In seiner „Traumdeutung“ schreibt Sigmund Freud: „In einem längeren wüsten Traume von mir, der eine Schiffsreise zum scheinbaren Mittelpunkte hat, kommt es vor, daß die nächste Station Hearsing heißt“, und weiter: „Hearsing aber ist kombiniert aus den Ortsnamen unserer Wiener Lokalstrecke, die so häufig auf -ing ausgehen: Hietzing, Liesing, Mödling (…) und dem englischen Hearsay = Hörensagen.“
Diesen Auszug aus der „Traumdeutung“ höre ich im Radio, und sofort fühle ich mich angesprochen: von dem Witz, der sich darin entbirgt, genauso wie von dem Gedanken, dass sich in den Witzen, die unsere Träume über uns machen, etwas offenbart, mit dem wir auch bei Tag noch etwas anfangen können.
Was Freud nicht anspricht, ist die Doppelung, die sich klanglich in dem Kofferwort Hearsing zeigt. Denn neben dem Hörensagen ist es auch das Singenhören, das sich in Hear-sing versteckt. Beide zusammen aber machen das Wesen des Radios aus: Ich höre jemanden etwas sagen, zum Beispiel die Nachrichten, und dann wieder jemanden singen, zum Beispiel das: Hello! It’s me. I was wondering if after all these years you’d like to meet …
Meine Verwunderung, dass Freud das Singenhören nicht anspricht, hält nur kurz an, denn noch während das Radio läuft – there’s such a difference between us, and a million miles –, klärt schon eine kurze Recherche, dass Freud die „Traumdeutung“ noch vor der massenhaften Verbreitung des Radios geschrieben hat. Veröffentlicht wird sie erstmals 1899, als erste Rundfunksendung sendet man in Deutschland hingegen erst 1920 ein Weihnachtskonzert. Und erst der Herbst 1923 gilt als Urstunde des Radios: Achtung, Achtung ... hier ist die Sendestelle Berlin, tönt es aus dem Apparat. In Österreich, wo Freud zu diesem Zeitpunkt noch lebt, geht der Rundfunk bereits am 1. April 1923 – kein Scherz – on air. Da mir die ersten Worte nicht bekannt sind, setze ich die Sendung im Heute fort: Hello from the other side. I must’ve called a thousand times. Für die massenhafte Verbreitung der Apparate sorgen dann erst die Nationalsozialisten. Mit dem Volksempfänger VE 301 (das steht für den Tag der Machtübergabe) steigt die Zahl der Hörerinnen und Hörer exponentiell, von vier auf sechzehn Millionen. Freud kann Wien im Juni 1938 gerade noch verlassen.
Seit ich diesen Auszug aus seiner „Traumdeutung“ kenne, stelle ich mir vor, ein Hörspiel zu machen, in dem ich mit meinem Aufnahmegerät zu allen Vorverkaufsstellen der Wiener Linien gehe, der Nachfolgerin der Lokalbahnen, und dort also in Hietzing oder Liesing oder Penzing oder auch Ottakring nach einem Ticket frage: Ein Ticket nach Hearsing, bitte. Was dann passiert, weiß ich noch nicht, das ist das Schöne an O-Ton-Hörspielen: dass man sie nicht allein schreiben kann.
Dass ich dieses Fundstück im Radio aufgelesen habe, ist kein Zufall, denn ich war ein Radiokind und bin es bis heute. Schon in meinen frühesten Erinnerungen spielt das Radio eine Rolle, allerdings nicht durch die Kindersendungen („Das Traummännlein“ oder auch „Niños del mundo“), die ich zu hören gelehrt bekomme, und auch nicht als das Hintergrundrauschen von Schlagern, „Trost und Rat“ oder Verkehrsmeldungen auf Ö2 während der vielen Nachmittage, die ich bei meinen Großeltern verbringe, sondern vor allem durch Ausflüge auf den nahe gelegenen Bisamberg, auf dem damals noch zwei Sendemasten stehen. Wenn wir nach dem Schaukeln, Rutschen und Toben auf dem Spielplatz endlich stehen bleiben, denke ich, dass das meine ältere Schwester und ich sind: Sie der große und ich der etwas kleinere Sender. Vielleicht überschreibt die Autorin hier aber auch ihre Erinnerung. Die Sendemasten wurden 2010 gesprengt, gut 15 Jahre, nachdem sie zuletzt gesendet hatten. Kurz danach verließen erst ich, dann auch meine Schwester Wien.