Kolumne

Notariell zertifiziertes Echtbusenwunder


Letzter Herbst auf Santorin.

Ich sitze in einem kleinen Café an der obersten Plattform der Insel und genieße den Ausblick auf die azurblaue Wasseroberfläche, die irgendwo hinter den weiteren kleinen Inseln in der Ferne den Horizont berührt. Besser gesagt: Ich möchte das Wunder der Natur rund um mich in Stille genießen, es geht aber nicht. Denn vor dieser malerischen Kulisse, die anscheinend nicht nur mir gefällt, bewegen sich von einem geschäftigen Treiben erfasst merkwürdige Gestalten und verstellen mir den Blick. Vorwiegend junge Frauen, die meisten von ihnen in roten, im lauen Wind wehenden Kleidern, posieren mit gestülpten Lippen und verhangenem Blick vor unzähligen Kameras.

Ihre Begleiter, junge, drahtige Männer, fast alle in Schwarz gehüllt, richten die Objektive auf sie, geben Anweisungen in allen Sprachen – einen Schritt nach links, einen halben nach rechts, Kopf zur Seite beugen, ein bisschen lächeln, aber nicht zu viel – und drücken unzählige Male auf die Auslöser. „Pause!“, ruft jemand. Eine Visagistin läuft zu der Selbstdarstellerin, betupft ihre Nase, richtet die Locken, springt zur Seite. Klick, klick, klick. Eine seltsame Melodie.

Influencerinnen aus aller Welt präsentieren sich vor einer imposanten Kulisse, strecken ihre mehr oder weniger perfekten Körper den Kameras entgegen, lachen, grinsen, piepsen etwas von Helden, die dieses Fleckchen Erde hervorbrachte. Aber vor allem, erst am Ende der Durchsage und gespielt schüchtern, geben sie diverse Tipps an ihre Follower: „Verwende diese Marke oder jene … dieser Sonnenschutz ist sooo geil … wenn du ihn jeden Tag aufträgst, wird dich deine Haut lieben.“

Während die Anfängerinnen, die gerade die ersten Schritte in Richtung Berühmtheit wagen, einen Selfiestick verwenden oder sich von ihren Partnern mit dem Handy aufnehmen lassen, sind die Social-Media-Stars, die vielfach Promistatus erreicht haben, mit ganzen Teams angereist. Und, wie könnte es anders sein, sie verdrängen mit ihrem mitgebrachten, professionellen Equipment, das Ehrfurcht gebietet, die Laiendarstellerinnen an den Rand der begehrten Fläche. Auch hier heißt es: Rangordnung einhalten, den besten Blickwinkel erwischen. Denn gut ist, was bei den Daheimgebliebenen Sehnsüchte weckt. Wolkenloser Himmel, kristallklares Wasser, weißgestrichene Häuser mit blauen Türen und Fensterrahmen, runde Kirchenkuppeln, bunte Blumen in Tontöpfen, antike Statuen, Möwen im Flug. Und im Vordergrund unwiderstehliche Nixen, denen man alles glaubt.

Und sie werden gesehen. Ihre Anhängerinnen und Anhänger folgen ihnen auf ihren Kanälen, lassen sich beim Kochen, Schminken, Stylen oder Handwerken unterhalten, aber vor allem kaufen sie die Produkte, die gerade zwischen Hashtags – #einwahnsinn! #selbstistdiefrau! #reisengenießenlieben! #wohlfühlen! #meinkörpermeinkapital! – angepriesen werden. Und darum geht es. Die Schöne gaukelt eine heile Welt vor, Harmonie und das ewige Wohlbehagen. Und diejenigen, die Glückseligkeit gerade vermissen, greifen zum Computer und bestellen das gute Stück, das die ewige Unzufriedenheit verschwinden zu lassen vermag.

Das Internet ist voll von Menschen, die ihr Leben öffentlich machen, scheinbar jede private Kleinigkeit verraten, ihre Wohnungen zur Schau stellen. Putzige Babys, drollige Kleinkinder, flauschige Mautzis oder niedlich blickende Wauwaus entzücken und lassen Glückshormone und in späterer Folge Geld fließen.

Und wo Geld zu verdienen ist, sind auch die Berater nicht weit. „Benutze deinen Feed als Funnel“, rät einer und meint damit einen virtuellen Trichter, durch den man Interessenten presst, um sie zu potenziellen Kunden zu formen. „Optimiere deinen Auftritt. Erstelle eine geile Biografie, poste ein ausdrucksvolles Foto, erstelle Beiträge, die nicht nur viele Follower bringen, sondern verkaufen.“ Am Ende die Aufforderung: „Drücke auf den Link unten und melde dich noch heute an. Dort findest du alles, was du als aufstrebender Verkäufer brauchst. Die ersten drei Wochen berate ich dich gratis, danach …“ Guter Rat ist teuer.

Beim Durchklicken der erfolgreichsten Influencerinnen-Accounts im Netz stieß ich auf ein slowakisches Model, das gerade die magische Grenze von drei Millionen Followern durchstieß, indem die junge Dame ihren Busen als ein echtgewachsenes Naturwunder notariell zertifizieren ließ. Im Interview prahlt sie mit einschlägigen Fotos. Sex sells.

Paradox ist, wenn die Schöne auf ihrem Account als Stichworte Fitness und Gesundheit angibt und sich mit sichtlich aufgespritzten Lippen, bis hinter die Ohren gezogener Gesichtshaut und erstarrten Augen als Naturschönheit präsentiert, die ihr makelloses Aussehen guten Genen, viel Schlaf und Kräutern aus dem eigenen Garten verdankt.

Aber auch die ganz „normalen“ Menschen, die eigentlich nichts verkaufen, sondern nur im Gespräch mit den anderen „normalen“ Menschen bleiben wollen, erfasste die Mitteilungssucht. Da postet eine begeisterte Hausfrau das tägliche Mittagessen, ein angehender Hobbybäcker seine ersten Teigkleckse auf dem Backblech, grüßt ein Frischoperierter vom Krankenbett. Einer regt sich über die Umfahrung in seinem Ort auf, der nächste schickt die Klimakleber zum Teufel, der dritte fragt, ob die Zugverbindung von A nach B endlich funktioniert oder ob man mit einem Schienenersatz rechnen muss. Es wird gelikt, kommentiert, gelobt, bemitleidet, geschimpft, beleidigt. In der schützenden Anonymität des World Wide Web ist alles möglich.

Wir leben im Informationszeitalter. Jeder weiß alles über die anderen, alle wissen Bescheid über uns. Oder glauben, es zu tun. Wir sind eine gläserne Gesellschaft, die vom Datenschutz spricht, aufs eigene Recht auf Privatsphäre pocht und trotzdem auf Facebook & Co zeigt, wie, mit wem und wovon man lebt, wo man Urlaube und Freizeit verbringt, wann man nicht zu Hause ist. Und dann wundert man sich, dass auch Menschen mit krimineller Energie die Posts lesen und manchmal als ungebetene Gäste die Gemächer aufsuchen.

In der Öffentlichkeit zu leben, ist nicht jedermanns Sache. Aber die, die es tun, können nicht anders. Die Sucht, sich ständig darzustellen, beherrscht sie. So wie der Baumeister Lugner mit seinem Streichelzoo oder der zur Unkenntlichkeit operierte deutsche Modedesigner Harald Glööckler. Unlängst verlautbarte er via Medien: „Ich ernähre mich ausschließlich vegan. Das betont meine Natürlichkeit.“

Je auffälliger, greller und schriller die Protagonistinnen und Protagonisten agieren, umso mehr spricht man über sie. Und kauft letztendlich ihre Ware.  ● ○