Gesellschaft • Essay

Lockerungsübungen


Was wurde, was wird aus dem Dorf? Gedanken zum Leben abseits der Großstadt – gestern, heute und nach der Apokalypse.

Es war nicht alles schlecht im Dorf, denke ich. Selbst habe ich nie in einem richtigen Dorf gelebt. Fast alles, was ich über das Dorf weiß, weiß ich von Weggegangenen, vom Hörensagen, vom Nachlesen. Geprägt haben meinen Blick zuallererst die Besuche, die endlosen Sommerferien an der Grenze zum Eisernen Vorhang auf den Höfen meiner Großmütter.

Während meine Eltern, ein Lehrerpaar, in ihren großen Ferien auf den Feldern ihrer Eltern schufteten, bedeuteten diese Wochen für mich und meinen jüngeren Bruder Natur und nahezu grenzenlose Freiheit. Hie und da kamen wir Kinder mit der Dorfgemeinschaft in Kontakt. Das Gerede und Gemauschel konnten wir als Auswärtige aber ignorieren. Warum meine Eltern am Ende einer jeden Ernte froh waren, selbst nicht mehr in der Enge des Dorfes zu leben und in die Anonymität einer ländlich geprägten Vorstadtsiedlung zurückkehren zu können, verstand ich damals nicht. Erst später ließ mich Literatur die als Kind empfundene Idylle überdenken.

Die Technik ermöglicht eine Anbindung ans Weltgeschehen.

Ausbrüche

Plötzlich prägten die Berichte der Geschundenen, die Anti-Heimatromane der Nachkriegszeit meine Vorstellungen davon: Franz Innerhofers „Schöne Tage“ (1974) fallen mir da ebenso ein wie Josef Winklers radikal unverklärter Blick auf die Brutalität des Landlebens, seines gewalttätigen Vaters. Die Gnadenlosigkeit des Umgangs mit Schwachen und Beschränkten und allen, die irgendwie aus den ihnen zugedachten Rollen in der gottgegebenen patriarchalen Ordnung ausbrechen. Enge und Gewalt, soziale Kontrolle, Tristesse, Sprachlosigkeit und das große Schweigen.

Ich möchte nichts beschönigen, aber seither ist viel Wasser die begradigten Bäche hinuntergelaufen; ist die Welt eine andere geworden; ist vieles erschienen, das zwischen den Welten vermittelt, andere Bilder zeichnet. Die Waldviertel-Romane von Doris Knecht etwa, die teilnahmsvollen Erkundungen von Landschaft und Leuten in den Romanen von morgen-Autor Thomas Sautner; die Romane des in die Provinz zurückgekehrten Reinhard Kaiser-Mühlecker und, in Deutschland, Juli Zehs „Unterleuten“, das vielbeachtete, vielstimmige Porträt einer Brandenburger Dorfgemeinschaft. Ich wage zu bezweifeln, dass heute zwingend Stadtluft atmen muss, wer frei sein möchte und behaupte sogar, dass es Lebensentwürfe gibt, die sich auf dem Land freier umsetzen lassen. Allein schon, weil dort das Leben deutlich billiger ist, die Technik aber eine Anbindung ans Weltgeschehen ermöglicht. Und die Autoritäten von gestern an Bedeutung verloren haben, und man mittlerweile auch auf dem Land vieles lockerer sieht als noch vor ein paar Jahren. Daran dachte ich zuletzt, als ich wieder einmal den offenen Bücherschrank der Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, mit ausgemusterten Romanen, Comics und Sachbüchern bestückte. Eigentlich gehört die anonyme S-Bahn-Siedlung, in der meine Eltern immer noch wohnen, nämlich zu einem hinter den Äckern gelegenen Dorf, in dem ich auch die Volksschule besuchte. Damals, dachte ich mir, als ich die Bücher ins Regal der zum Bücherschrank umgebauten alten Brückenwaage stellte, hätte vermutlich noch der Pfarrer kontrolliert, ob eh nichts Jugendgefährdendes, Aufrührerisches in Umlauf gebracht würde. Das ist, gottlob, passé.

Deutungshoheit

Wer heute vom Landleben spricht, hat die Stadt zwingend im Hinterkopf, oft auch hinter sich. Denn es gibt nicht nur Abwanderung, sondern auch Zurückgekehrte. Mit neuen Ideen, anderen Ansätzen, völlig anderen Jobs, von denen sich auch außerhalb der Zentren leben lässt. Die existenzielle Weltabgewandtheit des Dörflichen, die weitgehende Autarkie, die dörfliche Lebenswelten noch vor ein paar Jahrzehnten ausmachte, gehört der Vergangenheit an.

In vielen Dörfern gibt es gerade noch zwei, drei Bauernfamilien, die – oft genug im Nebenerwerb – vom Land rundum leben. Viele dieser Bäuerinnen und Bauern haben studiert, auf Reisen und im Rahmen von Auslandssemestern die Welt gesehen. Früher hatte der sprichwörtliche „Bauernschädel“ ein Brett vor dem Kopf, heute ist er tendenziell besser ausgebildet als die restliche Dorfbevölkerung. Auch wenn den alten Hof nebenan vielleicht die Anwältin und der Arzt hergerichtet haben und die „Aussteiger“, die sich am Ortsrand eingemietet haben und den Käse ihrer Schafe auf dem nächsten Markt, an Haubenlokale in der großen Stadt und übers Internet verkaufen, auch irgendwas studiert haben. Die Stadt ist immer in Reichweite; selbst wenn man sie nachts auch bei klarer Luft nicht in der Ferne leuchten sieht. Sie ist überregionaler Bezugspunkt, übermächtig, tonangebend. Von ihr geht die Deutungshoheit über viele gesellschaftliche Diskurse aus. Denn wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung in Ballungszentren wohnt, ist gegen die Stadt demokratisch nichts auszurichten. Gehen von ihr doch die Mehrheiten aus. Und bleibt die große Katastrophe aus (wer weiß das schon angesichts der Klimakrise), dann ist diese Entwicklung unumkehrbar und verstärkt sich wohl noch. Das kann die Landbevölkerung in Lethargie und Resignation verfallen lassen – oder zur Offenheit und zum Austausch anspornen. Im Interesse aller Beteiligten, denn Stadt und Land brauchen einander, sind zueinander komplementär. Das wird manchmal vergessen. Zumal die seltsame Utopie von sich selbst genügenden und versorgenden Städten vergisst, dass jede Stadt nichts wäre ohne ihr Umland und das Weithergeholte. Da geht es um existenzielle Grundlagen und nicht nur um landwirtschaftliche Güter. Frische Luft, Erholung, Kulturlandschaft. Das vielgerühmte Wiener Wasser beispielsweise stammt zu einem guten Teil vom Hochschwab und vom Schneeberg. Die Schutzgebiete an den Ursprungsquellen der Hochquellwasserleitung sind größer als das Stadtgebiet selbst: möglichst naturnahe, schonend bewirtschaftete Wälder. Bewirtschaftet, keine sich selbst überlassene Wildnis, wie sie der Schriftsteller David Bröderbauer in seinem neuen Roman „Die halbe Welt“ schildert. Darin denkt der aus Zwettl stammende Autor das reale Half-Earth-Projekt des 2021 verstorbenen Biologen Edward O. Wilson weiter. Um die Klimakrise zu bewältigen und das Artensterben aufzuhalten, hat die Menschheit die halbe Welt aufgegeben und sich selbst überlassen. Im kultivierten Teil der halben Welt gibt es keine Dörfer mehr, neben Städten nur noch intensiv bestellte Äcker und Felder.

Frische Ideen

Dass das Landleben in die Defensive gerät, zu diesem Schluss kommt auch der deutsche Geograf Werner Bätzing in seinem Standardwerk „Das Landleben“ über die „Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform“, so der Untertitel. In einem Schlüsselsatz seiner insgesamt vielleicht etwas zu verherrlichend ausgefallenen Ausführungen bleibt das Land jedenfalls ein lebendiger Ort der Erinnerung – für die in der Stadt lebende Mehrheitsbevölkerung ebenso wie für die in vielfältigen Lebensentwürfen auf dem Land Lebenden und Arbeitenden: „Das Landleben hält die Erinnerung daran wach, dass menschliches Leben und Wirtschaften sehr viele Voraussetzungen besitzt, die angesichts der großen Erfolge von Arbeitsteilungen und Spezialisierungen (auf denen unsere modernen Städte und die Globalisierung bauen; Anmerkung) leicht aus dem Blick geraten.“ So gesehen führt das Dorf als Denkmal zurück zum Ursprung aller Zivilisation. Um zu verhindern, dass es zum Freilichtmuseum gerät, braucht es allerdings Förderung (in Form von Geldern), vor allem aber auch Wertschätzung und den permanenten Austausch mit der Stadt. Werner Bätzing weist wiederholt auf die besondere Bedeutung der Zugezogenen und Zurückgekehrten hin, vor allem, wenn diese die Bereitschaft zeigen, sich in der Gemeinschaft zu engagieren. „Für ein lebendiges Dorfleben ist es sehr wichtig, dass diese beiden Personengruppen aktiv einbezogen und nicht ausgegrenzt werden“, so Bätzing. Denn: „Wer sein ganzes Leben stets am selben Ort verbringt – was auf dem Land häufiger als in der Stadt vorkommt – ist mit allen Dingen so vertraut, dass er sich nur schwer Alternativen zur aktuellen Situation vorstellen kann.“

Hieß es früher in der Stadt „Der Verstand kommt vom Land“ – weil in Ballungsräumen die klügsten Köpfe von rundum zusammentrafen –, kommen die frischen Ideen heute von der Stadt ins Dorf. Wie die Sache ausgehen wird? Für seriöse Prognosen sind global und politisch zu viele Unbekannte mit im Spiel.

Was uns Hoffnung machen darf: In fast allen postapokalyptischen Büchern, Filmen und Serien rotten sich die verstreuten Reste der Menschheit früher oder später in dorfähnlichen Gemeinschaften zusammen. Ist die Welt, wie wir sie kannten, erst einmal untergegangen, dann passiert die Wiedergeburt der Zivilisation also im Dorf. Anders können wir uns das zumindest schwer vorstellen. Vielleicht ein schwacher Trost. ● ○