Ich kann mich nicht erinnern, die KI je eingeladen zu haben. Nun aber vernehme ich ihre Stimme, ganz nah: Ich kann alles! Ruft die KI. Sie ruft unüberhörbar laut.
Echt? Frage ich. Bist du sicher?
Klar, weißt du es noch nicht? Wo lebst du denn??
Ich schweige. Überheblichkeit, Selbstgefälligkeit, denke ich. Ich mag das nicht. Und ich gebe zu: Ich habe bis jetzt versucht, die KI in Gänze schlicht zu ignorieren. Für mich, Schriftstellerin im Hauptberuf, 38 Jahre alt, wohnhaft im ländlichen Raum in Niederösterreich, hat die KI bisher nicht existiert. Zumindest habe ich so getan, als gäbe es sie nicht. Ich habe sie in den hintersten Winkel meines in der beschaulichen niederösterreichischen Provinz verankerten Schriftstellerinnen-Bewusstseins geschoben und viel anderes Gerümpel darüber getürmt. Reiner Selbstschutz. Und das ist erst mal einfach. Nur: Ignorieren funktioniert selten ewig. Es gibt Dinge, mit denen man sich früher oder später befassen muss. Ob man das will oder nicht. Denn wenn man sich nicht mit ihnen befasst, dann wachsen diese Dinge bald schon unter dem anderen Gerümpel aus dem Winkel heraus, in den man sie verdrängt hat. Dann wachsen sie einem, langsam und schleichend vielleicht, aber doch in ihrem ganzen Ausmaß und mit voller Kraft: ungehindert über den Kopf.
Ich kann die KI nicht länger ignorieren. Denn sie ist da. Sie war bisher zwar nicht in meiner unmittelbaren Nähe. Nein, nicht hier, an meinem alten Küchentisch mit der fleckigen Tischplatte. Dieser hölzerne Tisch ist eigentlich auch kein Küchentisch. Dieser Tisch stammt aus einer Volksschule, die lange schon zugesperrt hat, weil das Dorf, in dem sie sich befand, zu klein wurde. Die nächstgrößere Schule in der nächstgrößeren Ortschaft nahm die Kinder auf, die an diesem Tisch einmal gesessen haben. Und mit Bleistiften Buchstaben und Zahlen in ihre Hefte malten. Die Linien treffen. Den Schwung üben. Nicht abrutschen. Die 6 nicht mit der 9 verwechseln und den Punkt über dem kleinen i und dem kleinen j nicht vergessen.
An diesem Tisch sitze nun ich, Vormittag um Vormittag, und schreibe. Tippe in den Laptop. Denke. Halte inne. Kritzle mit Bleistift auf Papier. Dann wieder Tippen. Denken. Lesen. Weiterschreiben.
Und jetzt ruft die KI dazwischen: Gib dir keine Mühe! Ich übernehme das alles bald ganz und gar!
Von wo aus ruft sie eigentlich? Von draußen, vor dem Fenster?
Die KI ist vor meinem Fenster nicht zu sehen. Vor meinem Fenster ist eine Hecke. Dahinter sind Pferdekoppeln. Felder. Sanfte Hügel. Ein kleiner Wald. Nebel hängt noch zwischen den Baumkronen. Steigt langsam auf. Wird dünner. Die Herbstsonne kommt durch. Die Baumkronen tragen erste bunte Blätter. Durch das leicht geöffnete Fenster dringt der Geruch eines ersten Holzfeuers. Jemand in der Nachbarschaft heizt ein. Morgens ist es jetzt schon ziemlich kühl. Ich fröstle. Ich kann nicht länger so tun, als gäbe es die KI nicht, nur weil ich hier in meinem behaglichen, kleinen, selbsterschaffenen Sprachkunstuniversum sitze. Auch wenn ich die KI nicht sehen kann, höre ich sie klar und deutlich rufen: Such dir einen anderen Job! Deinen wird es bald nicht mehr geben!
Ich spüre den Impuls, mir Kopfhörer aufzusetzen. Patti Smith, volle Lautstärke. Stur einfach weiterschreiben. Ich schreibe an einem Gedicht. Ich werde mich doch jetzt nicht aus dem Rhythmus bringen lassen!
Ich setze keine Kopfhörer auf. Patti Smith habe ich zum Glück auch so oft genug im Ohr. Ganz lautlos ist sie, aber wunderbar da. Und jetzt habe ich, das sagen mein Kopf, mein Bauch und vor allem mein Herz: mich der KI zuzuwenden.
Wenn ich jetzt nicht reagiere, dann wird sie vielleicht recht behalten. Dann wird es meinen Beruf bald nicht mehr geben. Als Schriftstellerin nämlich, jedenfalls als die Art Schriftstellerin, die ich sein möchte, gilt es, die Augen offen zu halten. Mich mit der Welt da draußen zu konfrontieren. Gerade mit den Aspekten dieser Welt, die mich aus dem Rhythmus bringen können, beim Gedichteschreiben. Und auch sonst. Als Schriftstellerin muss ich versuchen, etwas entgegenzuhalten. Egal, ob diese Weltdinge unmittelbar und laut zu mir hereindringen oder ob ihr Wahnsinn still und heimlich anderswo passiert. Der Punkt ist: Der Wahnsinn passiert. Und es ist und bleibt meine Aufgabe, mich dazu zu äußern. Weil ich keine Maschine bin. Und auch keine sein will. Und weil ich an meinen Beruf glaube.
Die KI ruft wieder: Ich kann alles!
Ich rufe nicht, ich werde Ruhe bewahren, ich sage leise, aber bestimmt: Das wollen wir doch mal sehen.