Johanna Doderer

Musik im Kopf


Die Komponistin Johanna Doderer hatte, so sagt sie, schon als Jugendliche ständig Musik im Kopf. 1969 in Bregenz geboren, studierte sie in Graz und lebt heute in Wien sowie in Sitzendorf an der Schmida im Weinviertel. Dort veranstaltet sie das kleine wie hochkarätige Festival hören:sitzendorf, zu dem sie jeden Sommer Künstlerinnen und Künstler aus dem In- und Ausland lädt. Gerade arbeitet sie an ihrer zehnten Oper, die im Münchner Gärtnerplatztheater uraufgeführt werden wird. Grund genug, der international tätigen Musikerin mit Leidenschaft für Pferde und Landleben ein Special zu widmen. Lesen Sie auf den folgenden Seiten ein ausführliches Interview mit Doderer über Kindheitsurlaube mit korsischen Chören, marokkanische Märchen in den Weinbergen und ihre Art zu komponieren sowie einen Essay über die Rolle von Komponistinnen in der heimischen Musiklandschaft. Übrigens: Für hören:sitzendorf gibt es keine Karten. Nur freiwillige Spenden. Es findet von 30. Juni bis 2. Juli statt – nachdrückliche Empfehlung!

Clemens Schmiedbauer
Clemens Schmiedbauer

Johanna Doderer

„Wenn Klänge den Raum sprengen"


Komponistin Johanna Doderer sprach mit morgen über ihre Kraftorte, das von ihr veranstaltete Musikfestival hören:sitzendorf im Weinviertel, die Bedeutung von Pferden und darüber, wie sie beim Improvisieren im Keller dem Komponieren näherkam.

Die Komponistin Johanna Doderer wurde in Bregenz geboren, wuchs auf Korsika auf und zog mit Anfang 20 zum Studium nach Graz. Sie lebt in Wien-Landstraße und Sitzendorf an der Schmida, Bezirk Hollabrunn. Dort veranstaltet sie das Festival hören:sitzendorf. Die Komponistin, eine Großnichte des Schriftstellers Heimito von Doderer, hat ein umfangreiches Werk an Opern (insgesamt neun Stück), Liedern, Orchester- und Kammermusik geschaffen und wurde vielfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Ernst-Krenek-Preis, aber auch mit dem niederösterreischen Kulturpreis. Aktuell arbeitet sie an ihrer zweiten Oper mit Peter Turrini, die in der Saison 2025/26 am Gärtnerplatztheater in München uraufgeführt wird. Eigentlich hätte das Interview in ihrem zweiten Zuhause im Weinviertel stattfinden sollen. Weil es dort im Frühling, als dieses Gespräch geführt wurde, noch stürmte und schneite, wurde das Treffen kurzfristig in die Wiener Innenstadt verlegt.

Frau Doderer, warum sitzen wir hier, wo wir gerade sitzen?

Johanna Doderer

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Das Café Engländer ist mein zweites Wohnzimmer. Hier mache ich meine beruflichen Besprechungen und treffe regelmäßig Musikerinnen und Dirigenten. Außerdem wohne ich nicht weit weg. In meiner Wohnung im dritten Bezirk sind auch die meisten meiner Werke entstanden. Obwohl ich gerne reise und viel am Land bin, ist Wien für mich der Kraftort Nummer eins.

Worin liegt die Kraft von Wien?

Mich inspiriert, dass hier so viele fantastische Musiker und Musikerinnen leben, eigentlich fast in jedem Haus. In Wien ist Musik omnipräsent, und ich meine damit nicht nur Konzerte oder Opern, sondern all jene Menschen, die täglich üben, musizieren und komponieren.

Ihr zweiter Kraftort ist Sitzendorf an der Schmida. Was hat Sie dorthin verschlagen?

Als ich vor ein paar Jahren den Auftrag bekam, mit Peter Turrini eine Schubert-Oper zu schreiben, wollte ich einen Rückzugsort zum Arbeiten finden. Weil Peter im Weinviertel wohnt, machten wir uns gemeinsam auf die Suche. Einmal haben wir uns verfahren und landeten in Sitzendorf. Ich habe mich sofort in das spätsommerliche Licht verliebt.

Sie haben sogar ein eigenes Festival gegründet.

Es gab schon davor die Sitzendorfer Musik-Herbst-Tage mit kleinen Konzerten in der Kirche, und man fragte mich, ob ich das übernehmen möchte. Ich wollte ein Festival, bei dem die Menschen im Ort verweilen. Bei uns gibt es drei Tage ein dichtes Programm mit ausgezeichneten Musikerinnen und Musikern, Lesungen, Wanderungen, Wein und Kulinarik. Für die Kinder haben wir Ponyreiten. Die Übernachtungen sind in privaten Quartieren organisiert. Für das Festival gibt es keine Karten, sondern wir nehmen ausschließlich Spenden. Wenn das Konzert vorbei ist, geht ein Korb durch, und die Leute werfen Geld hinein. Das funktioniert wunderbar.

Ich habe mich sofort in das spätsommerliche Licht verliebt.

Was hat es mit dem diesjährigen Motto „Magica“ auf sich?

Ich wollte unbedingt einen Italien-Schwerpunkt mit italienischer Musik, italienischen Komponisten und Interpreten. Roberto Porroni, einer der besten Gitarristen Italiens, wird bei uns ebenso spielen wie der junge Pianist Gabriel Meloni. Natürlich gibt es auch Uraufführungen. Dieses Mal schrieb der maltesische Komponist Ruben Zahra ein neues Stück für uns. Zu den Höhepunkten des Festivals gehört die Weinwanderung, die von Musik und Märchen begleitet wird. Ziel dieser Reise ist ein kleiner Weinkeller inmitten der schönen Landschaft, der von Schatten spendenden Akazien umgeben ist. Dort werden wir einem marokkanischen Märchen von Maria Doderer lauschen. Die Atmosphäre ist einmalig.

Maria Doderer ist Ihre Mutter, Sie haben außerdem noch vier Schwestern. Wie war es, mit so vielen Frauen aufzuwachsen?

Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Mein Vater gründete in den 1960er-Jahren ein Feriendorf auf Korsika, ich bin dort quasi aufgewachsen. Wir waren wild und frei. Jeden Morgen um sechs Uhr setzten wir uns mit meiner Mutter auf die Pferde und ritten zum Strand. Das war mein größtes Glück. Außerdem haben mich die die korsischen Chöre, die Polyphonies de Corse, stark beeinflusst, die ja mittlerweile in den großen Konzerthäusern Europas zu hören sind. Ich werde nie vergessen, wie sie bei uns im Wohnzimmer sangen. Ich saß als kleines Mädchen zu ihren Füßen und sog die Musik auf.

Aber Ihre Eltern hatten andere Berufe?

Mein Vater hat mehrere Instrumente gespielt, aber vom Beruf her waren beide Lehrer.

Wie kamen Sie dann zur Musik?

Die war immer da, besser gesagt, in mir. Wir gingen viel in Konzerte, und die Musik hatte zu Hause einen hohen Stellenwert. Bei uns gab es einen schönen alten Bösendorfer, auf dem ich von klein auf improvisierte. Ich hatte ständig Musik im Kopf. Als ich mich entschloss, Klavier zu studieren und Komponistin zu werden, hieß es nur: „Mach das!“ Und nicht: „Das ist kein Beruf, von dem man leben kann.“

Wann beschlossen Sie, Komponistin zu werden?

Ich war selten in der Schule, habe viel gewechselt und das Gymnasium schließlich abgebrochen. Ich habe keine Matura und musste alles aufholen. Ich hatte einen Freund namens Peter, der auf der Flucht vor seinen Eltern war. Wir haben in seinem Keller gemeinsam am Klavier improvisiert. Er war mathematisch sehr begabt und beschäftigte sich viel mit der Technik der Fuge. Irgendwann spielte er mir seine Komposition vor und ich dachte: „Das kann ich auch.“ Danach begann ich, nach dem Gehör zu komponieren und es niederzuschreiben. Peter konnte es kaum glauben und zeigte meine Noten Gerold Amann, der damals als Komponist und Lehrer in Feldkirch lebte. Der rief mich an und lud mich ein. Und dann ging alles ganz schnell.

Wie alt waren Sie da?

17.

Wie ging es weiter?

Kurze Zeit später fuhr ich auf die schottischen Hebriden und schrieb dort meine erste freie Komposition. Das Stück hieß „Der Fall“, und es wurde auch aufgeführt. Ich hatte außer Stift und Papier nichts dabei, auch kein Instrument. Ich habe noch ein ganzes Büchlein aus dieser Zeit. Bis 2004 schrieb ich alles nach dem Gehör mit der Hand, auch meine ersten beiden Opern sind so entstanden. Ich glaube, dass man die Technik des Komponierens bis zu einem Grad lernen muss, aber die Musik selber kann man nicht lernen. Man hat sie in sich oder nicht.

War es schwer, sich als junge Frau durchzusetzen?

Nein, und ich habe das auch nie zum Thema gemacht. Ich glaube, das hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie ich aufwuchs. Ich durfte schon als Kind alles ausprobieren, und auch später ließen mir meine Eltern alle Freiheiten. Diese innere Stärke half mir in diesem Beruf sehr. Ich konnte von Anfang an vom Schreiben leben – obwohl man mir das Gegenteil prophezeite.

Was ist für Sie das Wichtigste beim Komponieren?

Wahrhaftigkeit. Alles, was ich bin, kommt aus der Musik. Natürlich gab es auch schwierige Zeiten. Ich zog meinen Sohn allein groß und hatte ohne feste Anstellung finanziell zu kämpfen. Zum Glück ist es sich immer ausgegangen. Das Wichtigste am Komponieren ist, immer wieder von vorne anzufangen. Die größte Gefahr ist die Routine.

Hat sich Ihre Musiksprache verändert?

Während meines Studiums bei dem Komponisten Beat Furrer in Graz beschäftigte ich mich viel mit zeitgenössischer Musik. Letztendlich war sie mir aber zu kopflastig, und ich ging den Weg der Tonalität. Die Musik war für mich schon immer etwas sehr Körperliches. Diese Sinnlichkeit fehlte mir bei den Zeitgenossen. Ich habe mich in den letzten Jahren darauf fokussiert, gute Melodien zu schreiben, weil das für mich die höchste Kunst ist. Die zeitgenössische Musik habe ich dabei radikal ausgespart. Jetzt bin ich an einem Punkt, wo ich beides verbinden möchte. Manchmal habe ich das Gefühl, ich fange erst jetzt zu schreiben an.

Wo finden Sie Ausgleich zu Ihrer Arbeit?

Bei meinen Pferden. Pferde verlangen sofort eine hundertprozentige Präsenz, und die ist auch für die Kunst wichtig. Ich glaube an das kollektive Bewusstsein von Tieren. Man kann wahnsinnig viel von ihnen lernen.

Glück bedeutet für mich, verbunden zu sein.

Sie engagieren sich auch für den Umweltschutz. Eines Ihrer Projekte heißt „Art Creates Awareness“. Worum geht es da?

Die Idee entstand im Zuge meiner Arbeit zur Symphonie „Ozean“. Zur Musik werden auf einer großen Leinwand Filme projiziert. In „Ozean“ mischten wir zum Orchesterklang digitale Walgesänge. Ein Teil der Einnahmen wird an Organisationen gespendet, die sich gegen die Abholzung der Regenwälder einsetzen und den Plastikmüll aus den Meeren entfernen.

Was wollen Sie mit Ihrer Musik vermitteln?

Musik berührt und öffnet Räume. Jeder, der gute Musik hört, kennt den Moment, wenn Klänge plötzlich den Raum sprengen und man sich mit etwas Höherem verbindet. Glück bedeutet für mich auch, verbunden zu sein. Dazu gehören Empathie, Konfrontation und ständiges Hinterfragen. Wenn wir im Hier und Jetzt verbunden sind, bekommen wir auch ein Gefühl dafür, was um uns herum geschieht. Zerstörung kommt nicht von unserer Präsenz, sondern von unserer Abwesenheit. Verbundenheit ist unsere einzige Rettung. ● ○

Komponistinnen

Kurz geehrt, lang vergessen


Während Johanna Doderer Häuser in München, Erfurt und Wien erobert, bleiben andere höchst verdiente Komponistinnen im Schatten. Wieso?

Es gibt sie: die großartige Olga Neuwirth, deren Oper „Orlando“, eine Gesamtkomposition aus Musik, Mode, Licht und Bewegung, 2019 an der Wiener Staatsoper ausverkauft war. Die vielseitige Johanna Doderer, die mit ihrem Opernschaffen Häuser in München, Erfurt und Wien erobert – in der bayrischen Hauptstadt 2021 feierte ihr Werk „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater seine Uraufführung in großer Orchesterfassung. Oder die in Wien lebende Kim Cooper, deren Song „Unique“ Superstar Beyoncé auf ihrem jüngsten Album zitiert. Glückliche Einzelfälle, deren Strategien Vorbild sein können, mehr nicht. Denn die Geschichten von untergriffigen Fragen, vom Aufgeben und vom Verdrängtwerden, die Komponistinnen bis heute erleben, sind zahllos. Seit Clara Schumann wird die weibliche Schaffenskraft infrage gestellt. Dabei ist das Schöpferische zutiefst weiblich.

Es wird sich nichts von selbst ändern, im Gegenteil: Je jünger eine Institution, desto weniger gender-balanciert ist sie. Das zeigt sich an den Führungsriegen der jüngsten Musikuniversitäten ebenso wie im Internet: Wikipedia zensuriert Biografien von Wissenschaftlerinnen; sie seien zu wenig relevant. Der Algorithmus von Spotify fördert Ähnlichkeiten und Easy Listening, einen weißen männlichen Musikgeschmack.

Die Akkreditierungskommissionen der neuen Musikunis lassen den Genderaspekt in ihren Anforderungen an Qualifikation und Ausstattung unberücksichtigt. Weder die Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien noch die Linzer Anton Bruckner Privatuniversität oder das Jam Music Lab führen Studien der feministischen Musikologie.

Sieben Prozent

Die Zahlen sind erschreckend. Gender-Budgeting wird noch immer als Mehrarbeit empfunden, das Monitoring – also die Erfassung von Zahlen – der Geschlechterbalance steckt in den Kinderschuhen, wenn nicht Babypatscherln. Der Gender-Pay-Gap liegt in der deutschen Musikbranche bei 30 Prozent, doppelt so hoch wie in anderen Branchen. Der Anteil von Komponistinnen in den Programmen von 21 führenden US-Orchestern kam in der Saison 2020/21 nicht über 25 Prozent hinaus, Ensembles der Neuen Musik brachten es immerhin auf 35 Prozent. Lassen wir uns jedoch nicht täuschen: Auch wenn bei Wien Modern, dem Festival für Neue Musik, der Anteil weiblicher Beteiligung 2018 bei 45 Prozent lag – mittlerweile ist er wieder zurückgegangen – halten die Budgets für weibliche Kompositionen mit den Prozentzahlen nicht Schritt. Nur knapp sieben Prozent des Budgets führender US-Orchester floss in die Aufführung von Werken, die Frauen komponiert hatten. Allein für Beethoven wurde mehr ausgegeben, nämlich zehn Prozent, die restlichen 83 Prozent für andere Komponisten.

Die österreichische Transparenzdatenbank offenbart Riesensummen für die Förderung von Künstlern, von denen einzelne sogar in die Millionen gehen; nur Bruchteile davon sind für Künstlerinnen verzeichnet. Eine annähernde Auswertung bietet der Bericht über die Überbrückungsfinanzierung für selbständige Künstlerinnen und Künstler: Das Verhältnis von Frauen zu Männern hinsichtlich der positiv erledigten Anträge lag im Antragszeitraum bei 41 zu 59 Prozent. Der Rechnungshof moniert Mängel, nach einer Gender-Evaluation fragt er hingegen nicht.

Staunend und ungläubig

Die Musikbranche hinkt den anderen Kunstsparten in strukturellen Maßnahmen zur Gleichstellung von Künstlerinnen dramatisch hinterher. Auch wenn Antragstellende in den Formularen der Stadt Wien und des Bundes personell und inhaltlich Angaben zu ihrem Geschlecht machen müssen, führt das nicht zu entsprechenden Berichten. Auftragsstudien wie jene zum Wienerlied vernachlässigen den Gender-­Aspekt, im Monitoring sowie in den Maßnahmen.

Wie es besser ginge, macht die Filmbranche vor: In diesem Bereich gibt es Gender-Reporting, basierend auf eingehender Analyse von Hunderten Projekten, den Katalog „Gender im Film“, für dessen Aufnahme klare Kriterien erforderlich sind, sowie einen Diskurs, der in den großen Filmfestivals verankert ist. Bei der diesjährigen Diagonale wurden im Rahmen der Veranstaltung „Feminist Perspectives“ Fragen zu einer feministischen Filmpraxis und Maßnahmen im Rahmen der #MeToo-Kampagne analysiert, denn: Ein Ungleichgewicht zwischen Geschlechtern und sexuelle Übergriffe bedingen einander. Hier wird engagiert lobbyiert, zum Beispiel vom Verband der Regisseurinnen und vom FC Gloria, einem feministischen Verein. Sie gehen zwar vielen auf die Nerven – wie es eben der Fall ist, wenn Frauen solidarisch sind –, aber dank ihrer Aktivitäten erreichte das Filmschaffen eine Gender-Balance bei den Subventionen. Und so schauen weibliche Musikschaffende staunend und ungläubig auf den Film.

Die Musik ist zögerlich halbherzig; trotz des Wohlwollens der Subventionsgebenden in Bezug auf weibliches Musikschaffen ist die Musikszene von einer Gleichstellung weit entfernt. Das Kulturministerium organisierte zwar Speeddatings von Komponistinnen mit Veranstalterinnen und Veranstaltern – immerhin, ein Anfang. Österreichs Musikuniversitäten mit langer Tradition und hervorragendem Image scheuen jedoch vor einem Studium der feministischen Musikologie zurück. Die größte Musikuniversität Österreichs, die Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, listet gender- und diversitätsreflektierte Lehrveranstaltungen auf, veranstaltet Workshops zum Repertoire einzelner Komponistinnen, wie über die große Europäerin Dora Pejačević, doch nichts davon ist verpflichtend. Die Universität für Musik und darstellende Kunst Graz führt ein Gender-Institut, das forscht und Lehre anbietet – doch auch da fehlt die fixe Verankerung im Lehrplan.

Komponistinnen sind konfrontiert mit einem Hindernislauf

Gegengewicht

Es braucht ein Gegengewicht zu all den Statuen und Denkmälern meist mediokrer Komponisten im ganzen Land. Die Wiener Staatsoper und der Große Musikvereinssaal sind dekoriert mit Büsten mehrheitlich vergessener Komponisten, wie sollen Aufführungen von Komponistinnen da ihren Rahmen finden? Um die Sichtbarkeit des Musikschaffens von Frauen zu steigern, braucht es auch den öffentlichen Raum – es gibt schon ein paar Gässchen und Plätzchen, benannt nach der NS-Exilantin Vally Weigl, der Schönberg-Schülerin und Musikkritikerin Elsa Bienenfeld sowie nach der Musikverlegerin Yella Hertzka. Wenn wir den Beitrag der Komponistinnen, Verlegerinnen, Musikwissenschafterinnen tilgen, verlieren wir die andere Hälfte der Musikgeschichte. Wir verkennen ihre Bedeutung, wir müssen sie immer neu rechtfertigen. Vor Wikipedia und anderen Lexika.

Karrieren feministischer Musikologinnen wie Elena Ostleitner, die in Strasshof im Weinviertel einen Verlag führte, sind Sackgassen: kurz geehrt und lang vergessen. Wir feiern immer aufs Neue Komponistinnen als Pionierinnen, aber jede muss wieder von vorne beginnen! Die jahrhundertealte Tradition der Komponistinnen wird unterdrückt, die Bewältigung der Hürden ignoriert, die Kraft der Netzwerke nicht vermittelt. Für unsere Ausstellung zu Komponistinnen mit dem Titel „MusicaFemina“ fand sich 2018 kein Museum. Sie wurde in der historischen Pflanzenorangerie von Schönbrunn gezeigt, wo sie in zwei Monaten 50.000 Gäste anzog.

Die Hürden sind vielfältig. Kaum ist eine übersprungen, stellt sich die nächste auf. Komponistinnen sind konfrontiert mit einem Hindernislauf, dessen Regeln nicht bekannt sind und einer ständigen Veränderung unterliegen, willkürlich und intransparent.

Motivation und Druck

Musikleben muss auf allen Ebenen und in allen Formaten auf Gleichstellung setzen: Musikfestivals und Ausbildungsinstitutionen, die keine Frauen einladen oder aufführen, sollen die Förderungen gestrichen werden. Sie sind zu ächten.

Gleichstellung kann nichts weniger als Sache der Chefinnen und Chefs sein und darf nicht ausgelagert werden. Für das Schaffen von Komponistinnen braucht es ein Institut wie Exilarte, das Zentrum für verfolgte Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, das Forschung, Sammlung, Lobbying und Aufführung vorantreibt. Europas Kulturprogramme würden Kooperationen ermöglichen und Finanzierung bereitstellen. Nach kleinen Festivals in Österreich, wie e_may oder Phonofemme, die mangels finanzieller Unterstützung wieder aufgaben, braucht es Konzertreihen wie die Frauenstimmen in Salzburg sowie weitere Podien für das Female Symphonic Orchestra Austria unter der Leitung von Silvia Spinnato und das 1. Frauen-Kammerorchester von Kati Maróthy.

Und es braucht Motivation, Kenntnis und sanften Druck: Damit die Wiener Philharmoniker beim Neujahrskonzert endlich einmal nicht nur Walzer von Komponisten, sondern auch von deren höchst verdienten Kolleginnen spielen. ● ○

Gleichstellung muss Sache der Chefinnen und Chefs sein.