Standpunkte

Stirbt das Dorf?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:

Man muss vor Ort sein

Mich stört das Wording der Bevölkerungsprognosen, in denen von einer schrumpfenden oder sterbenden Bevölkerung die Rede ist. Ich möchte nicht, dass aufgrund dieser Begriffe auf das Potenzial der Dörfer vergessen wird. In einem Dorf, das eine höhere Sterbe- als Geburtenrate hat, kann sich die Prognose schnell umkehren, sobald zum Beispiel zwei junge Familien zuziehen.

So kann ich sagen: Nein, das Dorf stirbt nicht! Ich bin für meine Arbeit an der Technischen Universität und im Verein Landluft viel unterwegs und sehe, wie viel in ländlichen Räumen los ist: Es gibt viele Leute, die etwas Cooles am Land machen. Schon ein neues Kaffee- oder Gasthaus oder ein Selbstbedienungsladen bringen oft wieder Schwung in ein Dorf. Mir ist es wichtig, den Studierenden mitzugeben, dass die Sache mit den Dörfern komplexer, bunter und vor allem menschlicher ist als in der Theorie. Man muss vor Ort sein und mit vielen Leuten sprechen, um sich selbst ein Bild zu machen. Wir haben beispielsweise die Landuni in Drosendorf initiiert. Dort finden Lehrveranstaltungen, Forschungs- und Praxisprojekte sowie Summer Schools in Kooperation mit der Bevölkerung statt. Wenn zu den ländlichen Räumen gelehrt und geforscht wird, darf das nicht – bildlich gesprochen – aus dem Elfenbeinturm heraus geschehen, sondern muss auch vor Ort passieren.

Wir arbeiten auch mit Storytelling-Methoden. Für das Projekt „Mehr als Obergail“ haben wir zum Beispiel Geschichten über den Ort im Lesachtal, die Personen, Objekte und Gebäude gesammelt, auf einer Website publiziert und bei Lesungen präsentiert. Damit arbeiten wir mit der Bevölkerung am Selbstbewusstsein, damit den Leuten wieder klar wird, wie lässig das Leben im Dorf ist.

Einzelpersonen erwecken Dörfer zum Leben

Nach den Zahlen werden die Dörfer leerer. Derzeit leben rund 25 Prozent der Deutschen auf dem Land. 2050 sollen es nur noch 16 Prozent sein. Die Landflucht der letzten Jahrzehnte führt dazu, dass der Druck besonders auf attraktive Städte stark gestiegen ist. Dadurch wird jetzt das Land doch wieder zur interessanten Option. Corona hat bewiesen, dass das Arbeiten von zu Hause gut möglich ist, Menschen, die vorher etwa in Berlin gearbeitet haben, tun das jetzt von Brandenburg aus.

Oft erwecken Einzelpersonen totgeglaubte Dörfer zum Leben. Ein Beispiel ist das Bergdorf Riom in Graubünden, dessen Bewohner veraltet sind. Der Theaterintendant Giovanni Netzer hat es durch das Kulturfestival Origen geschafft, Künstler und junge Leute ins Dorf zu bringen, und Menschen kommen von weit her, um Theater-, Tanz- oder Konzertveranstaltungen zu besuchen. Im Nachbardorf Mulegns wurde spektakulär eine Villa versetzt, die jetzt für das Festival genutzt wird, und für Performances wird in Kooperation mit der ETH Zürich derzeit ein Turm 3D-gedruckt.

Aber auch die Revitalisierung der Dorfkerne ist wichtig sowie die Umnutzung leerstehender Klöster. Aufgrund von Brandschutz-, Fluchtwegs- und Geschoßhöhenvorgaben gestaltet sie sich jedoch oft schwierig. Zu begrüßen ist zudem Verdichtung auf dem Land, also etwa mehrgeschoßiger Wohnbau, denn es kann mit dem Flächenfraß nicht so weitergehen. Viele Menschen wünschen sich wieder ein gemeinschaftlicheres Zusammenleben – und dafür eignen sich Dörfer, wenn es dort auch wieder Infrastruktur gibt, sehr gut.

Sehe die Zukunft positiv

Aus meiner Sicht gibt es auch eine gegenläufige Tendenz zum Verlassen der Dörfer. Dabei spielen die Infrastruktur und die Erreichbarkeit attraktiver Wirtschaftsstandorte eine viel größere Rolle als die Architektur. Für eine Familie mit Kindern, die in der Stadt in einer 70-Quadratmeter-Wohnung im achten Stock lebt, wird eine ländliche Dorfstruktur mit einem umfangreicheren Raumangebot, wo die Kinder mit der Natur und den Jahreszeiten aufwachsen, plötzlich interessant – erst recht, wenn der Arbeitsplatz nur eine halbe Stunde entfernt ist. Es ist auch eher nebensächlich, ob man im Dorf in einem bereits bestehenden Gebäude oder einer Wohnung lebt.

Dörfer sind Teil der Kultur- und Naturlandschaft, die von den dort lebenden Menschen mitgeprägt werden. Das hat einen Wert. Wenn man sich als Kultur- und Tourismusnation versteht, dann sollte man den Dörfern Aufmerksamkeit schenken, zum Beispiel auch, indem man Menschen, die in die Dörfer ziehen und diese erhalten, steuerliche Vorteile anbietet.

Ich glaube nicht, dass das Wohnen am Land mehr CO2 erzeugt, vorausgesetzt, es gibt in Zukunft gut ausgebaute Mobilitätskonzepte, sodass die Menschen zu einem erheblich höheren Anteil öffentlich oder in Fahrgemeinschaften unterwegs sind. Man kann einen Energiehaushalt am Land auch nach anderen Gesichtspunkten führen und die Autarkie eines Gebäudes etwa durch Erdwärme und Fotovoltaik relativ leicht herstellen. Auch Kreislaufwirtschaftsformen sind am Land traditionell viel ausgeprägter als in urbanen Ballungsräumen. Und was in der Stadt Urban Gardening heißt, fällt am Land eher unter die Kategorie „selbstverständlich“. Daher sehe ich die Zukunft des Dorfes durchaus positiv.