Haus der Geschichte
Heribert Corn
Haus der Geschichte

Haus der Geschichte

Gibt es Parallelen zu heute?


Seit 2018 arbeitet der Kulturhistoriker und Ausstellungs-macher Christian Rapp als wissenschaftlicher Leiter des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich. Fast im ganzen Haus zeigt sich seine Handschrift – historische Entwicklungen und Ereignisse so aufzu-bereiten, dass sie an die Gegenwart andocken, das beherrscht Rapp. Mit Sonderausstellungen zur Jugend, zu Spionage und zum jungen Hitler erregte das Museum Aufsehen. Im Gespräch mit morgen erzählt Rapp über Geschichtsvermittlung, die verschwiegenen Schattenseiten der Moderne, die Klarinette von Ludwig Wittgenstein und darüber, wie sich die 1922 vollzogene Trennung von Wien und Niederösterreich auswirkte.

morgen: In der Dauerausstellung des Hauses der Geschichte ist folgender Satz des Philosophen Martin Buber zu lesen: „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“ Wie entsteht ein Dialog mit dem Publikum, bei dem dieses auch gefragt ist?

Christian Rapp

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Es war bei der Planung des Hauses eine gute Entscheidung, die Vermittlungsbereiche in die Ausstellung zu integrieren – die sogenannten Foren zu bestimmten Themenbereichen sind sichtbar für alle, die durch das Museum gehen. Wir sind ein Haus, das für Schulklassen sehr attraktiv ist. Da macht Geschichte nur dann Sinn, wenn sie in einen Dialog tritt. Die Kulturvermittlung war hier im Haus immer stark, auch personell.

Die Vermittlung ist wichtig, aber was lernt das Museum selbst durch das Publikum?

Das passiert tagtäglich – sei es, dass ein Programm gut oder weniger gut funktioniert, dass bestimmte Bereiche auf mehr oder weniger Interesse stoßen. Auch durch soziale Medien erfahren wir mehr darüber. Und wir reagieren auf inhaltliche Kritik: So änderte ich zum Beispiel gleich, nachdem ich als wissenschaftlicher Leiter angefangen hatte, einige Inhalte aus dem Bereich von 1914 bis 1945. Daran hatte es Kritik durch das Publikum, auch von Fachleuten, gegeben. Mittlerweile wurde der Themenbereich komplett überarbeitet.

Es gibt eine Broschüre zur Dauerausstellung. In deren Vorwort heißt es: „Das Haus der Geschichte ist ein museum in progress, und je näher wir der Gegenwart kommen, umso wichtiger wird es sein, statt Vergangenheiten festzuschreiben, diese – auch mit dem Publikum – immer neu zu denken.“ Welche Beispiele dafür gibt es?

Die erste Ausstellung, für die ich hier verantwortlich war, hieß „Meine Jugend – Deine Jugend“. Da ließen wir Jugendliche entscheiden, welche Themen und Epochen wichtig waren. Das Projekt wurde inhaltlich von ihnen bestimmt. Wir hatten uns zwar auch mit Jugendforschung befasst, aber was uns die jungen Leute selbst erzählten, war weitaus vielschichtiger. Wir hätten ohne sie bestimmt nicht erfahren, welchen Unterschied es auch heute noch macht, ob man im Most- oder im Weinviertel aufwächst, wie sie sich in unterschiedlichen Milieus erleben.

Aktuell gibt es eine große Debatte zur gesellschaftlichen Rolle von Museen in einer sich ändernden Gesellschaft – Themen wie Klimaschutz, Diversity und Inklusion werden auch im Kulturbetrieb immer wichtiger. Wie positioniert sich, nebst Projekten wie „Meine Jugend – Deine Jugend“, das Haus der Geschichte?

Natürlich muss man Leute ins Museum bekommen, die sonst nicht kommen. Die weiße Mittelschicht reicht nicht. Schülerinnen der Mary-Ward-Schule kommen praktisch von selbst, wenn wir ein partizipatives Projekt starten, deutlich schwieriger wird es bei HTLs, noch schwerer bei Leuten mit Migrations- oder Fluchthintergrund. Da muss man als Museum selbst die Leute aktiv ansprechen. Allerdings: Abwechslung macht Sinn. Nicht jedes Projekt wird durch Partizipation besser. Nach der Ausstellung zur Jugend zeigten wir eine klassische objektorientierte Ausstellung zur Spionage – von der Römerzeit über den Kalten Krieg bis zur Gegenwart. Eines der Objekte war eine Kamera aus dem späten 19. Jahrhundert: ein kreisrundes Gerät mit einem Okular, das man an einem Schnürchen bedienen konnte. Das verwendeten die Herren von der Staatspolizei aus Preußen, um die Sozialdemokraten bei Versammlungen heimlich zu fotografieren. Damit kann man auch die Frage stellen, welche Ängste man damals vor dieser Partei hatte. Diese Möglichkeit bietet die Geschichte und ein Museum dazu: Man kann den Fokus verrücken. Das geschah auch bei der Ausstellung „Der junge Hitler“: Da war die Jugend Hitlers ein Türoffner für eine Epoche, die wir völlig verklärt und von unsauberen Elementen gereinigt haben: nämlich das Wien der Jahrhundertwende, das wir heute vor allem mit Gustav Mahler, Sigmund Freud und Gustav Klimt assoziieren. Dabei gab es ganz andere Tendenzen, etwa mit Leuten wie dem Autor Houston Stewart Chamberlain, der Hitler stark beeinflusste. Dessen Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, eine verquere Mischung aus Rassismus, Antisemitismus und Kulturgeschichte, war ein Bestseller vor dem Ersten Weltkrieg, während von Freuds „Traumdeutung“ in den ersten Jahren nach Erscheinen kaum 1.000 Stück verkauft wurden. Sogar Karl Kraus, der hochnäsig auf alle anderen herunterblickte, verehrte Chamberlain und bettelte ihn an, für die von ihm herausgegebene Fackel zu schreiben. Es gab berüchtigte Rasseforscher, die bei den Sozialdemokraten Vorträge hielten, sowie den antisemitischen und frauenhassenden Philosophen Otto Weininger; auch der Architekt und Stadtplaner Otto Wagner äußerte sich immer wieder antisemitisch. Das war ein gewisser Common Sense, der tief in das christlichsoziale und deutschnationale, aber teilweise auch in das sozialdemokratische Lager reichte. Da drängt sich die Frage auf: Gibt es Parallelen zu heute? Und meistens muss man feststellen, dass sich die Dinge eben doch nicht eins zu eins wiederholen und man auf die Unterschiede zwischen einst und heute achten muss. Der Vorteil der „Geschichte“ besteht darin, dass sie alles umfasst. Ausstellungen können viele Themen ansprechen – von der Politik bis zur Populärkultur. Es wird in diesem Zusammenhang auch wieder partizipativere Ausstellungen geben, zum Beispiel über den Urlaub seit der Nachkriegszeit.

Darüber haben so gut wie alle was zu erzählen.

Das schon, aber es geht auch um die Perspektive der Bereisten: Pensionsbetreiberinnen, Kellner, Frühstückspersonal. Es ist aktuell ziemlich oft von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede, gegen die vorzugehen auch Museen aufgerufen sind. Wie stellt sich diese dar vor einem größeren historischen Hintergrund? Erleben wir gerade etwas Neues oder gab es Polarisierungstendenzen schon immer?

Ich bin nicht sicher, ob man wirklich von einer Spaltung reden kann oder ob es sich um Interessenskonflikte handelt, wie es sie immer gab. Das Tocqueville-Paradoxon besagt Folgendes: Je mehr sich eine Gesellschaft einem – real ja nicht zu erreichenden – Gleichgewicht annähert, desto größer wird die Ungeduld gegenüber verbliebenen Ungleichheiten. Im größeren Rückblick sieht man in vielen Bereichen einen gesellschaftlichen Fortschritt – etwa wenn man sich heute Interviews aus den 1980er-Jahren zu Geschlechterverhältnissen anschaut oder wenn ein schwarzer Rapper aus Salzburg in einem kürzlich veröffentlichten Interview sagt, dass es gegenüber den 1990er-Jahren durchaus einen Rückgang des Alltagsrassismus gibt. Natürlich dürfen solche Beobachtungen nicht dazu führen, dass man die nach wie vor massiven Formen von Diskriminierung übersieht.

Ausstellungen entstehen aus dem, was in der Luft liegt.

Der Anlass für unser Special zum Haus der Geschichte ist ein Jubiläum: Seit Anfang 1922 sind Wien und Niederösterreich zwei verschiedene Bundesländer. Damals wurde erstmals das sogenannte Trennungsgesetz vollzogen. Wien profitierte davon und konnte ein beeindruckendes Wohnbauprogramm umsetzen; aber wie stellte sich das Ganze aus der Sicht von Niederösterreich dar?

Es wurde unterschätzt, was es bedeutet, wenn man die Hauptstadt verliert. Jene, die die Trennung wollten, haben sich da ein bisschen verrechnet. Den Wienern gelang es, für den Finanzausgleich 1922 eine für sie günstige Lösung zu verhandeln. Die Christlich-Sozialen in Niederösterreich dachten, die Stadt hinge am Tropf des Bauernstandes und würde sonst verhungern. Sie unterschätzten das ökonomische Potenzial Wiens. Finanziell war Niederösterreich in den ersten Jahren nach der Trennung benachteiligt: Zum Beispiel standen viele Fabriken in Niederösterreich; da die Firmen ihre Zentrale aber in Wien hatten, zahlten sie dort auch ihre Steuern. Ähnlich bei den Straßen rund um Wien. Diese musste Niederösterreich erhalten, ohne davon zu profitieren. Solche Missverhältnisse wurden später erkannt. Heute gibt es eine sogenannte Plafondregelung: Wenn Wien überproportional mehr Steuern einnimmt, dann kommen diese automatisch auch anderen Bundesländern zugute. Es gab übrigens in Niederösterreich nach der Trennung ebenfalls beachtliche soziale Fürsorgemaßnahmen und kommunale Wohnbauprojekte, etwa in Wiener Neustadt oder in St. Pölten. Teilweise orientierten sich diese auch stilistisch am Roten Wien. Ebenso gelang es nach der Trennung, die Produktivität der Landwirtschaft deutlich zu erhöhen – das war wichtig für Wien, aber auch für die Wirtschaft in Niederösterreich, wo jeder zweite Arbeitsplatz von Land- und Forstwirtschaft abhing.

Das Haus der Geschichte kuratierte zum Jubiläum die Wanderausstellung „Niederösterreich. 100 Jahre, Orte, Ereignisse“. Jedem Jahr wurde ein Ereignis zugeordnet; Fotos und Texte dazu präsentiert man nun auf großen transportablen Landkarten in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden. Darin geht es um die Arbeitslosen von Marienthal ebenso wie um den Widerstandskämpfer Johann Ebner und die Gründung der Donau-Universität Krems. Wie kam diese Auswahl zustande?

Wir wollten weg von der Fixierung auf bestimmte Orte – da gab es auch in Niederösterreich solche, die zeitgeschichtlich „heißer“ waren. Die Ausstellung soll Besucherinnen und Besucher einladen zu erkunden, was von historischen Ereignissen in ihrer Umgebung, ihrem Ort noch erkennbar ist, und dabei vielleicht eine Gedenkstätte oder das lokale Museum neu zu entdecken. Es gibt bei so einer Auswahl Jahre wie 1945, wo man Hunderte Orte und Ereignisse fände; bei anderen mussten wir wirklich suchen. Die ersten 25 Jahre des Jahrhunderts sind voller Katastrophen, Verwerfungen und Umstürze, die nächsten 75 Jahre bestehen aus einer relativ friedlichen Entwicklung mit wenigen Höhe- oder Tiefpunkten – einem Wort von Montesquieu entsprechend: Glücklich ist das Volk, dessen Annalen langweilig sind.

Im Haus selbst gibt es den Bereich „Niederösterreich im Wandel“. Da könnte man den Eindruck gewinnen, Geschichte würde ausschließlich von Männern und hauptsächlich von Politikern gemacht. Entspricht das noch einer zeitgemäßen Darstellung?

Das wird sich ändern. Die Kritik an der inhaltlichen Zusammenstellung nehme ich gerne auf. Der Bereich wird in den nächsten Jahren komplett erneuert. Dabei können wir wieder die Chance nützen, Menschen mit ihren Erinnerungen in das Projekt einzubinden. Das wird der Darstellung eine andere Richtung geben, weil sie Geschlechter- und Migrationsgeschichte viel stärker berücksichtigt.

Das Haus der Geschichte arbeitet mit den Sammlungen des Landes Niederösterreich. Welche Rolle spielen diese in der Themensetzung?

Wir beziehen sie bei jedem Projekt natürlich ein, aber üblicherweise entstehen Ausstellungen eher aus dem heraus, was gerade in der Luft liegt oder wo es Anknüpfungspunkte gibt. Wir planen zum Beispiel für 2023 eine Schau mit dem Arbeitstitel „Aufsässiges Land“ zu Aufständen und Protesten im ländlichen Raum. Das hatte ich schon länger im Hinterkopf. Dann erzählte mir der Schriftsteller Martin Prinz, dass er an einem Roman über einen Arbeiterstreik in Traisen schreibt, weshalb wir bei diesem Projekt mit ihm zusammenarbeiten werden, ebenso wie mit den Kolleginnen und Kollegen vom Institut für Geschichte des ländlichen Raums. Das Programm entsteht also nicht unbedingt aus den Sammlungen heraus, doch wir greifen gern zu: etwa wenn es um Alltags- und Kulturgeschichte geht, da gibt es wirklich tolle Sachen. In der Online-Datenbank kann jeder gut recherchieren. Ich wusste bis vor Kurzem gar nicht, dass das Land eine Klarinette von Ludwig Wittgenstein besitzt. Sie erzählt viel über seine Zeit als Lehrer im südlichen Niederösterreich und seine Vorstellungen von Pädagogik, ein tolles Exponat. Jetzt kommt die Klarinette zu uns und wird in der überarbeiteten Dauerausstellung zu sehen sein. ● ○