Kolumne

Wer bist du?


Vor einiger Zeit traf ich bei einer Veranstaltung einen slowakischen Landsmann, der seit vielen Jahrzehnten in London lebt. Wir erzählten einander – das tun die Emigranten gern und oft –, seit wann und warum wir die ursprüngliche Heimat verlassen haben, womit wir unseren Unterhalt verdienen und was wir von unseren Gastländern halten. Das Gespräch verlief fröhlich, deshalb wunderte es mich, als der Mann zum Abschied sagte: „Sie sind trotz der vielen Jahre in Österreich eine ganz normale Slowakin geblieben.“ Ich hörte einen leisen Vorwurfsunterton, errötete und ertappte mich dabei, mich wegen seines Verdachts schämen zu müssen. Was heißt es, dass ich eine ganz normale Slowakin geblieben bin? Hätte ich nicht nach so vielen Jahren eine ganz normale Österreicherin oder zumindest eine Weltbürgerin werden sollen?

Es gab eine Zeit, in der ich eine richtige Österreicherin werden wollte. Eine selbstbewusste Frau, die nichts erschüttert und die auf jede Frage eine passende Antwort weiß, eine, die nicht nur schöne Kleider kauft, sondern sie auch mit Selbstbewusstsein und Grazie trägt. Doch mein Akzent stand mir im Weg. Deshalb besuchte ich nicht nur Deutsch-, sondern auch Phonetik- und Sprechkurse und übte zu Hause mit Staubzucker und Steinen auf der Zunge. Es half nichts. Der Akzent, der Stempel meiner Identität, blieb haften an mir wie eine Tätowierung.

Ein anderes Mal war ich in Bratislava bei einem beruflichen Termin. Wegen einer Zugverspätung musste ich mich beeilen und nahm deshalb vom Hauptbahnhof ein Taxi. Ich wäre viel lieber zu Fuß gegangen, denn ich spaziere gern durch die Stadt, in der ich meine Kindheit und Jugend verbrachte. Jedes Mal suche ich nach bekannten Anhaltspunkten, wundere mich über Veränderungen, würde es sehr reizvoll finden, den einen oder anderen Bekannten von früher zu treffen.

Nach einer kurzen, etwa zwei Kilometer langen Fahrt sagte der Fahrer beim Zahlen: „15 Euro.“

„Warum so viel? Für so eine kurze Strecke?“

„Das ist der Minimaltarif in der Stadt“, antwortete der Mann gereizt, bereit, mit mir zu streiten. Denn er wusste es am besten, dass für diese Entfernung normalerweise fünf bis maximal sieben Euro zu zahlen sind.

„Seit wann gibt es hier einen Minimaltarif? Und wer hat ihn bestimmt?“

Nach langem Hin und Her bezahlte ich verärgert den Preis und lief zu meinem Termin. Dort erzählte ich von der Taxifahrt und dem ungeheuerlichen Tarif und bekam gleich die Erklärung: „Kein Wunder, dass er sich traut, dich zu betrügen, so wie du ausschaust.“

„Wie schaue ich aus?“

„Wie eine, die nicht von hier ist, die nicht hier lebt und eine leichte Beute ist.“

„Aber ich spreche doch perfekt Slowakisch. Und auch optisch – was ist an mir anders?“

„Er sieht es trotzdem und hört es auch. Dem Fluch der ‚reichen Ausländerin‘ entkommst du hier nicht.“

Da habe ich es. Für die einen bin ich seit Jahrzehnten dieselbe geblieben, für die anderen eine andere geworden.

Davon, dass die Optik und die Stimme nicht immer den richtigen Hinweis auf die „wahre“ Identität geben, konnte ich mich auch bei einer Zugfahrt nach Rom überzeugen. Ich saß in einem Sechserabteil bei der Tür. In Linz stiegen zwei Frauen zu und nahmen die mittleren Plätze ein. Sie schienen einander gut zu kennen und plauderten angeregt. Die eine, Ende fünfzig, wirkte ein wenig „alternativ“, die andere, Mitte dreißig, erschien mir so, als wäre sie nicht hier aufgewachsen.

Wir kamen ins Gespräch. Nach ein paar Sätzen kam von der „Alternativen“ die Frage, die immer gestellt wird, wenn ich anfange mit Unbekannten zu sprechen. „Woher kommen Sie?“ Obwohl ich es langsam satt habe, mich ständig rechtfertigen zu müssen, beantwortete ich sie geduldig und fragte im Gegenzug die andere nach ihrem Herkunftsland. Noch während ich die Frage stellte, ärgerte ich mich selbst. „Wieso mache ich das?“, fragte ich mich. Wieso möchte ich genau das wissen, was mich gar nichts angeht?

Die Schwarze blieb aber ruhig und sagte im Wiener Dialekt, dass sie aus Hütteldorf komme und ihre Vorfahren von „überall“ stammen. Ich akzeptierte ihre verdeckte Antwort, verstand, dass ihr die Fragen nach ihrer Herkunft aufgrund ihres „Andersseins“ genauso wie mir nicht angenehm sind. Ich habe doch auch genug Erfahrung damit. Trotzdem oder gerade deswegen, weil wir drei nicht dem alltäglichen Muster entsprachen, verstanden wir uns von der ersten Minute an.

Die beiden waren genauso wie ich auf dem Weg in die Ewige Stadt. Wir hatten also genug Zeit, uns kennenzulernen. Die „Alternative“ ist eine oberösterreichische Kunsttherapeutin – das heißt Psychologin, die mit Hilfe von Kunstdarstellungen, hauptsächlich sakraler Ölgemälde, menschliche Seelen heilt. Die jüngere Frau lebt in Wien und ist Musikerin. Sie spielt und singt in einer Band, schreibt Liedtexte und komponiert die Musik dazu.

Die junge Sängerin mit schwarzem, ursprünglich krausem und jetzt geglättetem Haar, sagte mir irgendwann unaufgefordert, dass ihr Vater aus der Karibik stammt und ihre Mutter, die Schwester der „Alternativen“, Österreicherin sei. Demzufolge waren die zwei Frauen Nichte und Tante, die einander wie Tag und Nacht glichen.

Das Verblüffende für mich war die Erzählung der hübschen Kreolin von ihrer Erfahrung als eine dunkelhäutige, in Wien geborene Österreicherin. „Wenn ich Österreichisch spreche, mögen es die Menschen meistens nicht“, meinte sie. „In den perfekten Sprachkenntnissen verbirgt sich für sie die Information, dass ich, eine ‚optische Ausländerin‘, für immer hier bleiben möchte.“ Diese Erfahrung machte ich auch mit Gastarbeitern. Sprechen sie ein schlechtes Deutsch, kritisiert man sie dafür, dass sie nichts dazugelernt haben und integrationsunwillig sind. Auf der anderen Seite legen ihre akzentfreien, perfekten Sprachkenntnisse wiederum den Verdacht nahe: „Die werden wir niemals los.“

„Ich habe die Erfahrung gemacht“, sagte meine Zugbekanntschaft, „den Menschen ist es lieber, wenn ich mich dumm stelle und so tue, als würde ich sie nicht verstehen.“ Langsam wird mir einiges klar. Mit ihrem fehlerfreien Englisch wird sie nämlich von den Einheimischen freundlich als eine Touristin behandelt. Und das gefällt ihr besser. Da lässt sie sich sogar die Frage gefallen, woher sie kommt.

So weit sind wir also. Das Recht auf Fremdheit und Anderssein haben bei uns nur die Touristinnen und Touristen. Ihnen allein wird das Recht eingeräumt, sich von der Masse abheben zu dürfen. Mit Kleidung, Sprache, Denken.

In eine andere Kultur einzuwandern ist ein lebenslanger, oft schmerzvoller Prozess. Es heißt aber nicht nur, sich ewig anzupassen und geduldig das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen, sondern auch das Eigene zu beschützen, zu bewahren und das Bestehende zu bereichern.

Mit meiner eigenen Identität begann ich mich erst nach der Übersiedlung nach Österreich zu beschäftigen. Nach und nach habe ich sie im Schreiben gefunden. In meinen Geschichten über die anderen. Und über mich selbst. Denn solange mich Menschen mit eingedeutschten tschechischen Nachnamen befreit von allen Háčeks und Apostrophen fragen, ob ich jemals darüber nachgedacht hätte, irgendwann „nach Hause“ zurückzukehren, weiß ich, dass Heimat kein ausschließlich geografischer Begriff sein kann. ● ○