© NÖ Museum Betriebs GmbH / Klaus Pichler
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Dinge bewegen

Ein Hauch von Luxus


Wie und warum ein Austern- zum Sederteller wurde:
Das – und viel mehr – erzählt die Ausstellung „Dinge bewegen. Gegenstände und ihre jüdischen
Geschichten“ in der Ehemaligen Synagoge St. Pölten.

Es ist eine ungewöhnliche Ausstellung, die Kuratorin Martha Keil in der von ihr geleiteten und kürzlich neu eröffneten Ehemaligen Synagoge St. Pölten gelang. Sie heißt „Dinge bewegen. Gegenstände und ihre jüdischen Geschichten“ und versammelt sieben Exponate von jüdischen Eigentümern und Eigentümerinnen, die in der Shoa vertrieben oder ermordet wurden. Gegenstände, die nicht nur örtlich bewegt, sondern auch in einen anderen Zusammenhang verschoben, umfunktionalisiert, manchmal verfremdet wurden: eine Thorarolle beispielsweise, die ein Hobbymaler später – in völliger Ignoranz ihrer religiösen Bedeutung – als Malgrund eines Landschaftsbilds missbrauchte. Doch auch Tröstliches findet sich hier: So gelangte die Sammlung kleiner persönlicher Dinge der jungen Röntgenassistentin Hanna Kuh, die nach Großbritannien fliehen konnte, nach deren Tod zurück nach Österreich. Heute lagert sie, wenn nicht gerade ausgestellt, in der Österreichischen Exilbibliothek in Wien.

Ästhetisch bestechend

Aus den Gegenständen, deren verschlungene Geschichten Wandtexte und Audioaufnahmen erzählen, sprechen nicht nur die schrecklichen Schicksale ihrer ursprünglichen Besitzerinnen und Besitzer, sondern sie geben auch Einblick in die Geschichte und Kultur jüdischen Alltagslebens.

Ein ästhetisch besonders bestechendes Beispiel dafür ist der Sederteller der Familie Fantl-Brumlik, heute in den Landessammlungen Niederösterreichs. Ein solcher kommt nach jüdischer Tradition beim Sedermahl – am Abend vor dem Passahfest – zum Einsatz. Dieses gedenkt des über 3.000 Jahre zurückliegenden Auszugs aus Ägypten, dem damit einhergehenden Ende der Sklaverei und dem Aufbruch in das gelobte Land. Die Zeremonie entfaltet sich im Kreis der Familie oder Gemeinde nach einem fixierten Ablauf: Man liest Texte, singt und isst gemeinsam. Auf dem Sederteller werden sechs symbolische Speisen gereicht. Bitterkräuter gemahnen an die Bitterkeit der Knechtschaft vor dem Auszug, ein angebratener Lammknochen an die Opferung des Lamms. In der Mitte des Tellers versinnbildlicht eine Schale Salzwasser die vergossenen Tränen.

Der Sederteller aus Porzellan, der einst im Besitz der Bischofstettner Familie Fantl-Brumlik war, ist allerdings kein gewöhnlicher. Um einen zentralen plastischen Stern gruppieren sich sechs muschelförmige Mulden, die Zwischenräume gliedern goldene Schuppen. Das üppige Erscheinungsbild des glänzenden Tellers mit lüstrierter Glasur, der in makellosem Zustand ist, lässt an die Atmosphäre von reichlich ausgestatteten und theatral dekorierten Salons denken, wie sie zu seiner Entstehungszeit um die Jahrhundertwende in wohlhabender Gesellschaft gepflegt wurde. Doch der Teller erzählt weit mehr als das mit bloßem Auge Ersichtliche.

Sprechende Gegenstände: Ausstellung „Dinge bewegen“ auf der oberen Frauenempore

© NÖ Museum Betriebs GmbH / Klaus Pichler
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Appetitanregend

Wie seine Rückseite besagt, entstand das Geschirr im frühen 20. Jahrhundert in Paul Küchlers Porzellanmanufaktur Karlsbad. Die Stadt im heutigen Tschechien gehörte seit dem 18. Jahrhundert neben Franzensbad und Marienbad zu den gern besuchten Kurbädern des sogenannten Bäderdreiecks. Zunächst kurte hier die Aristokratie; während des 19. Jahrhunderts entdeckte auch das Großbürgertum das Heiltrinken. Die Porzellanmanufakturen der Region nutzten den Aufenthalt der wohlhabenden Gäste und passten ihr Angebot deren Bedürfnissen an. So manchem Gast stand der Sinn danach, seinem Kuraufenthalt einen Hauch von Luxus zu verleihen und sich ein halbes Dutzend Austern zu gönnen. Deren Verzehr war durch die aufgekommene Austernzucht gerade in Mode gekommen. Und dafür erfanden und produzierten die Porzellanmanufakturen spezifische Geschirre mit sechs Mulden für die kostbaren Muscheln und einer zentralen Rundung für die Zitrone. Der verführerische Perlmuttschimmer der Glasur sollte nicht nur dem Inneren der Muschelschalen ähneln, sondern vor allem den optischen Reiz und folglich den Appetit erhöhen. Viele solcher raffiniert gestalteter Teller fanden ihren Weg als Souvenir in die Sammlungen der Kurgäste.

Andere Interpretation

Da ein Großteil des zu Wohlstand gelangten Bürgertums jüdischen Glaubens war, suchte man auch diese potenzielle Kundschaft zu gewinnen. Allerdings sind Muscheln, wie andere Meeresfrüchte, nicht koscher – der jüdische Glaube verbietet den Genuss jeglicher Meerestiere ohne Schuppen und Flossen. Somit verlieh die kreative Porzellanproduktion dem Austernteller schlichtweg eine andere Interpretation und bot das Modell einfach als Sederteller an. Als solcher ist das Exponat der Ausstellung in der Ehemaligen Synagoge eindeutig zu erkennen: Jede der sechs Mulden ist mit goldenen hebräischen Lettern beschriftet, die sie der jeweiligen Zutat des Sedermahls zuweisen. Paul Küchler, der diesen Teller in seinem Atelier in Karlsbad fertigte, war selbst jüdischen Glaubens. Sowohl seine Familie als auch die Besitzerfamilie Fantl-Brumlik wurden 1942 deportiert und danach ermordet. Einzig der 1924 geborene Walter Fantl-Brumlik konnte sich retten (siehe dazu das Porträt über den 2019 verstorbenen Holocaust­überlebenden in morgen 4/2021). Johanna Thür, das frühere Dienstmädchen der Familie, bewahrte Dokumente und Gegenstände aus deren Besitz auf, darunter den ausgestellten Sederteller. So überdauerte das prachtvolle Stück bis in die Gegenwart.

Das Exponat erinnert somit zunächst an die Verfolgung und Ermordung der Familien seines Herstellers Paul Küchler und der Fantl-Brumliks im Holocaust. Seine spezifische Form und Präsenz verweist aber auch auf den einstigen Wohlstand und Standeswert des jüdischen Bürgertums, die Wonnen eines lustvollen Kuraufenthalts in Karlsbad und, damit verbunden, die genüsslichen Quellen seiner ausgefallenen Gestalt. Insbesondere gemahnt er an den Sinn und Ursprung des rituellen Sedermahls, an den Auszug aus Ägypten und vor allem an die Verheißung des gelobten Landes – was, in die erschütternde Realität der gegenwärtigen Geschehnisse transferiert, Hoffnung geben mag. ● ○

Das üppige Erscheinungsbild des Tellers lässt an die Atmosphäre von Salons denken.