Simone Hirth

Nah & Frisch


Die Bibliothek als kultureller Nahversorger: Schriftstellerin Simone Hirth über eine Institution, die auch in kleinen Orten Raum fürs Nichtsmüssen und Vieleskönnen bietet.

Es gibt hier immerhin einen Nah & Frisch.

Dachte ich, als ich vor nunmehr fast sieben Jahren zum ersten Mal aus dem Zug, aus Wien kommend, stieg, um mir in Kirchstetten/Niederösterreich eine Wohnung anzuschauen. Ich hatte die Wohnung während verzweifelter Wohnungssuche zufällig auf einer Internetplattform entdeckt. Die Wohnung sah auf den Fotos nicht besonders einladend aus, und sie befand sich in –

Wo nochmal? Kirchstetten?? Wo soll das sein??? HINTER Neulengbach???? Da beginnt man doch zu vergessen, was Wien ist, wie eine Stadt ist! Da beginnt das Nirgendwo. Da ragen allerhöchstens die Lagerhaustürme aus der Landschaft. Die gute alte Kraft am Land. Da ist vor allem: Landschaft. Um die Lagerhaustürme. Und eigentlich mehr Land als Schaft. Da liegen weder Hasen im Pfeffer noch Hunde begraben. Da liegen doch nur Strohballen herum.

Stimmt, dachte ich. Ich war mir, ganz ehrlich, nicht sicher, ob Kirchstetten/Niederösterreich wirklich der Ort für mich war.

Da wirst du eingehen, als Autorin, aus der Stadt. Vergiss es, da wartet nichts auf dich!

Größe und Preis der Wohnung aber schienen es wert, ihr eine Chance zu geben. Ich fuhr hin.

Und ich bin nicht eingegangen, bis heute. Ich habe hier vier Bücher geschrieben.

Und in echt ist die Wohnung: großartig.

Und in echt gibt es nicht nur einen Nah & Frisch.

In echt gibt es ZWEI Nahversorger. Einer davon verkauft Lebensmittel.

Der andere verkauft nichts. Er bietet vor allem: Raum. Zum Sein. Zum Nichtsmüssen. Zum Vieleskönnen. Und natürlich, ganz wichtig: zum Lesen.

Der zweite Nahversorger in Kirchstetten ist eine öffentliche Bücherei.

Das Schild, das in Kirchstetten an der Durchgangsstraße auf die Bücherei hinweist, ist unübersehbar. Es gibt hier sonst nicht viele Schilder am Straßenrand. Es gibt hier sonst nicht viel, worauf hingewiesen werden muss. Als ich das Schild zum ersten Mal sah, empfand ich tatsächlich eine Art Erleichterung. Eine Ermutigung. Das Schild sagte: Du bist richtig hier.

Dennoch dauerte es einige Monate, bis ich dem Schild folgte und die Bücherei besuchte. Vielleicht, weil ich eine gewisse Scheu hatte, eine gewisse Vorstellung, wie sie wohl sein würde, diese Dorfbücherei: klein, eng, staubig, die Buchauswahl mäßig. Ich besuchte die Bücherei das erste Mal also nicht, um, wie man erwarten würde, Bücher auszuborgen. Ich besuchte sie, weil ich gelesen hatte, dass dort eine Pflanzentauschbörse stattfand.

Was? Dachte ich. Pflanzen tauschen? In einer Bücherei?

Die pure Neugier zog mich hin. Ich kam, und bekam als erstes Kaffee und Kuchen angeboten. Und war der Bibliothekarin unglaublich dankbar, die sagte: Soll ich Ihnen mal kurz Ihr Baby abnehmen, damit Sie in Ruhe Ihren Kaffee trinken können?

Kaffee? Und: Aha! Eine öffentliche Bücherei, vor allem in einem kleinen Ort, kann mehr sein als ein Kammerl, in dem es eingestaubte Bücher zu holen gibt! Die öffentliche Bücherei in Kirchstetten, das merkte ich in der ersten Sekunde, die ich dort verbrachte, ist überhaupt: kein Kammerl. Und das meine ich nicht nur in architektonischer Hinsicht.

Was? Dachte ich. Pflanzen tauschen? In einer Bücherei?

Die öffentliche Bücherei in Kirchstetten ist der Ort, an dem Denken (wieder) möglich wurde. Für mich.

Eine Bücherei ist der Ort, an dem es möglich ist, innezuhalten. Zu blinzeln und zu atmen. Dann erst kommen sie, können sie kommen: die Ideen. Nur wenn man zumindest mal kurz in Ruhe seinen Kaffee trinken kann, kann Kunst werden. In meinem Fall Literatur.

Nur dann ist Platz dafür: Poesie.

Ich begann bald, ehrenamtlich in der Bücherei mitzuarbeiten. Ich bekam einen Schlüssel für die Bücherei, um außerhalb der Öffnungszeiten dort schreiben zu können, weil mit Kleinkind zu Hause oft die Ruhe fehlte. Und ja, das ist, was eine öffentliche Bücherei auch noch sein kann: Rückzugsort. Atelier. Enklave. Ein Zimmer für sich allein.

Und sie kann, wie in Kirchstetten, auch das sein: Bühne. Konzertsaal. Galerie. Werkstatt. Podium. Labor. Kaffeehaus.

Mein Tipp: Man besuche spontan die nächstgelegene öffentliche Bücherei und setze obige Liste fort.

Und da ist sie plötzlich, zwischen den Lagerhaustürmen und neben dem Nah & Frisch, deutlich erkennbar: die Kultur am Land. ● ○