Kultur • Coreth

„Kultur ist der Schlüssel zur Menschwerdung“


Peter Coreth trug im Museum Humanum in Fratres Kultur- und Mysterienschätze zusammen, um zu ergründen, was uns Menschen ausmacht. morgen sprach mit dem Anthropologen über den Unterschied zwischen Regionalität und Provinzialität, über das Europa von morgen und den höheren Sinn, den uns Kunst ermöglicht.

Hier kommt die Welt zusammen. An einer ihrer Grenzen. Im Dorf Fratres, hart am Rande Österreichs und Tschechiens. Hier zeigt sie sich. Auszugsweise – und in Essenzen. Der Anthropologe Peter Coreth hat ihr ein offenes, ein weites Haus eingerichtet, das Museum Humanum. Nach menschheitsübergreifenden Themen geordnete Ausstellungsstücke geben hier Auskunft über: uns. Die sonderbare Spezies Mensch.

Wir sitzen hier vor einem offenen Kamin, am Feuer, wie Menschen schon vor zigtausenden Jahren am Feuer saßen. Den Kontinent, auf dem wir leben und den wir prägen, nennen wir Europa. Angesichts äußerer Bedrohungen und Krisen zieht es aktuell wieder viele von uns in ihre Höhlen zurück, in ihre Nationalstaaten. Was bewirkt eine derartige Abschottung?

Peter Coreth

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Enge. Provinzialität. Stagnation. Unsere Hoffnung kann nur sein, uns in diesem weiterhin offenen Europa eine heimatschaffende Regionalität fernab von Feindbildern zu erarbeiten, eine Regionalität, die nichts zu tun hat mit nationalen Grenzen und Chauvinismus. Regionen sind deshalb so wichtig, weil der Mensch einen überschaubaren Bezugsrahmen braucht. Und der Nationalismus hat sich dafür nicht bewährt, er brachte immer nur Krieg, Leid und Verderben. Nun aber ist er in Europa allerorts wieder Mode. Wir als Zivilgesellschaft haben also versagt. Wir hätten wachsamer sein müssen. In Krisenzeiten muss man sich nicht unbedingt zurückziehen. Man kann sich auch öffnen. Vereinzelung hilft uns ja nicht. Der Mensch glaubt, er lebt dadurch sicherer. Doch in Wirklichkeit wird er nur engherziger. Er begibt sich der Einflüsse, die ihn positiv inspirieren könnten. Und wenn sich ein Land abschottet, passiert mit ihm dasselbe: Provinzialität. Das ist ein schlimmes Übel. Es lässt uns geistig und menschlich degenerieren.

Wie kann es gelingen, die Regionen zu beleben und Europa wiederzubeleben?

Mit Mitteln der Ökonomie wird’s nicht gelingen, das sehen wir ja. Gerade die Ökonomisierung all unserer Lebensbereiche brachte ja das Geistige unter die Räder. Und an die Rettung dank Technokraten glaube ich auch nicht. Ich denke, wir müssen uns die Frage nach unserer kulturellen Identität neu stellen. Die Krise Europas ist eine Kulturkrise. Uns ist die Relevanz der Kultur als leitendes Motiv abhandengekommen. Wir müssen unsere alte Identität neu erschaffen.

Was ist die alte Identität?

Jene, die über die Nationalstaaten hinausreicht. Im Grunde sind es vier Pfeiler, die das geistige Fundament Europas bilden: Die griechisch-römische Antike, das Christentum und die jüdischen sowie die islamischen Traditionen. Alle haben ganz entscheidend zu Europa beigetragen. Wir sollten uns dieser geistigen Grundlagen unserer Kultur erinnern und daraus etwas Neues, etwas Lebendiges schaffen.

Nationalismus brachte immer nur Krieg. Nun ist er allerorts in Europa wieder Mode.

Dies sind also die Reservoirs, aus denen wir schöpfen können. Was aber sind die entscheidenden Inhalte dieser Reservoirs?

Aus dem Christentum die Liebesidee, die damals völlig neu in die Welt gebracht wurde. Aus der Antike der Humanismus, der in der Renaissance neu belebt wurde. Und die Gelehrsamkeit entnehmen wir vor allem dem Judentum, das uns auf allen Gebieten der Künste und Wissenschaft sehr weitergebracht hat. Doch ebenso den islamischen Wissenschaften und Künsten, die es bereits gab, als in Europa noch nichts Vergleichbares existierte. Das sind die Reservoirs, aus denen wir schöpfen können. Nicht zuletzt ist auch die europäische Aufklärung eine Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt. Sie ermöglicht uns einen distanzierten Blick auf die Weltbilder. So können wir unsere Imagination stärken, daraus können wir neue Kunst und Kultur schaffen. Und das ist keinesfalls ein Retroprogramm. Es geht um Neues. Und ich glaube generell, dass Kultur der Schlüssel zu unserer Menschwerdung ist. Ich glaube zutiefst an die Möglichkeit, dank Kunst zu wachsen, auch weil ich es an mir selbst erlebt habe.

Dass Kunst viel mit Transzendenz zu tun hat, mit Metaphysik, mit Erkenntnis und Anverwandlung der Welt, ist im Museum Humanum hautnah zu erleben. Wir sind hier umgeben von symbolstarken Gemälden, Archetypen, Masken, Götterdarstellungen, Fruchtbarkeitssymbolen. Was haben Sie all diese Sammlerstücke, all diese Kunstgegenstände gelehrt?

Das Schauen. Mich haben sie gelehrt, tiefer zu schauen, die Oberfläche zu verlassen. Indem man Kunstwerke betrachtet und sich darin versenkt, verwandelt man sich, nimmt man die Bedeutung und den Geist des Kunstwerks auf. Da geht’s nicht um das Besitzen. Das Besitzen ist nur eine Hilfe, weil ich etwas, das ich bei mir habe, zu jeder Tages- und Nachtzeit anschauen und befragen kann. Sammeln wäre völlig unsinnig, wären nicht diese verwandelnden Erfahrungen damit verbunden.

Sie versammeln hier viele Hundert Kunstwerke, um mittels ihnen eine neue, ergiebigere Sicht auf die Welt zu erlangen. Und um den zentralen Themen des Menschseins auf den Grund zu gehen. Nach all den Jahrzehnten Erfahrung: Was, denken Sie, eint die Menschen über alle Kulturen und Kontinente hinweg?

Die Grundfragen einen sie. Woher komme ich? Wohin gehe ich?

Und weshalb das Ganze, um Himmels willen?

Ganz genau! Und zuletzt: Wie geht’s weiter? Und weil wir Menschen das noch nie restlos zu beantworten wussten, nahmen und nehmen wir Kunst zu Hilfe. Das tun wir seit Zigtausenden von Jahren. Hier im Museum gibt es etwa Venusfiguren, Ikonen, mit denen eine Verbindung zu höheren Sphären hergestellt wurde, eine Verbindung zu Himmelskräften. Das ist angewandte Metaphysik. So hat die Kunst in unserer unendlichen Vielfalt und Fantasie neue Türen geöffnet. Und das kann sie auch heute noch.

Jedes Kunstwerk muss mich vor ein Rätsel stellen.

Uns Menschen einen also die ewigen Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum. Und uns eint, dass wir fantasiebegabte Wesen sind. Was aber trennt uns?

Kurzfristige Interessen. Und da habe ich keinen großen anthropologischen Optimismus. Zerstörung und Krieg und blinder Egoismus, das kommt aus unserer Natur.

Den ewigen Steinzeitmenschen in uns erleben wir ja gerade dieser Tage durchaus eindrucksvoll.

Oh ja! Die Herstellung von Konsens wird immer schwieriger. Bei Hausversammlungen wie auf der Weltbühne. So viel Gegeneinander. So viele kleinliche Egoismen.

Es scheint, dass Hypersensibilität und Hyperaggressivität Hand in Hand gehen.

Ja, wehleidig bis zum Gehtnichtmehr! Man hält sich für sensibel, teilt aber brutal aus. Das hat wohl miteinander zu tun. Vielleicht ist es ja ausgelöst von den multiplen Krisen, die wir nach Jahrzehnten des Wohlstands erleben.

Mit der Veranstaltungsreihe „Kulturbrücke“ haben Sie im Museum Humanum einen Ort der grenzüberschreitenden Begegnung geschaffen.

Indem wir anderen Menschen begegnen und Kunst begegnen, begegnen wir uns selbst. Zudem ist es wichtig, dass es Orte gibt, wo Menschen zusammenkommen, die den Mainstream infrage stellen. Das ist ja das Minimum. Wenn wir das nicht mehr schaffen, ist es sowieso aus.

Gibt es einen Sinn, der alle Menschen verbindet?

Das Überleben. Das ist codiert in uns. Das bedarf keines Willensaktes. Das ist uns eingeschrieben. Alles drängt ans Licht und ins Weiterleben.

Das Überleben als Lebensprinzip. Aber gibt’s darüber hinaus einen gemeinsamen Sinn? Nach all den Jahrzehnten Forschungsarbeit, können Sie da einen ausmachen?

Der letzte Sinn ist schwer zu erkennen. Es drängt uns alle nach ihm, doch eine letztgültige Antwort, was er ist, erscheint mir nicht möglich und auch gar nicht erstrebenswert. Es ist wie bei der Kunst: Wenn sie hochwertig ist, hat sie immer ein Rätselmoment. Keine einfachen Antworten, keine Moral. Jedes Kunstwerk muss mich vor ein Rätsel stellen, aus dem mir im Glücksfall eine neue Lebensrealität entgegenkommt. Kunst ist nicht Verzierung, sie ist Daseinsbewältigung.

Sie haben einmal gesagt: Dank Kunst hat der Mensch seinen Platz in der Welt gefunden. Ist es nicht auch so, dass der Mensch dank Kunst erkannt hat, dass er seinen Platz letztgültig nie finden wird, dass er immer unterwegs sein wird, immer unterwegs sein darf?

Stimmt, dank Kunst ist der Mensch zur Erkenntnis gelangt, dass er wohl niemals letzte Erkenntnis finden wird, dass es aber dennoch sinnstiftend ist, immer und immer wieder danach Ausschau zu halten.

An welcher Wegmarke des Sinns stehen Sie aktuell?

Bei mir ist es ein Glauben an Sinn, nicht ein Dafürhalten. Ich bekenne mich zu einer Sehnsucht nach einer Sphäre, die uns jetzt und hier noch nicht zugänglich ist. Es gibt Töne, die wir nicht hören, Farben, die wir nicht sehen. Viele Religionen sagen ja auch, wir sollen erst gar nicht versuchen, uns ein Bild zu machen. Die Sehnsucht nach dem Höheren, nach dem letzten Grund jedenfalls ist universell. Es ist eine Frage, die alle Kulturen beschäftigt.

Macht es denn Sinn, sich mit dem letzten Sinn zu beschäftigen?

Wenn es einen Sinn gibt, ja. Wenn es einen Sinn gibt, ist es wichtig, dass der Mensch versucht hat, sich auf die Spur zu setzen.

Die Sehnsucht nach dem Höheren ist universell.

Was bleibt am Ende übrig vom Menschen auf dieser Welt?

Die Sehnsucht nach Höherem. Ich denke, das bleibt vom Menschen. Die Sehnsucht, die er gehabt hat. ● ○