© Axel Gundermann / Yearroundmunich
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Tobias Roth

„Ganze Druckereien wurden verboten"


Wir sollten aus der Vergangenheit lernen, heißt es dauernd. Während heute eine leicht apokalyptische Grundstimmung herrscht, war die Renaissance eine Zeit des Aufbruchs nach dem dunklen Mittelalter. Kann sie uns also inspirieren? Oder neigt jede Beschäftigung damit zu Verfälschungen und Missverständnissen? Darüber sprachen wir mit dem bayrischen Historiker und Renaissance-Experten Tobias Roth.

Sie beschreiben die Renaissance als „für uns völlig vertraute und überwältigend fremde Welt“. Was meinen Sie damit?

Tobias Roth

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Mit vertraut meine ich, dass die Renaissance nicht so wahnsinnig lange her ist wie zum Beispiel die Antike, auf die sie sich bezieht. Im Gemeinwesen der italienischen Städte in der Frühen Neuzeit spielte sich ganz viel ab, was wir heute erleben. Es gab Finanzkrisen und Rezession, weil viel zu hohe Kredite nicht bedient wurden und die Banken zusammenbröckelten. Und nicht zu vergessen: viel drastischere Pandemien als heute! Bei der großen Pest von 1348 starb immerhin ein Drittel der europäischen Bevölkerung, und die Pest kam periodisch wieder. Es ist interessant zu beobachten, welche Stadt komplett zusperrte und welche sich eher aufs Beten verließ. Wer macht was? Diese Frage war bei uns ja auch interessant. Auch in der Wirtschaft gibt es Parallelen. Die Medici in Mittelitalien waren große Bankiers, die mit mathematischen Fähigkeiten und der neu erfundenen doppelten Buchführung plötzlich schnelles Geld zur Verfügung hatten. Ein gutes Drittel der Gewinne, sagt man, wurde in die Kunst investiert, was bis heute in der Toskana viele Arbeitsplätze sichert. Auch das erklärt die Vertrautheit: Die bildende Kunst der Renaissance trifft bis heute einen Nerv. Wenn sich heute eine Stiftung gründet, die etwas mit Kultur macht, hat sie in der Regel eine Zeichnung von Leonarda da Vinci oder Michelangelo im Logo. Kein zeitgenössischer Künstler kommt gegen diese berühmten Kunstwerke an, sie sind auf T-Shirts, Taschen und Mousepads. Sie haben bis heute die Kraft, Menschlichkeit und Zivilisation abzubilden.

Was ist uns fremd an der Renaissance oder was verstehen wir falsch?

Die Vertrautheit täuscht vielleicht. In der Bildsprache werden antike Formen verarbeitet. Sie sind aber aufgeladen mit christlichen Inhalten, die in der Antike noch gar nicht existierten.

In der Renaissance missverstand man also die Antike und wir missverstehen die Renaissance?

Ja, gewissermaßen. Viele Werke wie Botticellis „Geburt der Venus“ oder seine „Primavera“ waren in der Renaissance unbekannt, weil sie im Palazzo hinter verschlossenen Türen hingen. Auch deshalb ist es heikel, ausgehend von den Kunstwerken etwas über „die Renaissance“ sagen zu wollen. In der Sixtinischen Kapelle tagten nur Kardinäle. Erst nach der touristischen Öffnung sah die römische Bevölkerung diese von innen. Andererseits wissen wir heute viel mehr über die Antike und sehen so, wo im 15. Jahrhundert kreatives Missverstehen herrschte.

Eine viel zitierte Parallele zwischen Renaissance und Gegenwart ist die Erfindung des Buchdrucks respektive des Internets. Beide führten auch zu Fake News, Propaganda und massenhaft Pornografie. Autoritäten reagierten mit Zensurversuchen.

Die Ähnlichkeit in vielen einzelnen Aspekten ist erstaunlich. Eine neue Technik kommt auf, aber es dauert, bis sie sich zur Alltagstechnologie gewandelt hat. In der Renaissance dauerte es etwa 30 Jahre, bis ein gedrucktes Buch billiger war als ein handgeschriebenes. Ähnlich war bei uns die Zeitspanne zwischen den ersten Pings, die beim Militär verschickt wurden und der Jetztzeit, in der alle ein Handy in der Hosentasche haben. In beiden Fällen war die neue Technologie extrem gefragt. Als noch abgeschrieben wurde, war die Produktion zentral, mit dem Buchdruck wurde sie plötzlich dezentral und chaotisch. In jeder Scheune konnte so ein Ding stehen, und es war vollkommen unkontrollierbar. Das Problem waren weniger dicke Bücher als vielmehr Flyer. Plötzlich waren ganz neue Mengen von Flugblättern möglich, in denen alles Mögliche verbreitet werden konnte. Das führte auch zum Clash verschiedener Autoritäten. Alle Herrscher versuchten sofort, das Volk mit einfachen und volkstümlichen Botschaften zu beeinflussen – sowohl die Medici in Florenz als auch die apokalyptischen Dominikaner oder die Protestanten im Norden. Sie alle setzten auf Propaganda mittels neuer Medien; am berühmtesten wurde Martin Luther.

Wie erfolgreich war die Zensur?

Der Medienkrieg der Reformation führte zu einer Gegenreaktion der Katholiken. Es entstanden die ersten systematischen und zentralisierten Zensurpraktiken, die vorher gar nicht nötig gewesen waren. Vorher ging es um Einzelfälle, wie besonders repressive Agitatoren oder ein ausnehmend unanständiges Werk. Zur Mitte des 16. Jahrhunderts reagierte die katholische Kirche auf Luther und die Folgen: 1559 erschien der erste „Index der verbotenen Bücher“. Es ist heute ein geflügeltes Wort, wenn wir zum Beispiel davon sprechen, Sachen seien indiziert – dabei heißt „Index“ einfach nur „Liste“. Dieser Index drohte mit rechtlichen Konsequenzen und verband ein ganzes Spektrum von Verboten in sich. Es wurden jetzt nicht nur einzelne Bücher, sondern auch Autoren, wie zum Beispiel Erasmus von Rotterdam, und sogar ganze Verlage oder Druckereien komplett verboten. Damit fielen selbst Bücher, die noch gar nicht erschienen waren, dem Gesinnungskampf und der Zensur zum Opfer.

Was können wir lernen?

Die Vergangenheit existiert nur in unserer Gegenwart, weil wir sie lebendig machen. Was uns die Renaissance auf jeden Fall mitgeben kann, ist ihre Hochschätzung der Bildung. Es wurde positiv gesehen, wenn sich Machthaber für Wissenschaft, Kunst und Kultur interessierten. Hohe Bildung wurde bewundert. Und, vielleicht genauso wichtig: Mangelnde Bildung wurde – auch und vor allem bei einem Herrscher – verachtet. Bilder der Vergangenheit zeigen uns, wozu der Mensch fähig ist und wie er sich entscheidet. Es reicht aber nicht, alte Texte zu lesen und sich ein Rezept zu versprechen, denn so genau wiederholt sich die Geschichte nicht. Das wussten die Menschen damals auch. Es braucht Bildung, Erfahrung und Unterscheidungsvermögen, um an den Beispielen der Geschichte die gegenwärtige Spontaneität zu schulen, mit Werten zu festigen, von Ballast zu entlasten. Darin und für die Vermittlung der Geschichte sind auch die Künste und die Schönheit der Sprache so wichtig, weil sie auf das emotive Potenzial des Menschen eingehen. Anderseits könnten wir lernen, unserer selbst nicht zu sicher und nicht so selbstverliebt zu sein, dass wir zum Fanatismus neigen. Die Kriege der Renaissance um Konfessionen und Dynastien sind Schreckbilder für alle Zeit.

Die „Schönheit der Sprache“ ist in Zeiten digitaler Sprachmodelle eher in Gefahr, oder?

Für mich als Literaten ist sie wesentlich. Jede Sorgfalt, die wir in sie investieren, ist gut investiert. Was können wir also tun? Der erste Schritt wäre Verlangsamung: Ich antworte langsamer auf eine Nachricht, wenn ich mir Mühe gebe, dass die Antwort schön ist. Da dient die Renaissance eher zur Abschreckung: Damals begannen die Wachstums-, Eroberungs- und Beschleunigungstendenzen, die uns heute noch stressen. Das allein zu wissen, könnte schon hilfreich sein für unsere Gegenwart. Und nicht zuletzt ist der Enthusiasmus der Humanisten, von dem erfüllt sie mit ihrer jüngeren Vergangenheit Schluss machen, ansteckend und begeisternd: Wie sie ihre katastrophen- und krisenüberlastete Zeit durchqueren, in Gedanken bei der Antike, mit Sturheit und Neugier, voller Zuversicht in den Menschen, der mit und durch Sprache lebt. ● ○