Gesellschaft • Assmann

„Dialogisches Erinnern wäre lebensrettend"


Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann gilt als die Expertin für das Erinnern schlechthin. morgen sprach mit ihr über die Fähigkeit des Gedächtnisses und die Notwendigkeit des Vergessens, die Rolle nationaler Identitäten heute, den Umgang mit der Vergangenheit in Österreich und Deutschland sowie den Israel-Palästina-Konflikt.

morgen: Frau Assmann, summiert sich ein Leben aus dem bisher Getanen und Erlebten? Oder daraus, wie wir das bisher Getane und Erlebte erinnern?

Aleida Assmann

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Letzteres stimmt. Es geht viel mehr ums Wie als ums Was. Wie wir etwas erleben und erinnern, macht uns letztlich zu dem Menschen, der wir sind.

Sie sagen damit nicht weniger, als dass das Sein geringere Bedeutung hat als die Interpretation des Seins. Wir alle leben unablässig in unserer Blase? Verzerren ständig die Wirklichkeit?

Ich würde nicht von Verzerrung reden. Menschen schaffen sich Wirklichkeit. Natürlich gibt es äußere Lebensumstände, aber deren Deutung und Einordnung ist uns überlassen. Und das ist gut so. Ich halte es für wesentlich, dass wir die Welt deuten können. Es ist notwendig und überlebenswichtig: Wie verarbeite ich Krieg, was mache ich mit Krankheit, wie überstehe ich Armut und Statusverlust, wie gehe ich damit um, wenn mir buchstäblich die Zukunft ausgeht? Viktor Frankl ist dafür das beste Beispiel, seine Sinnhypothese ließ ihn das KZ überleben. Das Wichtigste für den Menschen sei, sagte Frankl, dass er auf die Frage nach dem Warum eine Antwort findet und damit andere Menschen ermutigen kann.

Ist es nun so, dass wir unsere Erinnerungen machen? Oder machen unsere Erinnerungen uns?

Beides. In meiner Forschung unterscheide ich das Ich-Gedächtnis vom Mich-Gedächtnis. Im Ich-Gedächtnis bin ich Subjekt, über das Ich-Gedächtnis verfüge ich, hier kann mein Wille mitarbeiten. Im Mich-Gedächtnis hingegen werde ich ohne Zutun von Erinnerungen heimgesucht. Hier werde ich als Mensch zum Objekt, ausgelöst von Sinnesreizen oder in dramatischen Fällen von Traumata.

An diesem Punkt kommt neben der Fähigkeit des Erinnerns die Gnade des Vergessens ins Spiel.

Ja, das Vergessen ist wichtig. Es gibt eine neurologische Krankheit, die sich darin äußert, dass die Patienten nicht vergessen können. Davon betroffene Menschen können ihr Leben nicht mehr organisieren, sind überrumpelt von Einzelheiten, können nicht sortieren, nicht hie­rarchisieren, kommen zu keiner Entscheidung. Der Mensch ist paralysiert ohne die Gabe des Vergessens. Wenn wir es umdrehen und uns fragen, was geschähe, könnten wir nicht erinnern, wären wir ähnlich zurückgeworfen. Wir könnten etwa nichts versprechen oder zusagen, da wir uns an das Versprochene oder Vereinbarte ja nicht erinnerten, wir wären nicht schuldfähig, weil wir uns auch an unsere Taten nicht erinnerten, und wir könnten auch für nichts dankbar sein.

Viele sehnen aktuell ein Ende der Nationen herbei, ein Überwinden ihrer engen Grenzen, weil sie oft zu Konflikten, oft zu Kriegen führen. Sie hingegen scheinen den Begriff der Nation positiv zu beurteilen.

Nehmen wir den Krieg Russlands gegen die Ukraine. In einer Zeit, in der wir glaubten, über die Nationen langsam hinweg zu sein, führt uns dieser vor Augen, welch wichtige Rolle nationale Identität immer noch spielt. Es führt uns zurück zu Raphael Lemkin, den Erfinder des Begriffs Genozid – von griechisch genos, Volk, und lateinisch caedere, töten –, den er als jüdischer Jurist ersonnen hat, und zwar ausgehend vom Völkermord der Türken an den Armeniern 1915/16 und jenen Stalins an den Ukrainern durch den Holodomor, den Hungermord 1932/33. Kurz bevor Hitler den Zweiten Weltkrieg begann, sagte er: „Wer spricht heute noch von den Armeniern?“ Für einen Mord wurde man vor Gericht bestraft, für einen Völkermord aber gab es keine Strafen. Deshalb fühlte Hitler sich sicher, als er die europäischen Juden ermordete und andere ethnische Gruppen verfolgte. Lemkin wollte derartige Menschheitsverbrechen vor Gericht bringen. Deshalb gibt es heute den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Genozid hat bei Lemkin eine doppelte Bedeutung: die biologische Auslöschung der Mitglieder einer Gruppe, aber auch die Auslöschung ihrer Kultur. Beim Angriff Russlands auf die Ukra­ine geht es nun genau darum. Putin will der Ukraine das Recht auf ihre nationale Kultur nehmen. Im Fall der Ukraine ist die Nation also etwas Schützenswertes, etwas, das den Rahmen für Kultur und Identität und Geborgenheit bietet.

Der Vergangenheit entkommt man nur durch Erinnern.

Wie beurteilen Sie den Israel-­Palästina-Konflikt?

Es ist ein lange währender und nun abermals aufgeflammter Erinnerungskonflikt. Wir erleben seine Globalisierung und die Spaltung der Welt in den globalen Norden und den globalen Süden. Die Trennung ergibt sich aus zwei Schlüsselerinnerungen: jene an den Holocaust, der die Erinnerungskultur des Westens, des globalen Nordens prägt; und auf der anderen Seite die Erinnerung an die Nakba, also die Vertreibung, Ermordung und Entrechtung von Hunderttausenden Palästinensern (1947–1979), was hierzulande oft nicht in Erinnerung ist, aber die Einstellung des globalen Südens prägt. Und diese beiden Erinnerungen treffen nun aufeinander. Das ist der Grund für die weltweit aufgehetzte Polemik. Die potenzielle Lösung ist, die jeweils andere Seite in der Erinnerung mitzudenken. Denn beide Geschichten sind wahr. Dialogisches Erinnern wäre lebensrettend.

Haben wir in Mitteleuropa die Verarbeitung des dunklen Teils unserer Vergangenheit besser hinbekommen?

Es gibt Unterschiede in der Erinnerungskultur, etwa zwischen Deutschland und Österreich. Ich bin ja eng mit Österreich verbunden. In Deutschland gibt’s die Politik des Trennungsstrichs, in Österreich die des Schlussstrichs. Die gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland. Es hieß, man müsse die Vergangenheit vergessen, sonst sei eine Zukunft nicht machbar. Auch die Alliierten sahen das so, selbst der britische Premier Winston Churchill und der Widerstandskämpfer Konrad Adenauer. Nach vier Jahrzehnten zeigte sich aber, dass bei einer Politik des Schlussstrichs die Opfer zu wenig zu Wort kamen. Vergebung und Heilung sind nur möglich, wenn beide Seiten Erinnerung praktizieren und kommunizieren. In Deutschland wurde das nachgeholt, und es gelang anstatt des Schlussstrichs ein Trennungsstrich zwischen dem alten und dem neuen Deutschland. In Österreich hingegen hofft man noch immer, mit dem Schlussstrich durchzukommen. Man will vergessen und hat sich selbst vergeben. Der Vergangenheit entkommt man aber nicht durch Vergessen, sondern nur durch Erinnern.

Lässt sich der Unterschied zwischen Deutschland und Österreich auch an den Orten der Erinnerung erkennen?

Ja. Der wichtigste Ort der Erinnerung in Deutschland ist das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der historischen Mitte Berlins. Es erstreckt sich auf einer Fläche von 19.000 Quadratmetern südlich des Brandenburger Tors und besteht aus 2.711 quaderförmigen Betonstelen, die eindrücklich an Gräber erinnern, an Grabsteine, Sarkophage – jedenfalls nicht nur an die Opfer, sondern auch an die Schuld der Täter. In Wien hingegen haben wir am Judenplatz mit den nach innen gekehrten Büchern ein Denkmal, das sich keinem erschließt, der nicht viel von Geschichte weiß und vor dem man sich nicht selbst infrage stellen muss. Die Juden haben hier ihr Denkmal, soll’s sein, aber uns geht’s nichts an. Sache erledigt. Schlussstrich. Anrainer protestierten anfangs übrigens dagegen, sie fürchteten um die „Schönheit“ des Platzes.

Orte der Erinnerung sind nicht nur geografischer Natur. In Österreich gab es etwa eine Diskussion um die Landeshymne Niederösterreichs, deren Autor Franz Karl Ginzkey begeisterter Nationalsozialist war. Ein Personenkomitee (Anm.: Der Autor war Teil davon) rief die Landesregierung auf, den Text der Hymne neu auszuschreiben, worauf die Regierung eine Historikerkommission einsetzte. Diese kam zum Schluss, die Hymne bleibe, weil der Text unauffällig sei.

Das ist typisch für eine Politik des Schlussstrichs. Man versucht unauffällig zu bleiben, setzt also eine Historikerkommission ein, die sagt, der Text ist unbedenklich, obwohl es um den Text doch gar nicht ging. Und es wird weitergemacht wie bisher. Das Fatale ist aber, dass damit eine Kontinuität fortgesetzt wird. Ein bekennender Nazi als Hymnenautor – kein Problem? Das ist ein Runterspielen der Geschichte. Dazu kommt der klassische Impuls, dass man sich nicht bevormunden lassen will und an der Tradition festhalten möchte. Nicht bedacht wird dabei, dass man damit unweigerlich auch am unsäglichen Teil der Geschichte festhält.

Es gibt das Argument, dass Werk und Verfasser zu trennen seien. Schließlich sei es legitim, sich an der Musik Richard Wagners zu erfreuen, ohne den politisch fragwürdigen Menschen Richard Wagner dabei mitzudenken.

Das ist ein großer Unterschied. Nicht nur, dass die Biografie Wagners komplexer ist als jene von Ginzkey. Bei einer Hymne handelt es sich im Unterschied zu einer Oper um Gebrauchskunst. Eine Landeshymne ist ein politisches, kein künstlerisches Statement. Eine Hymne wirkt immer politisch und dient als Leitbild. Auf sie gründet man seinen Stolz. Und im aktuellen Fall gründet man diesen – auch wenn das alles unverdächtig gemacht und mit Floskeln beschmückt wird – noch immer auf die Geschichte, die mittels des Textautors auch die NS-Zeit einbezieht. Darüber sollte man sich im Klaren sein.

Ist so ein Fall außergewöhnlich in Europa?

Durchaus, es geht ja nicht nur um einen belasteten Straßennamen. Eine Hymne ist symbolisch und hochpolitisch und definiert die Identität des gesamten Landes. Zudem weist sie in die Zukunft. Sie soll ja noch viele Jahrzehnte gesungen werden.

Wie könnte es nun weitergehen?

In solchen Fällen reicht es nicht, die Diskussion und Entscheidung an die Regierung zu delegieren. Es geht um einen gesellschaftlichen Prozess, der an den Orten der Erinnerung stattfindet: in Städten, Gemeinden, Vereinen, Schulen, Universitäten. Das Selbstbild einer Gesellschaft wandelt sich nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben.

Was würden Sie als Expertin der Politik raten?

Die Verantwortlichen könnten sich sagen, der erste Schritt war ein rein apologetischer, der vom Prozess her auf Verteidigung und Selbstbestätigung ausgerichtet war. Sie könnten sich sagen, das reicht uns nun nicht mehr. Nun werden wir aktiv, öffnen die Diskussion, schlagen einen Ort vor, an dem das Thema seriös diskutiert werden kann, etwa im Haus der Geschichte Österreich, denn dort geht es ja um den Wandel der Identität und um deren Symbole; und natürlich ist eine Hymne und deren Autor ein hochgradiges Symbol der Identität. Wichtig ist, dass es ein Prozess ist, der nicht gleich wieder abgeblockt wird. Dass sich alle ihre Meinung bilden können. Und am Ende steht vielleicht die Neuausschreibung eines Textes, auf den schließlich alle Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher stolz sein können und der das Selbstbild und das Selbstbewusstsein eines modernen Landes spiegelt.

Bei einem anderen Lied wurde gesellschaftspolitisch viel schneller und radikaler reagiert, obwohl weder der Text noch der Autor bedenklich sind, sondern weil Rechte völkischen Text dazu gegrölt haben, „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino.

In diesem Fall ist eine feindliche Übernahme und Perversion des Liedes passiert, wodurch es kontaminiert und zerstört wurde. Sobald es gespielt wird, ist der Kontext nun nicht mehr klar. Für Gigi D’Agostino ist das furchtbar. Es ist ein klarer Fall von Vereinnahmung, was Teil der Strategie der Ultrarechten ist.

Radiostationen und Veranstalter strichen das Lied von ihrer Playlist. Was halten Sie davon?

Radiosender sollten es keinesfalls streichen. Es wäre ein Fehler, das Lied den Rechten zu überlassen. Aber bei Veranstaltungen braucht es eine Rekontextualisierung. Man könnte beim Anmoderieren etwa auf die Gleichheit des Menschen hinweisen, auf den Sinn von Liebe.

Sie sagten einmal, unsere Zukunft beginne mit unserem Erinnern.

Davon bin ich überzeugt. Wenn man über Vergangenes schweigt oder es verharmlost, bleiben die Dinge latent. Das gilt für Bücher und Hymnen und jeden anderen Anlass. Schweigen konserviert. Mutlosigkeit konserviert. Trägheit konserviert. Der derzeitige Rechtsextremismus in Europa zeigt, es ist nicht vorbei. Unsere Möglichkeit ist nur die, darüber zu reden und jede Gelegenheit zu nutzen, das neue Helle gegen das alte Dunkle zu stellen. ● ○