© Luiza Puiu
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Reichert

„Der Flow ist endlos"


Der Medienwissenschaftler Ramón Reichert untersucht in seiner Arbeit, wie Social Media Gesellschaften beeinflussen. morgen sprach mit ihm über den Flow der Bilder und unbekannte Freundinnen, medialisierte Sonnenaufgänge

und Foodpics sowie darüber, wie wir im Internet mit Soldaten sterben.

In Ihrem Buch „Sozialmaschine Facebook“ heißt es an einer Stelle: „Sender siehst du, aber keine Zuhörer, Banalitäten, aber kein Gespräch.“ Stimmt es denn, dass wir alle permanent senden?

Ramón Reichert

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In den 1990er-Jahren dachte man, das Internet würde ein virtueller Gegenentwurf zu bestehenden Gesellschaftsordnungen werden und sozial wie politisch Ausgeschlossenen eine Stimme verleihen. Stattdessen kam es nach 9/11 zur Gründung kontrollierter Netzwerkseiten und einer systematischen Kommerzialisierung von Onlineaktivitäten. Ein paar Jahrzehnte später sind die Kommunikationsräume im Internet toxisch geworden: Hatespeech, Cybermobbing und Fake News dominieren die öffentlichen Debatten. Auch das Narrativ der Beteiligungskultur muss relativiert werden. Nutzungsstudien zeigen, dass bei Youtube und Wikipedia nur ein Prozent der Nutzerinnen Inhalte generieren. Außerdem dominieren warenförmige Präsentationen den Newsfeed, ein Wandel von Social Media zu Commercial Media.

Es ist also was dran an der Verteufelung von Facebook & Co?

So einfach ist es nicht, schließlich eröffnen diese ganz neue Möglichkeitsräume. Nehmen wir als Beispiel den aktuellen Nahostkonflikt, in dem unmittelbar Betroffene die Rolle von Journalisten übernehmen, um Schauwerte zu generieren und Aufmerksamkeit herzustellen. So wie im besonders grausamen Fall jener Israelin, deren Hinrichtung mit ihrem eigenen Smartphone gefilmt und live bei Facebook übertragen wurde. Diese abgründige Form von Liveness macht kurzzeitig betroffen, soll aber gleichzeitig eine tiefergehende Reflexion verhindern. Denn im digitalen Krieg der Bilder zählt nur eine Währung: die Aufmerksamkeit – leider mit allen Mitteln.

Sie haben Facebook mal als „Zerstreuungsmaschine“ bezeichnet. Gilt das, so zynisch es wirken mag, auch in diesem Fall?

Der Flow digitaler Inhalte ist andauernd und endlos. Fest steht, dass zielloses Scrollen und ein explodierender Newsfeed eine verringerte Aufmerksamkeitsspanne und neue Erwartungshaltung mit sich bringen. Bereits vor zirka zehn Jahren zeigte sich, dass Youtube-Videos mit einer Dauer von mehr als drei Minuten schwierig zu vermarkten sind. Durch Instagram und Tiktok, wo Clips nur mehr wenige Sekunden dauern, ist die Aufmerksamkeitsspanne noch niedriger geworden.

Wir machen soziale Beziehungen zum Gegenstand öffentlicher Bewertung.

Meines Wissens geht auch die Fähigkeit des Deep Reading zunehmend verloren. Deep Reading meint das kognitive Erfassen längerer Texte, also schlicht: Lesen.

Wer viel online ist, muss regelrecht wieder lernen, lange Zeit mit einem Medium auszuhalten, ohne dabei sozial vernetzt zu sein. Noch ein Merkmal unserer digitalen Kultur ist, dass Präsenzerfahrungen nicht bloß nicht wertgeschätzt werden, sondern teilweise kaum aushaltbar sind. Ein Beispiel: Ich beobachte im Urlaub einen Sonnenuntergang und habe sofort das Bedürfnis, diesen zu medialisieren. Früher geschah das mithilfe eines Fotoapparats, wobei schon Walter Benjamin der Meinung war, dass wir Augenblicke töten, wenn wir sie fotografisch festhalten. Jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter: Der Moment wird live geteilt, um Anerkennung und Likes zu bekommen. Damit wird die Erfahrung im Augenblick annihiliert.

Was macht das mit uns als Gesellschaft?

Wir medialisieren nicht nur unseren Alltag, sondern auch unsere sozialen Beziehungen, machen sie zum Gegenstand öffentlicher Beobachtung und Bewertung. Davon abgesehen haben die sozialen Medien aber auch eine emanzipatorische Kraft. Nehmen wir den Ukra­inekrieg: Genozid, Gewalt und Zerstörung werden von der Zivilgesellschaft geteilt, um die Aufnahmen später Kriegstribunalen zugänglich zu machen. Wenn jeder alles aufnehmen und zu jeder Zeit in die Welt senden kann, führt das unter Umständen aber auch zu Mobbing, Diskriminierung, Entprivatisierung.

Dass wir nicht im Moment sein können, macht mich besonders traurig. Dabei bin auch ich eine, die erst isst, wenn der Teller fotografiert ist.

Foodpics sind in der Tat ein interessantes Beispiel für die Annahme, der eigene Alltag sei es wert, geteilt zu werden. Noch vor dem eigenen und mit anderen geteilten Genuss landet das Foto im Internet, weil die Anerkennung der digitalen Identität wichtiger ist als die Gegenwart. Noch ein Beispiel: Zwei Jugendliche, die am Strand einen intimen Moment genießen, medialisieren ihn für sogenannte Freunde oder Abonnenten, die sie gar nicht kennen. Andere vermessen ihr komplettes Leben, lassen Puls, Schlaf und Herzschlag überwachen. Falls das Smartphone ausnahmsweise mal nicht mitgeführt wird, gibt es inzwischen eine Funktion, die fehlende Schritte automatisch miteinrechnet.

Manche wachen gerädert auf und wundern sich nach einem Blick aufs Smartphone, dass sie eigentlich herrlich geschlafen haben müssten ...

... weil sie diesem digitalen Kontrollmedium mehr vertrauen als der eigenen Intuition. Damit nicht genug, werden diese sensiblen biometrischen Daten an Dritte weitergeleitet, was zu einer weiteren Auslagerung des Privaten führt.

Sie forschten unter anderem zu im Syrienkrieg aufgenommenen Kriegsvideos.

Dabei sah ich, wie sehr die Grenzen medialer Bildwelten verschwimmen. Die von Soldaten getragenen Go-Pro-Kameras kommen ursprünglich aus der Gaming-Kultur. Im einen Moment spielen wir Ego-Shooter, im nächsten sehen wir uns bei Youtube ein Kriegsvideo an, das der gleichen Ikonografie folgt. Interessanterweise tauchen die Bildteaser dieses Combat Footage im Video selbst gar nicht auf, sondern stammen von Ego-Shootern, um gezielt ein männliches Publikum anzusprechen.

Führen diese Bilder zu mehr Empathie oder Abstumpfung?

Pauschale Urteile sind nicht möglich. Im Fall der Go-Pro-Kamera-Soldaten führt das dazu, dass wir mit ihnen kämpfen und sterben. Der alte Traum, dass das Medium alles zeigt, was wir erleben, ist nahezu erfüllt. Das gab es auch früher schon, in Form von Fotos des amerikanischen Bürgerkriegs oder der TV-Berichterstattung über den Viet­namkrieg. Im Unterschied dazu ist der heutige Bildgenerator kein unbeteiligter Journalist, sondern kämpft um sein Überleben. Fest steht, dass sich nicht nur die Medienrezeption ändert, sondern auch die Erinnerungskultur. Ein Beispiel sind Fotos von Holocauststätten, die, mit Hashtags versehen, bei Instagram geteilt werden. Weil viele davon die Urhebenden zeigen, führt das dazu, dass bei einer Auschwitz-Google-Suche irgendwann hauptsächlich Selfies auftauchen.

Klingt ziemlich furchtbar.

Und doch wäre Kulturpessimismus fehl am Platz. In autoritären Gesellschaften werden soziale Medien zu Freiheitstechnologien. Um ein Beispiel zu nennen: Während der iranischen Revolution hat das Regime diese komplett abgeschaltet, mit Ausnahme von Instagram, weil das für mittelständische Betriebe ebenso wie für Lieferdienste ein volkswirtschaftlicher Faktor ist. Ausgerechnet dort haben Bürgerinnen ihren Widerstand in die Weltöffentlichkeit hinausgetragen. Wäre das nicht passiert, wären noch viel mehr Menschen hingerichtet worden. In westlich-freiheitlichen Gesellschaften werden soziale Medien wiederum auch von Rechtsextremen genutzt.

Und von Menschen, die uns etwas verkaufen wollen. Big Data ist für Sie das „Öl des 21. Jahrhunderts“.

Problematisch daran ist nicht nur, dass wir unseren Lebensstil warenfreundlich gestalten, sondern dass wir surfen, ohne zu wissen, was mit unseren Daten geschieht. Das ist natürlich beabsichtigt. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es sich um algorithmisierte Inhalte handelt. Jeder weiß, was mit Filterbubbles und Echokammern gemeint ist, und doch blenden wir das aus, weil wir überwiegend davon profitieren. Das führt zu einer Einschränkung von Wissen und Fragmentierung der Welt.

Wie könnte es besser gehen? Bräuchte es andere, kommerzfreie soziale Medien, oder sollten wir uns komplett davon verabschieden?

Digitale Bildung und Medienkompetenz sind unglaublich wichtig, und zwar nicht in Form einer Fachdisziplin, sondern flächendeckend im schulischen Lehrplan verankert. Dabei geht es nicht um begrenzte Bildschirmzeiten oder verbotene Apps, sondern darum, eine Haltung zu entwickeln. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber, wie wir gemeinsam Onlinemedien weiterentwickeln wollen.

Müsste die Politik aktiv werden?

Ich würde mir einen digitalen Rat wünschen, analog zum Klimarat, mit Bürgerinnen aus ganz Österreich und allen sozialen Schichten und Altersklassen, die gemeinsam über ihre Erfahrungen sprechen.

Bis es soweit ist: Wo setze ich als Einzelperson an?

Wenn Sie sofort etwas ändern wollen, könnten Sie natürlich Ihren Medienkonsum reduzieren, ein Tagebuch führen, sich anders organisieren. Besser wäre es allerdings, die Problematik solidarisch anzugehen. Auf alternative Plattformen auszuweichen halte ich für wenig sinnvoll, weil diese ja von Reichweite leben. Und statt singulären Eskapismus zu betreiben, fände ich es besser, innerhalb der etablierten sozialen Medien Widerstand zu leisten und Unruhe zu stiften.

Irgendwann tauchen bei einer Auschwitz-Google-Suche Selfies auf.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Man kann uneindeutig handeln und die Erfassungssysteme irritieren.

Indem man mal einen Artikel teilt, der nicht dem eigenen Weltbild entspricht?

Da wäre die Frage, inwiefern das mit der eigenen Profilpflege zu vereinbaren ist. Ich habe einen alternativen Vorschlag: Nutzen Sie digitale Mobilisierungseffekte für analoge Handlungsräume. Verabreden Sie sich mit Aktivistinnen, machen Sie Netzwerkmedien zu Plattformen zivilgesellschaftlicher Beteiligungskulturen. ● ○