Christoph Gurk, Christina Vanek und Thomas Trenkler
Rita Newman
Christoph Gurk, Christina Vanek und Thomas Trenkler

Roundtable

"Wir waren schwarze Schafe"


Land, Kleinstadt, Metropole – wo ist die Lage günstiger für Kunst- und Kulturproduktion? Und wie reagiert das Publikum da wie dort auf neue Angebote?

Oder macht es gar keinen so großen Unterschied, ob man in Puchberg, St. Pölten oder Berlin etwas auf die Beine stellt? Christina Vanek, freie Projektkoordinatorin für zeitgenössische Kunst, und Christoph Gurk, künstlerischer Leiter des Kunst- und Kulturschwerpunktes „St. Pölten 2024“, analysieren im morgen-Roundtable Vor- und Nachteile. Zur Sprache kamen dabei auch Stalltänze, die Terra incognita St. Pölten und der Sehnsuchtsort Großstadt.

morgen: Frau Vanek, Sie wurden in Amstetten geboren, wuchsen in Euratsfeld auf. War für Sie klar, dass Sie das Mostviertel verlassen müssen?

Christina Vanek

:

Ja. Es war mir klar, dass ich mich – zumindest vorübergehend – von Euratsfeld abkapseln muss, und so studierte ich ab 2012 in Klagenfurt. Aber später, als ich mich als Projektkoordinatorin für zeitgenössische Kunst selbstständig machte, gab es zumindest kurz die Überlegung, nach Amstetten zurückzukehren. Weil sich die Kulturlandschaft zum Positiven verändert hat: Es gibt mehr Angebot – und daher mehr zu tun. Aber zunächst möchte ich mich in Wien austoben. Vielleicht kann ich später einmal meine Erfahrungen in den Bezirk Amstetten bringen?

Sie haben unter anderem in Graz für den Steirischen Herbst und in Linz für die Ars Electronica gearbeitet. Nun betreuen Sie den Kunstraum Konrad in Puchberg. Warum?

Vanek

:

Gerade in den Sommermonaten verlasse ich gerne die Stadt. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel für das Musikfestival Wellenklænge in Lunz am See gearbeitet. Dieses Jahr dachte ich mir: cool, Puchberg am Schneeberg. Und ich habe mich sofort mit Stefan Schuster verstanden, der aus Puchberg stammt, wegging und letztes Jahr den Kunstraum gründete. Wir haben eine ähnliche Vergangenheit: Wir waren so etwas wie schwarze Schafe, weil wir uns für einen Beruf im Kulturbereich entschieden haben. Das ist ja eher untypisch am Land.

Was ist das Besondere in Puchberg? Gibt es dort ein kunstaffines Publikum?

Vanek

:

Auf jeden Fall – auch unabhängig vom Kunstraum Konrad. Es gibt zum Beispiel die beliebten Kurkonzerte oder ein Festival für zeitgenössisches Theater. Und Ludwig Wittgenstein lebte ein paar Jahre in Puchberg als Volksschullehrer.

Gurk

:

Oh, wieder was gelernt!

Und Sie, Herr Gurk, kommen aus Ratingen – einer kleinen Stadt nahe dem Ruhrgebiet.

Gurk

:

Sie gehört noch zum Rheinland, hat etwa 80.000 Einwohner, ist also ein bisschen größer als St. Pölten. Und eigentlich eine Wohn- und Schlafstadt von Düsseldorf. Wenn man sich mit Kultur beschäftigen will und an der Peripherie oder in einer Kleinstadt aufwächst, werden Großstädte zu Sehnsuchtsorten. Für Menschen, die in der Metro­pole aufwachsen, ist das vorhandene Kulturangebot hingegen eine Selbstverständlichkeit. Mich jedenfalls hat es sehr geprägt, an einem mitunter muffigen Ort aufgewachsen zu sein. Die Situation bestärkt einen geradezu, eine andere Art von Leben zu suchen.

Sie haben sich daher Düsseldorf zugewandt – wegen Kraftwerk, Fehlfarben, den Toten Hosen …

Gurk

:

Ja und nein. Düsseldorf war in den frühen 1980er-Jahren, als ich das Abitur machte, ein Epizentrum von Punk, als Musikstadt fast gleichberechtigt mit Berlin und Hamburg. Das zog mich natürlich an, aber ich übersiedelte gleich nach der Schule nach Hamburg, um Germanistik und Philosophie zu studieren. Und dort bin ich richtig in die Postpunk-Kultur eingetaucht.

Sie waren Kurator und Dramaturg, zunächst bei Frank Castorf an der Volksbühne in Berlin, danach ebendort am HAU und an den Münchner Kammerspielen. Der jetzige Volkstheater-Intendant Kay Voges lockte Sie 2019 nach Wien. Warum kehren Sie der Großstadt jetzt den Rücken?

Gurk

:

Das tue ich nicht. Ich wohne in Wien, in Rudolfsheim-Fünfhaus. Als das verführerische Angebot kam, das Programm für 2024 zu organisieren, stellte ich fest, dass man sehr einfach nach St. Pölten kommt – von Meidling mit dem Railjet. Ich pendle also – wie so viele andere Kulturarbeiter. Die Stadt ist nahe an Wien herangerückt, man fährt ja nur 20 Minuten. Das führt auch dazu, dass viele von der Hauptstadt nach St. Pölten oder ins Umland übersiedeln. Daher gibt es auch so viele Immobilienprojekte. Das wird die Stadt demografisch neu strukturieren.

Frau Vanek, was war St. Pölten für Sie – aus Mostviertler Sicht? Nahmen Sie das kulturelle Angebot wahr?

Vanek

:

Wir haben uns mit der Schule die Landeshauptstadt angeschaut. Und in St. Pölten findet normalerweise das Frequency Festival statt. Aber es hat mich nicht hingezogen. Vielleicht auch deshalb, weil Krems ein derart großes Kulturangebot hat.

Ist St. Pölten überhaupt eine Kulturstadt?

Gurk

:

Da muss man nicht lange drum rumreden: St. Pölten hat unter den Landeshauptstädten das am schwächsten ausgeprägte Kulturprofil. Aber die vorhandenen Institutionen machen interessante Arbeit – das Landestheater zum Beispiel und das Festspielhaus sind eine gute Ergänzung und ein Kontrast zum Angebot in Wien.

Man muss dem Geld folgen.

Frank Castorf inszeniert jetzt auch in St. Pölten – er bringt Ende Jänner das Stück „Schwarzes Meer“ zur Uraufführung.

Gurk

:

In Berlin hat man sich gewundert: Stimmt das denn? Ich glaube, dass St. Pölten vor allem ein Kommunikations- oder Image­problem hat. Genau da will ich ansetzen. Und ja, St. Pölten ist vielen unbekannt, fast eine Terra incognita. Es geht also darum, das zu ändern.

Folgt man – egal, ob man kuratiert, performt oder inszeniert – nicht einfach dem Ruf des Geldes, egal woher dieser erschallt?

Vanek

:

Das stimmt bis zu einem gewissen Grad. Man muss dem Geld folgen, weil ja die Arbeitsverhältnisse für Kulturschaffende in Österreich immer noch sehr prekär sind – auch wenn es von sämtlichen Interessensgemeinschaften laute Rufe an die Kulturpolitik gibt, das endlich zu ändern. Meine Erfahrung ist aber, dass Künstlerinnen und Künstler die eigene Bezahlung immer hintanstellen. Die Umgebung und die Menschen sind wichtiger, das Kunstwerk selbst am wichtigsten.

Aber ohne die Angebote, die Sie, Herr Gurk, machen, kämen die Künstlerinnen und Künstler wohl kaum auf die Idee, ihre Projekte in St. Pölten zu realisieren. Auch Frank Castorf käme nicht von selbst auf den Gedanken, am Landestheater zu inszenieren.

Gurk

:

Natürlich, stimmt. Ich denke schon, dass sich die Zuständigen von meiner Berufung versprochen haben, dass ich genügend Kontakte habe, um bekannte Künstler in die Stadt zu bringen. Aber wir sind nicht die Wiener Festwochen, die mit einem Koffer Geld die bekannten Namen einfliegen. Zudem sind die finanziellen Erwägungen nur teilweise die Motivation für Künstler. Ausschlaggebend sind die Möglichkeiten, die ich bieten kann. Viele Projekte für 2024 werden ortsspezifisch sein. Natürlich suche ich mir Künstler aus, die für diese Arbeitsweise offen oder geeignet sind. Die bisherigen Reaktionen sind sehr vielversprechend. Auch deshalb, weil in St. Pölten viele Probleme sichtbar werden, die anderswo ebenso Thema sind. Auffallend ist zum Beispiel die urbane, stark von der Industrie geprägte Struktur, die aufgrund der Eingemeindungen an den Rändern zerbröselt. St. Pölten ist an der Kippe zwischen Stadt und Land. Und das lässt sich künstlerisch verhandeln – zum Beispiel von Rimini Protokoll. Die Gruppe war von meinem Vorschlag begeistert, weil Stadttheater in der Regel keine Projekte in der Landschaft, in der Peripherie machen können.

Vanek

:

Ich habe Barbara Maria Neu bei ihren „Stalltänzen“ unterstützt. Sie wuchs im Mostviertel auf einem Ziegenbauernhof auf, ist Klarinettistin und Performancekünstlerin. In diesem Szenenreigen setzt sie sich unter anderem mit der Frage auseinander, wie es Frauen am Land geht. Ihr war es daher ein großes Anliegen, dass die Uraufführung auf dem Land stattfindet.

Warum? Weil das lokale Publikum anders reagiert?

Vanek

:

Am ersten Tag kamen hauptsächlich Menschen von dort in die Aufführung, auch Landwirtinnen und Landwirte. Und am zweiten Tag hatten wir mehr Publikum, das extra angereist ist. Die Zuschauerinnen und Zuschauer waren beide Male sehr aufgeschlossen. Es gab nur positive Resonanz.

Generell: Will man vornehmlich etwas für die lokale Bevölkerung machen? Oder spekuliert man auf den Tourismus beziehungsweise das kunstaffine Publikum aus der Stadt?

Vanek

:

Beim Kunstraum Konrad ist es eine Mischung aus beidem. Vor Ort gibt es ein neugieriges Pu­blikum. Diese Menschen lassen sich abholen. Da gibt es nur vereinzelt Berührungsängste. Aber natürlich ist – zum Beispiel bei der Ausstellung von Alicja Kwade und Gregor Hildebrandt – Publikum extra angereist. Etwa aus Wien und München. Die Idee von Stefan Schuster war, eine entschleunigte Kunstrezeption zu ermöglichen. Denn in der Stadt betreibt man gerne Galerien-Hopping. Und so haben eben etliche den Besuch der Ausstellung, für den sie sich mehr Zeit genommen haben, mit einem Urlaub verbunden. Das Konzept der entschleunigten Kunstrezeption wurde dankbar angenommen. Ähnliche Erfahrungen machte auch der Tänzer, Choreograf und Performancekünstler Simon Mayer, für den ich vor Kurzem das Tour-Management und die Produktionsleitung übernommen habe. Er tourt auf der ganzen Welt, spielt aber auch immer wieder in Andorf in Oberösterreich, wo er aufgewachsen ist und einen Hof hat. Die Neugierde vor Ort ist immer da, sagt er, auch die Dankbarkeit, dass etwas stattfindet. Und wenn es zudem einen persönlichen Bezug gibt, dann braucht man gar nichts mehr tun: Das Publikum kommt! Trotzdem fällt mir aber immer wieder auf, dass die Frage, ob man Kulturveranstaltungen „für die lokale Bevölkerung“ macht, eher aufkommt, wenn man am Land veranstaltet. Im Stadt-Kontext werde ich mit dieser Frage selten bis gar nicht konfrontiert.

Wie wird das bei „St. Pölten 2024“ sein? Das Konzept für Krems ist ja ein touristisches: Man fährt in die Wachau, geht gut essen – und schaut sich auch noch eine Ausstellung an.

Gurk

:

Manöver gelungen, würde ich sagen. Im Falle von St. Pölten lässt sich das nicht so einfach beantworten. Natürlich arbeiten wir daran, dass es zu einer überregionalen Aufmerksamkeit kommt. Wir wollen daher die Menschen von Salzburg über Linz bis Wien und im angrenzenden Ausland ansprechen. Das Projekt kann aber nur gelingen, wenn man gleichzeitig auf die lokale Bevölkerung zugeht. Und vermittelt, dass sie tatsächlich gemeint, in partizipativen Projekten auch Akteur des Geschehens ist. Also: Wir müssen mit beiden Zielgruppen arbeiten.

Die Neugierde vor Ort ist immer da.

Wie soll das konkret funktionieren?

Gurk

:

Unser Festival wird etwa ein halbes Jahr dauern – wahrscheinlich von Ende April bis Mitte Oktober. Innerhalb dieses Zeitraums soll es dreimal 14 Tage lang zu einer großen Veranstaltungsdichte kommen. Diese Blöcke richten sich auch an das spezialisierte Publikum von außen, die Phasen dazwischen zielen eher auf ein lokales Publikum ab.

St. Pölten hat bei der Kulturhauptstadt-Entscheidung gegen Bad Ischl mit dem Salzkammergut verloren. Ist der Schritt, eine Region einer Stadt vorzuziehen, für Sie nachvollziehbar?

Gurk

:

Die Entscheidung war sehr knapp. Die Kulturhauptstadt dezentral in einer ganzen Region zu realisieren, wo man nicht auf eine solche kulturelle Infrastruktur wie in St. Pölten zurückgreifen kann, ist sicher eine besonders anspruchsvolle Aufgabe. Ich persönlich würde kein Kulturhauptstadtprogramm machen wollen, denn es gibt immer wahnwitzige Vorstellungen, was es alles können muss. Ich bin also froh, dass ich erst nach der gescheiterten Bewerbung von St. Pölten eingestiegen bin – und nun ein Festival für 2024 organisiere.

Ein Konkurrenzprogramm in gewisser Weise?

Gurk

:

Ich lasse mich auf keinen Wettbewerb ein. Was wir machen, ist ein Projekt mit einer ganz anderen Stoßrichtung. Von daher kann ich mir sogar vorstellen zu kooperieren.

Sie, Frau Vanek, betreuen Projekte in der Stadt wie auf dem Land. Wo ist es einfacher?

Vanek

:

Ich habe da wie dort gute wie schlechte Erfahrungen gemacht. Ein Beispiel: Behördliche Genehmigungen für Installationen im öffentlichen Raum zu bekommen, ist in der Stadt oft schwieriger. Auf dem Land hingegen, in kleinen Gemeinden, dürfte es weniger Hürden geben. Aber ich möchte niemanden verurteilen. Es gibt immer auch Gegenbeispiele.

Gurk

:

Ich kann da nur beipflichten. Bevor ich nach Wien kam, war ich fünf Jahre an den Münchner Kammerspielen. Und es war immer schwierig, behördliche Genehmigungen zu bekommen, wenn etwas außerhalb des Theaters stattfinden sollte. Ich denke, das wird in St. Pölten viel einfacher. Auch deshalb, weil es einen politischen Willen gibt, das Programm 2024 zu ermöglichen. ● ○