Clemens Schmiedbauer
Clemens Schmiedbauer

Johanna Doderer

„Wenn Klänge den Raum sprengen"


Komponistin Johanna Doderer sprach mit morgen über ihre Kraftorte, das von ihr veranstaltete Musikfestival hören:sitzendorf im Weinviertel, die Bedeutung von Pferden und darüber, wie sie beim Improvisieren im Keller dem Komponieren näherkam.

Die Komponistin Johanna Doderer wurde in Bregenz geboren, wuchs auf Korsika auf und zog mit Anfang 20 zum Studium nach Graz. Sie lebt in Wien-Landstraße und Sitzendorf an der Schmida, Bezirk Hollabrunn. Dort veranstaltet sie das Festival hören:sitzendorf. Die Komponistin, eine Großnichte des Schriftstellers Heimito von Doderer, hat ein umfangreiches Werk an Opern (insgesamt neun Stück), Liedern, Orchester- und Kammermusik geschaffen und wurde vielfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Ernst-Krenek-Preis, aber auch mit dem niederösterreischen Kulturpreis. Aktuell arbeitet sie an ihrer zweiten Oper mit Peter Turrini, die in der Saison 2025/26 am Gärtnerplatztheater in München uraufgeführt wird. Eigentlich hätte das Interview in ihrem zweiten Zuhause im Weinviertel stattfinden sollen. Weil es dort im Frühling, als dieses Gespräch geführt wurde, noch stürmte und schneite, wurde das Treffen kurzfristig in die Wiener Innenstadt verlegt.

Frau Doderer, warum sitzen wir hier, wo wir gerade sitzen?

Johanna Doderer

:

Das Café Engländer ist mein zweites Wohnzimmer. Hier mache ich meine beruflichen Besprechungen und treffe regelmäßig Musikerinnen und Dirigenten. Außerdem wohne ich nicht weit weg. In meiner Wohnung im dritten Bezirk sind auch die meisten meiner Werke entstanden. Obwohl ich gerne reise und viel am Land bin, ist Wien für mich der Kraftort Nummer eins.

Worin liegt die Kraft von Wien?

Mich inspiriert, dass hier so viele fantastische Musiker und Musikerinnen leben, eigentlich fast in jedem Haus. In Wien ist Musik omnipräsent, und ich meine damit nicht nur Konzerte oder Opern, sondern all jene Menschen, die täglich üben, musizieren und komponieren.

Ihr zweiter Kraftort ist Sitzendorf an der Schmida. Was hat Sie dorthin verschlagen?

Als ich vor ein paar Jahren den Auftrag bekam, mit Peter Turrini eine Schubert-Oper zu schreiben, wollte ich einen Rückzugsort zum Arbeiten finden. Weil Peter im Weinviertel wohnt, machten wir uns gemeinsam auf die Suche. Einmal haben wir uns verfahren und landeten in Sitzendorf. Ich habe mich sofort in das spätsommerliche Licht verliebt.

Sie haben sogar ein eigenes Festival gegründet.

Es gab schon davor die Sitzendorfer Musik-Herbst-Tage mit kleinen Konzerten in der Kirche, und man fragte mich, ob ich das übernehmen möchte. Ich wollte ein Festival, bei dem die Menschen im Ort verweilen. Bei uns gibt es drei Tage ein dichtes Programm mit ausgezeichneten Musikerinnen und Musikern, Lesungen, Wanderungen, Wein und Kulinarik. Für die Kinder haben wir Ponyreiten. Die Übernachtungen sind in privaten Quartieren organisiert. Für das Festival gibt es keine Karten, sondern wir nehmen ausschließlich Spenden. Wenn das Konzert vorbei ist, geht ein Korb durch, und die Leute werfen Geld hinein. Das funktioniert wunderbar.

Ich habe mich sofort in das spätsommerliche Licht verliebt.

Was hat es mit dem diesjährigen Motto „Magica“ auf sich?

Ich wollte unbedingt einen Italien-Schwerpunkt mit italienischer Musik, italienischen Komponisten und Interpreten. Roberto Porroni, einer der besten Gitarristen Italiens, wird bei uns ebenso spielen wie der junge Pianist Gabriel Meloni. Natürlich gibt es auch Uraufführungen. Dieses Mal schrieb der maltesische Komponist Ruben Zahra ein neues Stück für uns. Zu den Höhepunkten des Festivals gehört die Weinwanderung, die von Musik und Märchen begleitet wird. Ziel dieser Reise ist ein kleiner Weinkeller inmitten der schönen Landschaft, der von Schatten spendenden Akazien umgeben ist. Dort werden wir einem marokkanischen Märchen von Maria Doderer lauschen. Die Atmosphäre ist einmalig.

Maria Doderer ist Ihre Mutter, Sie haben außerdem noch vier Schwestern. Wie war es, mit so vielen Frauen aufzuwachsen?

Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Mein Vater gründete in den 1960er-Jahren ein Feriendorf auf Korsika, ich bin dort quasi aufgewachsen. Wir waren wild und frei. Jeden Morgen um sechs Uhr setzten wir uns mit meiner Mutter auf die Pferde und ritten zum Strand. Das war mein größtes Glück. Außerdem haben mich die die korsischen Chöre, die Polyphonies de Corse, stark beeinflusst, die ja mittlerweile in den großen Konzerthäusern Europas zu hören sind. Ich werde nie vergessen, wie sie bei uns im Wohnzimmer sangen. Ich saß als kleines Mädchen zu ihren Füßen und sog die Musik auf.

Aber Ihre Eltern hatten andere Berufe?

Mein Vater hat mehrere Instrumente gespielt, aber vom Beruf her waren beide Lehrer.

Wie kamen Sie dann zur Musik?

Die war immer da, besser gesagt, in mir. Wir gingen viel in Konzerte, und die Musik hatte zu Hause einen hohen Stellenwert. Bei uns gab es einen schönen alten Bösendorfer, auf dem ich von klein auf improvisierte. Ich hatte ständig Musik im Kopf. Als ich mich entschloss, Klavier zu studieren und Komponistin zu werden, hieß es nur: „Mach das!“ Und nicht: „Das ist kein Beruf, von dem man leben kann.“

Wann beschlossen Sie, Komponistin zu werden?

Ich war selten in der Schule, habe viel gewechselt und das Gymnasium schließlich abgebrochen. Ich habe keine Matura und musste alles aufholen. Ich hatte einen Freund namens Peter, der auf der Flucht vor seinen Eltern war. Wir haben in seinem Keller gemeinsam am Klavier improvisiert. Er war mathematisch sehr begabt und beschäftigte sich viel mit der Technik der Fuge. Irgendwann spielte er mir seine Komposition vor und ich dachte: „Das kann ich auch.“ Danach begann ich, nach dem Gehör zu komponieren und es niederzuschreiben. Peter konnte es kaum glauben und zeigte meine Noten Gerold Amann, der damals als Komponist und Lehrer in Feldkirch lebte. Der rief mich an und lud mich ein. Und dann ging alles ganz schnell.

Wie alt waren Sie da?

17.

Wie ging es weiter?

Kurze Zeit später fuhr ich auf die schottischen Hebriden und schrieb dort meine erste freie Komposition. Das Stück hieß „Der Fall“, und es wurde auch aufgeführt. Ich hatte außer Stift und Papier nichts dabei, auch kein Instrument. Ich habe noch ein ganzes Büchlein aus dieser Zeit. Bis 2004 schrieb ich alles nach dem Gehör mit der Hand, auch meine ersten beiden Opern sind so entstanden. Ich glaube, dass man die Technik des Komponierens bis zu einem Grad lernen muss, aber die Musik selber kann man nicht lernen. Man hat sie in sich oder nicht.

War es schwer, sich als junge Frau durchzusetzen?

Nein, und ich habe das auch nie zum Thema gemacht. Ich glaube, das hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie ich aufwuchs. Ich durfte schon als Kind alles ausprobieren, und auch später ließen mir meine Eltern alle Freiheiten. Diese innere Stärke half mir in diesem Beruf sehr. Ich konnte von Anfang an vom Schreiben leben – obwohl man mir das Gegenteil prophezeite.

Was ist für Sie das Wichtigste beim Komponieren?

Wahrhaftigkeit. Alles, was ich bin, kommt aus der Musik. Natürlich gab es auch schwierige Zeiten. Ich zog meinen Sohn allein groß und hatte ohne feste Anstellung finanziell zu kämpfen. Zum Glück ist es sich immer ausgegangen. Das Wichtigste am Komponieren ist, immer wieder von vorne anzufangen. Die größte Gefahr ist die Routine.

Hat sich Ihre Musiksprache verändert?

Während meines Studiums bei dem Komponisten Beat Furrer in Graz beschäftigte ich mich viel mit zeitgenössischer Musik. Letztendlich war sie mir aber zu kopflastig, und ich ging den Weg der Tonalität. Die Musik war für mich schon immer etwas sehr Körperliches. Diese Sinnlichkeit fehlte mir bei den Zeitgenossen. Ich habe mich in den letzten Jahren darauf fokussiert, gute Melodien zu schreiben, weil das für mich die höchste Kunst ist. Die zeitgenössische Musik habe ich dabei radikal ausgespart. Jetzt bin ich an einem Punkt, wo ich beides verbinden möchte. Manchmal habe ich das Gefühl, ich fange erst jetzt zu schreiben an.

Wo finden Sie Ausgleich zu Ihrer Arbeit?

Bei meinen Pferden. Pferde verlangen sofort eine hundertprozentige Präsenz, und die ist auch für die Kunst wichtig. Ich glaube an das kollektive Bewusstsein von Tieren. Man kann wahnsinnig viel von ihnen lernen.

Glück bedeutet für mich, verbunden zu sein.

Sie engagieren sich auch für den Umweltschutz. Eines Ihrer Projekte heißt „Art Creates Awareness“. Worum geht es da?

Die Idee entstand im Zuge meiner Arbeit zur Symphonie „Ozean“. Zur Musik werden auf einer großen Leinwand Filme projiziert. In „Ozean“ mischten wir zum Orchesterklang digitale Walgesänge. Ein Teil der Einnahmen wird an Organisationen gespendet, die sich gegen die Abholzung der Regenwälder einsetzen und den Plastikmüll aus den Meeren entfernen.

Was wollen Sie mit Ihrer Musik vermitteln?

Musik berührt und öffnet Räume. Jeder, der gute Musik hört, kennt den Moment, wenn Klänge plötzlich den Raum sprengen und man sich mit etwas Höherem verbindet. Glück bedeutet für mich auch, verbunden zu sein. Dazu gehören Empathie, Konfrontation und ständiges Hinterfragen. Wenn wir im Hier und Jetzt verbunden sind, bekommen wir auch ein Gefühl dafür, was um uns herum geschieht. Zerstörung kommt nicht von unserer Präsenz, sondern von unserer Abwesenheit. Verbundenheit ist unsere einzige Rettung. ● ○