„Mensch rückte ins Zentrum des Interesses“
„Das Porträt des ‚Haarmensch Petrus Gonsalvus‘ stammt aus der Kunst- und Wunderkammer von Schloss Ambras in Innsbruck. Die Ganzkörperbehaarung des Dargestellten war auf Hypertrichose zurückzuführen, einen Gendefekt, der später aufgrund dieses Bildnisses auch als ‚Ambras-Syndrom‘ bezeichnet wurde. Gonsalvus stammte von den Ureinwohnern der Kanareninsel Teneriffa ab. Vermutlich verschleppten ihn spanische Eroberer als Kind nach Europa und er gelangte an den Hof des französischen Königs Heinrich II. Erstaunlicherweise wurde Gonsalvus dort nicht als ‚Wilder‘ vorgeführt, sondern vielmehr höfisch erzogen und auch in Latein und Griechisch unterrichtet. Später trat er in den Dienst des Königs und heiratete eine Hofdame. Zusätzliche Porträts ihrer Kinder machten die Gonsalvus als ‚Haarfamilie‘ bekannt.
In der Renaissance entstanden die ersten Kunst- und Wunderkammern. Sie spiegelten die humanistische Neugierde und das Staunen über die Vielfalt der Welt. Diese enzyklopädischen Sammlungen sollten die Schöpfung in ihrer Gesamtheit abbilden und so auch die Macht des Herrschers als Kreator demonstrieren. Der Theoretiker Samuel Quicchelberg befasste sich damals bereits mit der Frage ‚Was ist eine Kunst- und Wunderkammer?‘ und zeigte die Vielfalt von Natur und Kunst auf. So finden wir in derartigen Sammlungen etwa einen unbehandelten Korallenstamm gleichwertig neben einer Goldschmiedearbeit. Ähnlich verhält es sich mit den Porträtsammlungen, die im 16. Jahrhundert von Italien aus aufkamen. Der Mensch rückte ins Zentrum des Interesses, und zwar in seinem ganzen Spektrum. Erzherzog Ferdinand II. trug auf Ambras rund 1.000 Bildnisse von Persönlichkeiten zusammen, die aufgrund ihrer Individualität, Besonderheit oder Leistung im Sinn der Zeit als sammelwürdig galten. Dazu zählten auch politische Gegner wie Angehörige des französischen Königshauses ebenso wie der osmanische Herrscher Süleyman I. oder aber auch Graf Dracula. Und eben jene in ihrem Aussehen jenseits der Norm stehenden Personen wie die ‚Haarfamilie‘, ‚Hofzwerge‘ und ‚-riesen‘ oder Menschen mit Behinderung.
Diese zum Teil bis heute auf Schloss Ambras Innsbruck erhaltenen Porträts kontextualisieren wir ab Juni in der Sonderausstellung ‚Schauen erlaubt? Vielfalt Mensch vom 16. bis 18. Jahrhundert‘ auf zeitgemäße Weise. Sie erzählt die individuellen Geschichten hinter Bildern, die Gefahr laufen, für bloße Kuriositäten gehalten zu werden. Für das hochsensible Thema arbeiten wir mit einer Referenzgruppe zusammen. Die zentrale Erkenntnis daraus ist, dass Menschen das Angeschaut-Werden als sehr voyeuristisch empfinden. Als Konsequenz zieht unsere Ausstellungsgestaltung das Publikum aktiv mit ein, sodass es auf Fragen stößt wie ‚Darf ich hinschauen?‘, ‚Was passiert, wenn ich hinsehe?‘ und ‚Wie erlebe ich es selbst, betrachtet zu werden?‘“ ● ○