(c) A. Koenigsecker
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Kultur • Essay

Ich kann alles!


Lange gelang es der Schriftstellerin Simone Hirth, die KI zu ignorieren. Damit ist es nun vorbei. Wird die KI bald ihr Metier übernehmen? Und was sagt diese selbst dazu?

Ich kann mich nicht erinnern, die KI je eingeladen zu haben. Nun aber vernehme ich ihre Stimme, ganz nah: Ich kann alles! Ruft die KI. Sie ruft unüberhörbar laut.

Echt? Frage ich. Bist du sicher?

Klar, weißt du es noch nicht? Wo lebst du denn??

Ich schweige. Überheblichkeit, Selbstgefälligkeit, denke ich. Ich mag das nicht. Und ich gebe zu: Ich habe bis jetzt versucht, die KI in Gänze schlicht zu ignorieren. Für mich, Schriftstellerin im Hauptberuf, 38 Jahre alt, wohnhaft im ländlichen Raum in Niederösterreich, hat die KI bisher nicht existiert. Zumindest habe ich so getan, als gäbe es sie nicht. Ich habe sie in den hintersten Winkel meines in der beschaulichen niederösterreichischen Provinz verankerten Schriftstellerinnen-Bewusstseins geschoben und viel anderes Gerümpel darüber getürmt. Reiner Selbstschutz. Und das ist erst mal einfach. Nur: Ignorieren funktioniert selten ewig. Es gibt Dinge, mit denen man sich früher oder später befassen muss. Ob man das will oder nicht. Denn wenn man sich nicht mit ihnen befasst, dann wachsen diese Dinge bald schon unter dem anderen Gerümpel aus dem Winkel heraus, in den man sie verdrängt hat. Dann wachsen sie einem, langsam und schleichend vielleicht, aber doch in ihrem ganzen Ausmaß und mit voller Kraft: ungehindert über den Kopf.

Ich kann die KI nicht länger ignorieren. Denn sie ist da. Sie war bisher zwar nicht in meiner unmittelbaren Nähe. Nein, nicht hier, an meinem alten Küchentisch mit der fleckigen Tischplatte. Dieser hölzerne Tisch ist eigentlich auch kein Küchentisch. Dieser Tisch stammt aus einer Volksschule, die lange schon zugesperrt hat, weil das Dorf, in dem sie sich befand, zu klein wurde. Die nächstgrößere Schule in der nächstgrößeren Ortschaft nahm die Kinder auf, die an diesem Tisch einmal gesessen haben. Und mit Bleistiften Buchstaben und Zahlen in ihre Hefte malten. Die Linien treffen. Den Schwung üben. Nicht abrutschen. Die 6 nicht mit der 9 verwechseln und den Punkt über dem kleinen i und dem kleinen j nicht vergessen.

An diesem Tisch sitze nun ich, Vormittag um Vormittag, und schreibe. Tippe in den Laptop. Denke. Halte inne. Kritzle mit Bleistift auf Papier. Dann wieder Tippen. Denken. Lesen. Weiterschreiben.

Und jetzt ruft die KI dazwischen: Gib dir keine Mühe! Ich übernehme das alles bald ganz und gar!

Von wo aus ruft sie eigentlich? Von draußen, vor dem Fenster?

Die KI ist vor meinem Fenster nicht zu sehen. Vor meinem Fenster ist eine Hecke. Dahinter sind Pferdekoppeln. Felder. Sanfte Hügel. Ein kleiner Wald. Nebel hängt noch zwischen den Baumkronen. Steigt langsam auf. Wird dünner. Die Herbstsonne kommt durch. Die Baumkronen tragen erste bunte Blätter. Durch das leicht geöffnete Fenster dringt der Geruch eines ersten Holzfeuers. Jemand in der Nachbarschaft heizt ein. Morgens ist es jetzt schon ziemlich kühl. Ich fröstle. Ich kann nicht länger so tun, als gäbe es die KI nicht, nur weil ich hier in meinem behaglichen, kleinen, selbsterschaffenen Sprachkunstuniversum sitze. Auch wenn ich die KI nicht sehen kann, höre ich sie klar und deutlich rufen: Such dir einen anderen Job! Deinen wird es bald nicht mehr geben!

Ich spüre den Impuls, mir Kopfhörer aufzusetzen. Patti Smith, volle Lautstärke. Stur einfach weiterschreiben. Ich schreibe an einem Gedicht. Ich werde mich doch jetzt nicht aus dem Rhythmus bringen lassen!

Ich setze keine Kopfhörer auf. Patti Smith habe ich zum Glück auch so oft genug im Ohr. Ganz lautlos ist sie, aber wunderbar da. Und jetzt habe ich, das sagen mein Kopf, mein Bauch und vor allem mein Herz: mich der KI zuzuwenden.

Wenn ich jetzt nicht reagiere, dann wird sie vielleicht recht behalten. Dann wird es meinen Beruf bald nicht mehr geben. Als Schriftstellerin nämlich, jedenfalls als die Art Schriftstellerin, die ich sein möchte, gilt es, die Augen offen zu halten. Mich mit der Welt da draußen zu konfrontieren. Gerade mit den Aspekten dieser Welt, die mich aus dem Rhythmus bringen können, beim Gedichteschreiben. Und auch sonst. Als Schriftstellerin muss ich versuchen, etwas entgegenzuhalten. Egal, ob diese Weltdinge unmittelbar und laut zu mir hereindringen oder ob ihr Wahnsinn still und heimlich anderswo passiert. Der Punkt ist: Der Wahnsinn passiert. Und es ist und bleibt meine Aufgabe, mich dazu zu äußern. Weil ich keine Maschine bin. Und auch keine sein will. Und weil ich an meinen Beruf glaube.

Die KI ruft wieder: Ich kann alles!

Ich rufe nicht, ich werde Ruhe bewahren, ich sage leise, aber bestimmt: Das wollen wir doch mal sehen.

Das ist die ödeste, einfallsloseste Antwort, die es gibt.

Ich recherchiere.
Kann die KI eigentlich eigenständig recherchieren? Artikel auf Tragfähigkeit überprüfen, vergleichen und darüber
nachdenken?
Kannst du das? Frage ich.
Ich kann alles! Antwortet die KI.
Nun gut, was habe ich erwartet.

Ich recherchiere jedenfalls. Und stoße auf mehrere Artikel, in denen festgestellt wird, dass die KI zwar formal perfekt Schreibstile imitieren könne, ihr mitunter jedoch grobe inhaltliche Fehler unterlaufen würden. Beispiel: Eine von der KI erfundene Roman-Protagonistin, die anfangs braunes, kurzes Haar trug, trägt im folgenden Kapitel unvermittelt einen langen blonden Zopf.

Ha! Denke ich. Allein kann die KI eben doch längst nicht alles. Auch sie braucht Hilfe, Korrektur.

Eine Freundin ruft an. Sie ist Journalistin im Hauptberuf. Ich berichte ihr von meinen Recherchen zur KI. Von meinen Eindrücken, Gedanken dazu. Meine Freundin schildert mir die ihren. Wir unterhalten uns eine Weile. Über die KI. Und über anderes. Ernste Themen und komische. Wir lachen viel. Und verabreden uns auf einen Kaffee.

(Und wird die KI eigentlich von Freundinnen angerufen, denen sie berichten kann, was sie gerade bewegt, was sie denkt, fühlt, mit denen sie sich über alles unterhalten kann, mit denen sie lacht? Kann die KI sich mit Freundinnen auf einen Kaffee verabreden?)

Die Freundin schickt mir zwei Artikel von sich. Im ersten geht sie der Qualität von durch KI generierten Übersetzungen auf den Grund. Im zweiten lotet sie die Grenzen der KI bezüglich der Fähigkeit, angemessen zu gendern, aus. Sie befasst sich dafür tiefgehend mit Studien, wägt ab, filtert Inhalte heraus und kommt zu einem Standpunkt. (Und nur nebenbei: Kann die KI sich eigentlich tiefgehend mit Studien befassen, abwägen, herausfiltern und zu einem Standpunkt kommen?)

Ergebnisse der Arbeit meiner Freundin: Von der KI erstellte Übersetzungen sind mitunter ungenau und lassen an Sensibilität im Umgang mit sprachlichen Feinheiten und Entwicklungen zu wünschen übrig. Auch Gendern gelingt der KI nicht befriedigend. Teilweise „passieren“ der KI dabei sogar sexistische und diskriminierende Formulierungen.

Denn: Um all das wirklich leisten zu können, braucht es flexibles, vielschichtiges Denken. Etwas mehr als nur das Weiterverarbeiten und – wenn auch sehr geschickte – Variieren von Datensätzen.

Was sagst du dazu? Frage ich nun die KI. Ich lasse mich jetzt nicht mehr mit deinem „Ich kann alles!“ abspeisen. Ich will jetzt eine Haltung, eine Erklärung!

Ich kann nur so gut sein wie die Datensätze, mit denen ich gefüttert werde. Sagt die KI. Ich lerne gerne und schnell dazu. Aber ich kann nur lernen, wozu ich den richtigen Lehrstoff bekomme. Ich kann alles lernen. Ich kann nämlich alles!

Ich gähne. Das ist die ödeste, einfallsloseste Antwort, die es gibt, wenn jemand sich die Finger nicht schmutzig machen will. Denke ich.

Und eines ist mir nun klar: Ich muss die KI nicht mehr ignorieren. Ich kann sie sein lassen, was sie ist. Sie wird keinen Menschen je wirklich ersetzen, solange Menschen: NACHDENKEN. Und echte Artikel schreiben. Und Gedichte.

Apropos: Ich schreibe jetzt weiter an meinem Gedicht. Hier, an meinem alten, hölzernen Volksschultisch. Patti Smith singt, obwohl ich keine Musik aufgedreht habe. Ich höre das Lachen meiner Freundin am Telefon, obwohl wir längst aufgelegt haben. Ich füge eine Leerzeile in mein Gedicht ein.

Und in dieser Leerzeile steht sehr viel. Patti Smith wird es lesen können. Meine Freundin wird es lesen können. Andere Menschen auch. Da es sich nicht um einen Datensatz handelt bei dem, was in dieser Leerzeile steht (ich kann keine Datensätze verfassen), tut es mir leid für die KI.

Tut es wirklich?
Nein, eigentlich nicht.
Und nein: Ich kann nicht alles. Zum Glück.