Kultur • KI und Pop

Wenn der Algorithmus den Ton angibt


Verrührt die KI Musikgeschmäcker zu einem Einheitsbrei oder bricht sie die Monopole der Major Labels? Produziert sie Retortenpop oder verleiht sie kreativen Höhenflügen Flügel? Gaukelt sie uns gar – Hilfe! – gefakte Stars vor? Bei näherer Betrachtung lässt sich feststellen: So manche Entwicklung, vor der gewarnt wird, schließt an ohnehin schon lange bestehende Phänomene an.

Besonders gut ist es um die popkulturelle Reputation von künstlicher Intelligenz nicht bestellt. Das böswillige rote Auge des Supercomputers HAL in Stanley Kubriks „2001: A Space Odyssey“, das massenmordende Skynet in der „Terminator“-Serie oder der menschenverachtende Agent Smith in „Matrix“ formten unsere ethische Skepsis der KI gegenüber. Ebenso unsere Vorstellungen davon, was sie tut. Dabei ist sie in der Popmusik längst weit verbreitet. Algorithmen, die verändern, bestimmen oder gar erzeugen, was wir hören, sind in den letzten Jahrzehnten komplexer geworden.

Mit den denkenden Science-Fiction-Maschinen haben heutige Anwendungen in der Popmusik wenig zu tun. Sie können nur jene konkreten Probleme lösen, für die sie konzipiert wurden: Ein Empfehlungsalgorithmus generiert keine Melodien, Software für Tonhöhenkorrektur schreibt keine Texte. Computer arbeiten in einer menschlich unerreichbaren Geschwindigkeit komplexe Handlungsanweisungen, also Algorithmen ab.

Der allwissende Algorithmus

Das Wort Algorithmus kennen die meisten von uns heute aber eher, ehrfürchtig verklärt, mit bestimmtem Artikel: der Algorithmus. Der Algorithmus ist das System einer Plattform, welches uns Inhalte vorschlägt. Spotify etwa schummelt uns Lied um Lied, Album um Album in die Playlist; die Plattform lernt von unseren Aktivitäten und trifft unseren Geschmack immer genauer. Dabei teilt sie uns in sehr kleine, individualistische Marktsegmente ein: Du hörst viel Bilderbuch. Andere, die viel Bilderbuch hören, hören auch gerne Wanda, also wird dir als nächstes ein Wanda-Track vorgeschlagen. Egal, um welche Musik es sich handelt – Hauptsache, du hörst weiter, bleibst auf der Plattform.

Damit nivelliert Spotify Musik – und führt damit konsequent fort, was große Musiklabels schon seit Generationen machen: Welche Musik sie produzieren, ist ihnen egal – Hauptsache Albenverkäufe, Chartplatzierungen, Marktanteil.

Thomas Edlinger leitet das Donaufestival in Krems, das sich immer wieder mit KI befasst hat, vor allem in seiner diesjährigen Ausgabe unter dem Motto „Beyond Human“. Er beobachtet: „Industriell gefertigte, fast automatisierte Popstar-Modelle wie zum Beispiel im K-Pop folgen quasi maschinellen Kalkulationen. In der populären oder kommerziellen Musik sind diese Prozesse schon immer gang und gäbe. Da rüsten sich die Mittel nur ein bisschen auf.“ Was populär ist, wird produziert und empfohlen. Doch die Plattformen weisen auch Fluchtwege aus dem eingezäunten Garten der Major Labels: Noch nie war es für einen im Schlafzimmer produzierten Track so barrierearm möglich, an die Chartspitze zu stürmen. Auch wenn Retortenpop dominiert, zeichnen sich Brüche ab, die tiefer gehen und das Marketingmonopol von Labels in die Bedeutungslosigkeit verbannen könnten.

Das ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass selbst die Entwicklerinnen und Entwickler der Algorithmen mittlerweile nicht mehr gänzlich nachvollziehen können, was ihre erweckten Monster da tun. „Das ist das alte Blackbox-Problem der KIs: Wir wissen nicht, was genau sie macht und abbildet“, so Edlinger. Moderne Algorithmen für KI-Systeme enthalten eine Unmenge an einzelnen Parametern, die genau vorgegeben werden müssen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Statt jedoch jeden einzelnen Parameter händisch festzulegen, werden die Algorithmen trainiert: Sie werden mit enormen Datensätzen – mit oft fraglichen Urheberrechten – gefüttert. In einer automatisierten Schleife passt sich der Output dann immer mehr an den Inhalt der Datensätze an: Was mit Klimt gefüttert wird, produziert immer Klimt-ähnlichere Bilder. Wer Kafka durch die Schleife jagt, bekommt immer kafkaeskere Texte. Und auch mit Frank Sinatra wurde schon digital trainiert. Mit jedem einzelnen Lerndurchlauf ändern sich die Parameter dabei nur ein kleines bisschen, aber in der permanenten Wiederholung ist am Ende nicht mehr nachvollziehbar, was genau diese Parameter abbilden. Nur Input und Output bleiben sicht- und verstehbar.

Wir wissen nicht, was genau die KI macht und abbildet.

Zukünftiger Sondermüll

All das erfordert enorm viel Zeit und Rechenleistung. Um dieser Tatsache besser gerecht zu werden, schlägt die KI-Forscherin und Komponistin Kate Crawford vor, statt des Begriffs KI den des „Large Scale Computings“ zu verwenden. Um Großformate handelt es sich dabei wahrlich: Rechenzentren verbrauchen enorme Mengen Strom.

Sie bestehen aus Computern, deren Ressourcen mit großem Schaden an Menschen und Umwelt gefördert und zu Billiglöhnen in für uns fernen Ländern zu Komponenten verarbeitet werden, die zukünftiger Sondermüll sind. „Die Cloud ist das Rückgrat der KI-Industrie, und sie besteht aus Felsen und Lithium, aus Sole und Rohöl“, so Crawford in ihrem Buch „Atlas of AI“. Was in der so sauber wirkenden Tech-Branche zumeist unsichtbar bleibt, verleiht bestehenden Ausbeutungs- und Marginalisierungsstrukturen neuen Anstrich – die Popbranche kann sich da nicht ausnehmen. „Ich sehe nicht die sogenannte künstliche Intelligenz als die größte Bedrohung für Kreativität oder Originalität in der Musik, sondern die Branche, die Musikindustrie selbst. Sie ist durch ihre Profitorientierung überreguliert, steif und langweilig geworden“, sagt der Musiker Riotweiler vom Wiener Noise-Kollektiv Drug Searching Dogs. „Außerdem wird die sogenannte künstliche Intelligenz nicht der Grund für den Niedergang der Musikindustrie sein, sondern vielmehr die ungleiche Verteilung von Macht – wie auf sämtliche Lebensbereiche anwendbar.“

Sollen wir die KI also besser gleich auf die Halde werfen? Macht sie die Welt weniger lebenswert, ungerechter und unzugänglicher?

„Große technische Neuerungen, die mal stattgefunden haben, werden nicht wieder zurückgenommen“, meint Donaufestival-Chef Thomas Edlinger. KI wird nicht mehr verschwinden. Gefragt sind eine intensive Auseinandersetzung mit den realen Problemen und die Schaffung gesetzlicher Regelungen. Das Potenzial neuer Technologien sollte dabei nicht brachliegen.

Die Cloud besteht aus Felsen und Lithium, Sole und Rohöl.

Kreativer Spielplatz KI

Ein gutes Beispiel dafür ist ein Algorithmus, der dem aktuellen KI-Trend um Jahrzehnte voraus war: Als Cher 1998 die Technik des Auto-Tune, also der Tonhöhenkorrektur, mit ihrem Hit „Believe“ populär machte, war noch nicht absehbar, wie zentral diese Technik für den Musikmarkt werden würde. Mittlerweile sind Auto-Tune-Programme allgegenwärtig. Nicht nur als tatsächliche Korrektur, sondern vor allem auch, um wie bei Cher einen spezifischen Effekt zu erzielen. Offenbar, sagt Edlinger, gebe es ein breites massenkulturelles Begehren nach künstlich klingenden Stimmen. Seine Erklärung dafür: „Das hat einerseits mit einer handwerklichen Erleichterung zu tun – Stimmen müssen weniger gut ausgebildet sein. Andererseits erzählt es etwas über unsere gesamtgesellschaftliche Stimmungslage. Musiker*innen streben mit Auto-Tune häufig einen paradoxen Ausdruck des Nicht-Ausdrucks an. Möglichst wenig expressiv, ungerührt, maschinenhaft. Aber das ist eben selbst ein Ausdruck: diese Kälte, die auch etwas Vulnerables hat. Und zuletzt passt es auch zu einer allgemeinen Queerness der Zeit. Eine Uneindeutigkeit des Geschlechts über Auto-Tune-Effekte.“

Das zeigt, was für ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten in bereits etablierten Algorithmen steckt – wie etwa auch Yeule dieses Jahr am Donaufestival bewies. Auf dem dort vorgestellten Album „Glitch Princess“ sind komplexe Effektebenen mit einer ständig oszillierenden Stimme vereint.

Modernere Systeme können Stimmen aus dem Nichts generieren. Wie etwa die an­thro­pomorphe Vocaloid-Software Hatsune Miku. Oder Sängerinnen und Sänger fast perfekt nachahmen, wie beim Projekt AIsis, bei dem ein virtueller Liam Gallagher Frontman einer menschlichen Band wird. Wenn es zunehmend schwer wird, zu erkennen, was echt ist und was fake, müssen wir vielleicht grundlegend überdenken, was diese Kategorien für uns bedeuten, welchen Wert sie noch besitzen, welchen Wert wir ihnen geben müssen. „Das Verlangen nach einer echten, authentischen Musik wiederholt ein tendenzielles Ressentiment gegen Technologien, das es immer wieder in der Populärmusik gab“, führt Edlinger aus. „Schon früher verliefen Frontlinien zwischen dem künstlichen, artifiziellen, inauthentischen Pop und dem verschwitzten, echten Rock. Diese wiederholen sich in heutigen Konstellationen.“ Dabei sieht er gerade in experimenteller elektronischer Musik große Chancen für die Integration von KI. Etwa bei Holly Herndon, die algorithmische Verfahren sowohl in ihren Kompositionen als auch in ihren Videos einsetzt. Oder bei Mouse on Mars, die mit ihrem Projekt „AAI – Anarchic Artificial Intelligence“ der braven KI ein anarchisches Moment beibringen möchten. Beide lud Edlinger bereits zum Donaufestival ein.

Die Aushandlung neuer Techniken findet im Pop an den Rändern statt – in der experimentellen Kunst, in der Avantgarde. Was es davon schließlich auf die personalisierten Spotify-Listen des Mainstreams schaffen wird? Diese Frage kann wohl nicht einmal ChatGPT beantworten.  ● ○