Ich liebe Klassentreffen.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich gern in die Schule gegangen bin und kein Prüfungstrauma erlitten habe. Aber auch mein jetziger Wohnort, der mehr als 100 Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt liegt, trägt dazu bei, dass ich meine Schulkolleginnen und -kollegen selten, beinah nie treffe und ich mich deshalb sehr auf sie freue.
Zum jüngsten Jubiläumsklassentreffen bereitete ich eine Überraschung vor. Ich scannte alle verfügbaren Fotos aus meiner Gymnasialzeit ein, gestaltete damit ein Buch und nahm es mit.
Gekommen sind 22 „Mädchen“ und „Burschen“, die sich optisch mächtig verändert haben. Nach dem anfänglichen Beäugen – die/der ist aber alt geworden, mindestens 20 Kilo schwerer als damals, weißhaarig, kahlköpfig, die Haut schaut so blass aus … wo ist das Sixpack von damals geblieben? – wird umarmt, geküsst und geherzt, denn bald wird klar, dass wir trotz der Gesichtsfalten und Speckröllchen um die Mitte dieselben geblieben sind und die Wiedersehensfreude die kleinen Makel überwiegt.
Ganz diskret ins Ohr geflüstert, wird nach dem Grund der jeweiligen Gehhilfen gefragt. Zum Glück werden der Rollstuhl, der Rollator und die Krücken nur temporär eingesetzt, weil gerade neue Ersatzteile eingebaut wurden. Knie, Hüfte, Bandscheibe. Alles, was zu reparieren ist, wird gemacht. Die Medizin schafft das Wunder, dass wir noch nicht zum alten Eisen gehören.
Und dann, schon im Sitzen, bekommt mein Album einen großen Auftritt. Die ergrauten Köpfe stecken zusammen, die Finger gleiten über die Fotos. „Ah“ und „oh“ wird gerufen, und: „Schaut euch das nur an, wie schön und jung wir einmal waren.“
„Und die Mode! Was haben wir denn an? Glockenhosen und Miniröcke.“
„Wo waren wir denn da?“
„War das in der ersten oder in der zweiten Klasse?“
„Und hier waren wir auf Exkursion in Prag. Das Quartier war sehr schlecht, aber unsere Laune dafür umso besser.“ Es folgen Fotos vor dem Bus, im Bus, vor einer Burg, im Museum, auf den Kirchentreppen, auf dem Rand eines Springbrunnens sitzend. Wir posieren, lachen, blödeln. Eine Bande ungestümer Kinder, die gerade die Welt entdecken.
„Das hier war der Wandertag in den Kleinen Karpaten.“
„Und das hier sind die Bilder vom Janáček-Theater in Brünn. Was haben wir dort gesehen?“
„Die Leichtathletik-Wettbewerbe waren spitze. Das war in Trnava. Ich belegte den dritten Platz im Hochsprung.“
„Und hier waren wir zelten an der Waag. In der Nacht hat uns der Lehrer beim Biertrinken erwischt.“
„Oh, und der Skikurs in Donovaly. Unvergesslich. Erinnert ihr euch an die Panne mit der Gondel?“
Wie könnten wir das vergessen haben? Aufgrund eines technischen Defektes blieb die Seilbahn fast zwei Stunden still. Zum Glück waren die meisten Schüler schon auf dem Berg, nur A. und P. hingen in der Kabine hoch über den Klippen. Was dort in den zwei Stunden passierte, können wir nur erahnen, denn als die zwei endlich bei uns in der Bergstation ankamen, bemerkten wir keine Angst oder Panik in ihren Gesichtern, sondern pure Liebe. Aus ihren Augen strahlten rote Herzchen, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie bis über beide Ohren ineinander verliebt waren. Fast jede Klasse hatte mindestens ein Liebespärchen. Wir eben A. und P. Und auch wenn diese Liebe nicht ewig dauerte – eigentlich war kurz nach der Matura Schluss –, war es schön, das Erwachen der Gefühle unter uns zu spüren.
Als wir mit 15 nach der neunjährigen Grundschule ins Oberstufengymnasium wechselten, war unsere Schule ein Neubau am Rande einer – aus dem Boden geschossenen – Plattenbausiedlung. Etwa eine Woche vor Schulbeginn forderte uns die Direktorin auf, bei den Reinigungsarbeiten auszuhelfen, damit der Unterricht rechtzeitig beginnen konnte. Wir putzten die Fenster, kehrten die Böden, trugen die Verpackungsmaterialien, in die unsere neuen Schulbänke eingewickelt waren, in den bereitgestellten Container.
Am 1. September ging es los. Wir waren die ersten Schüler, die diese Schule besuchten. Im ersten Jahr gab es zehn erste Parallelklassen: A bis J. Das machte etwa 300 Pubertierende, 30 davon in unserer Klasse.
Die Siedlung, die Schule und auch wir, alles war neu. In dem neu entstandenen Stadtsatelliten gab es noch keine asphaltierten Straßen, keine Gehsteige, von Bäumen oder Sitzbänken keine Spur, nur einen mit provisorischen Platten ausgelegten Weg, der vom Bus bis zur Schule führte, damit wir im Regen nicht allzu viel Schlamm in die Schulhalle brachten. Wir erlebten die langsame Kultivierung der Siedlung und ihre Verschönerung, ohne darauf besonders zu achten. Denn wichtiger als das waren die Discos in der Stadt oder der Korso, auf dem wir uns allabendlich trafen.
Heute ist meine alte Schule ein angesehenes und begehrtes bilinguales Gymnasium mit den Fremdsprachen Deutsch, Englisch und Russisch. Ihre Absolventen und Absolventinnen haben die besten Chancen, an in- und ausländischen Universitäten und Hochschulen zu studieren und sich danach in ihren Berufen zu etablieren. Und sie ist auch äußerlich nicht mehr wiederzuerkennen. Umgeben von hohen Bäumen, ausgedehnten Grünflächen und einem voll ausgestatteten Sportplatz wirkt sie trotz einiger Zubauten neben den umliegenden Hochhäusern klein und gemütlich.
Ob sich die Bewohner der nahen Stiegenhäuser immer noch zum jeweiligen Direktor oder zur jeweiligen Direktorin beschweren gehen? Die Hauseingänge dienten damals als Rauch- und „Knutschzone“, die so manchen Moralapostel auf den Plan riefen.
Wir blättern weiter im Album und finden neue Details, neue Erlebnisse, neue Orte. Die Fotos im hinteren Teil des Albums dokumentieren unsere früheren Maturatreffen. Eine Zeitreise über Jahrzehnte.
Zum Schluss machen wir Erinnerungsfotos. Die ganze Gruppe im Sitzen und im Stehen. Jeder einzeln, jeder mit jedem. Wir versichern einander, dass es das schönste Treffen seit Langem war und versprechen, ab jetzt jedes Jahr am gleichen Ort zur gleichen Zeit zu erscheinen. Es ist der Tag, an dem unsere mündliche Matura begann, die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, das Restaurant, das die, die in der Stadt geblieben sind, lieben.
Große Abschiedsszenen, bevor es nach Hause geht. H. fliegt am nächsten Tag nach Zürich, wo sie mit ihrer Familie lebt, B. bleibt noch ein paar Tage, bevor er in den Flieger nach Brüssel steigt, wo er seit dem EU-Eintritt der Slowakei arbeitet. O. ist Zahnarzt geworden und ordiniert in einem kleinen Ort irgendwo in Bayern. Und ich … ich fahre mit dem Zug nach Österreich und schreibe Geschichten aus dem Osten in der Sprache des Westens. ● ○