. Gegenstände, die nicht nur örtlich bewegt, sondern auch in einen anderen Zusammenhang verschoben, umfunktionalisiert, manchmal verfremdet wurden: eine Thorarolle beispielsweise, die ein Hobbymaler später – in völliger Ignoranz ihrer religiösen Bedeutung – als Malgrund eines Landschaftsbilds missbrauchte. Doch auch Tröstliches findet sich hier: So gelangte die Sammlung kleiner persönlicher Dinge der jungen Röntgenassistentin Hanna Kuh, die nach Großbritannien fliehen konnte, nach deren Tod zurück nach Österreich. Heute lagert sie, wenn nicht gerade ausgestellt, in der Österreichischen Exilbibliothek in Wien.

Ästhetisch bestechend

Aus den Gegenständen, deren verschlungene Geschichten Wandtexte und Audioaufnahmen erzählen, sprechen nicht nur die schrecklichen Schicksale ihrer ursprünglichen Besitzerinnen und Besitzer, sondern sie geben auch Einblick in die Geschichte und Kultur jüdischen Alltagslebens.

Ein ästhetisch besonders bestechendes Beispiel dafür ist der Sederteller der Familie Fantl-Brumlik, heute in den Landessammlungen Niederösterreichs. Ein solcher kommt nach jüdischer Tradition beim Sedermahl – am Abend vor dem Passahfest – zum Einsatz. Dieses gedenkt des über 3.000 Jahre zurückliegenden Auszugs aus Ägypten, dem damit einhergehenden Ende der Sklaverei und dem Aufbruch in das gelobte Land. Die Zeremonie entfaltet sich im Kreis der Familie oder Gemeinde nach einem fixierten Ablauf: Man liest Texte, singt und isst gemeinsam. Auf dem Sederteller werden sechs symbolische Speisen gereicht. Bitterkräuter gemahnen an die Bitterkeit der Knechtschaft vor dem Auszug, ein angebratener Lammknochen an die Opferung des Lamms. In der Mitte des Tellers versinnbildlicht eine Schale Salzwasser die vergossenen Tränen.

Der Sederteller aus Porzellan, der einst im Besitz der Bischofstettner Familie Fantl-Brumlik war, ist allerdings kein gewöhnlicher. Um einen zentralen plastischen Stern gruppieren sich sechs muschelförmige Mulden, die Zwischenräume gliedern goldene Schuppen. Das üppige Erscheinungsbild des glänzenden Tellers mit lüstrierter Glasur, der in makellosem Zustand ist, lässt an die Atmosphäre von reichlich ausgestatteten und theatral dekorierten Salons denken, wie sie zu seiner Entstehungszeit um die Jahrhundertwende in wohlhabender Gesellschaft gepflegt wurde. Doch der Teller erzählt weit mehr als das mit bloßem Auge Ersichtliche.

Sprechende Gegenstände: Ausstellung „Dinge bewegen“ auf der oberen Frauenempore

© NÖ Museum Betriebs GmbH / Klaus Pichler
© NÖ Museum Betriebs GmbH / Klaus Pichler

Appetitanregend

Wie seine Rückseite besagt, entstand das Geschirr im frühen 20. Jahrhundert in Paul Küchlers Porzellanmanufaktur Karlsbad. Die Stadt im heutigen Tschechien gehörte seit dem 18. Jahrhundert neben Franzensbad und Marienbad zu den gern besuchten Kurbädern des sogenannten Bäderdreiecks. Zunächst kurte hier die Aristokratie; während des 19. Jahrhunderts entdeckte auch das Großbürgertum das Heiltrinken. Die Porzellanmanufakturen der Region nutzten den Aufenthalt der wohlhabenden Gäste und passten ihr Angebot deren Bedürfnissen an. So manchem Gast stand der Sinn danach, seinem Kuraufenthalt einen Hauch von Luxus zu verleihen und sich ein halbes Dutzend Austern zu gönnen. Deren Verzehr war durch die aufgekommene Austernzucht gerade in Mode gekommen. Und dafür erfanden und produzierten die Porzellanmanufakturen spezifische Geschirre mit sechs Mulden für die kostbaren Muscheln und einer zentralen Rundung für die Zitrone. Der verführerische Perlmuttschimmer der Glasur sollte nicht nur dem Inneren der Muschelschalen ähneln, sondern vor allem den optischen Reiz und folglich den Appetit erhöhen. Viele solcher raffiniert gestalteter Teller fanden ihren Weg als Souvenir in die Sammlungen der Kurgäste.

Andere Interpretation

Da ein Großteil des zu Wohlstand gelangten Bürgertums jüdischen Glaubens war, suchte man auch diese potenzielle Kundschaft zu gewinnen. Allerdings sind Muscheln, wie andere Meeresfrüchte, nicht koscher – der jüdische Glaube verbietet den Genuss jeglicher Meerestiere ohne Schuppen und Flossen. Somit verlieh die kreative Porzellanproduktion dem Austernteller schlichtweg eine andere Interpretation und bot das Modell einfach als Sederteller an. Als solcher ist das Exponat der Ausstellung in der Ehemaligen Synagoge eindeutig zu erkennen: Jede der sechs Mulden ist mit goldenen hebräischen Lettern beschriftet, die sie der jeweiligen Zutat des Sedermahls zuweisen. Paul Küchler, der diesen Teller in seinem Atelier in Karlsbad fertigte, war selbst jüdischen Glaubens. Sowohl seine Familie als auch die Besitzerfamilie Fantl-Brumlik wurden 1942 deportiert und danach ermordet. Einzig der 1924 geborene Walter Fantl-Brumlik konnte sich retten (siehe dazu das Porträt über den 2019 verstorbenen Holocaust­überlebenden in morgen 4/2021). Johanna Thür, das frühere Dienstmädchen der Familie, bewahrte Dokumente und Gegenstände aus deren Besitz auf, darunter den ausgestellten Sederteller. So überdauerte das prachtvolle Stück bis in die Gegenwart.

Das Exponat erinnert somit zunächst an die Verfolgung und Ermordung der Familien seines Herstellers Paul Küchler und der Fantl-Brumliks im Holocaust. Seine spezifische Form und Präsenz verweist aber auch auf den einstigen Wohlstand und Standeswert des jüdischen Bürgertums, die Wonnen eines lustvollen Kuraufenthalts in Karlsbad und, damit verbunden, die genüsslichen Quellen seiner ausgefallenen Gestalt. Insbesondere gemahnt er an den Sinn und Ursprung des rituellen Sedermahls, an den Auszug aus Ägypten und vor allem an die Verheißung des gelobten Landes – was, in die erschütternde Realität der gegenwärtigen Geschehnisse transferiert, Hoffnung geben mag. ● ○

Das üppige Erscheinungsbild des Tellers lässt an die Atmosphäre von Salons denken.