Ulrike Schartner und Alexander Hagner, Architekturbüro Gaupenraub +/-
Monika Saulich
Ulrike Schartner und Alexander Hagner, Architekturbüro Gaupenraub +/-

Vinzirast am Land

Eine Haube für Obdachlose


Wo früher ein Tennisplatz war, gackern heute Hühner: In Mayerling baut das Architekturbüro Gaupenraub +/- ein einstiges Luxusrestaurant mit Hotel zu einem Ort für Nichtsesshafte um. Das Sozialunternehmen Vinzirast wagt damit den Sprung von der Großstadt aufs Land. Bei der Arbeit am Feld sollen Menschen, die aus dem Tritt geraten sind, wieder Boden unter den Füßen bekommen.

Kann etwas, das in der Stadt gut läuft, ebenso am Land funktionieren? Das ist keineswegs ausgemachte Sache. Schließlich ticken da wie dort die Uhren anders. Doch wieso sollte man es nicht wagen?

In der Wiener Vinzenzgemeinschaft St. Stephan kursierte schon länger die Idee, einen Ableger im ländlichen Raum zu eröffnen. In Wien war der Verein, 2003 von Cecily Corti gegründet, bereits durchaus erfolgreich. Das bekannteste Projekt, die Vinzirast-mittendrin, über die sogar internationale Medien berichteten, entstand aus den Uni-Protesten 2009: Heute wohnen Obdachlose und Studierende unter einem Dach, in gemischten WGs – ein zunächst scheinbar einmalig weltfremdes Projekt. Ein Student hatte ein renovierungsbedürftiges Biedermeierhaus an der Ecke Währingerstraße/Lackiererstraße entdeckt, das der Unternehmer Hans Peter Haselsteiner für die Vinzirast kaufte. Alexander Hagner und Ulrike Schartner von Gaupenraub +/- bauten es zu einer sozialen Interaktionsplattform erster Güte aus. Das Eckhaus in Uninähe lockt eine Randgruppe aus den Schattenzonen der Stadt mitten ins Zentrum. Am Bau beteiligten sich Professionistinnen und Professionisten, Ehrenamtliche und Obdachlose. Hagner forderte seine Rolle als Vor- und Sozialarbeiter, Baustellenkoordinator und Architekt in Personalunion bis an die Bruchgrenze, wie er morgen erzählt. Aus dem verwaisten Kinderwagengeschäft im Erdgeschoß wurde das Lokal mittendrin, darüber leben in zehn gemischten WGs insgesamt 26 Obdachlose und Studierende. Das ausgebaute Dachgeschoß wird gern für Veranstaltungen gebucht, die Architektur oft publiziert und mehrfach ausgezeichnet.

Moralinsäurefrei

Und nun also das Land. Die Idee kam aus der Überzeugung, dass die Arbeit mit Grund und Boden erdet. Der Umgang mit Pflanzen und Tieren tut gut, er lehrt Verantwortungsbewusstsein unmittelbar und moralinsäurefrei: Was man nicht gießt, vertrocknet. Viele Obdachlose kommen vom Land, suchen die Anonymität der Stadt und fühlen sich dann doppelt entwurzelt.

Schon die ersten Versuche, eine Vinzirast am Land zu eröffnen, führten in den Wienerwald. In Maria Anzbach stand ein Hof in Einzellage zum Verkauf, die 3.000-Seelen-Gemeinde hatte bereits etwa 150 großteils unbetreute Geflüchtete aufgenommen. Der mögliche Zuzug der Vinzirast verstärkte den Eindruck, Randgruppen aus der Stadt würden aufs Land abgeschoben. Trotzdem war der Kaufvertrag schon vorbereitet. Doch dann beschloss ein Bauer aus dem Ort, den Hof weiterzuführen. Da war bereits ein Glashaus für die Vinzirast aus St. Pölten nach Maria Anzbach transportiert worden. In Ermangelung einer neuen Heimstatt blieb es vorerst dort.

Abhilfe kam von unerwarteter Seite. 2016 meldete das einstige Haubenlokal und Seminarhotel von Heinz Hanner in Mayerling Konkurs an. Hans Peter Haselsteiners Privatstiftung ZMI GmbH kaufte die Immobilie und übergab sie der Vinzirast zur Nutzung. Sofort fuhren Gaupenraub +/- und ein Teil des Vinzirast-Vorstands nach Mayerling. „Das verlassene Hotel deprimierte uns. Auf der Bettwäsche waren noch Fliegen“, erinnert sich Alexander Hagner. „Wir begannen im Keller und durchschritten viele Zeitepochen“, sagt Ulrike Schartner. „Die erste war der Marienhof, ein bescheidenes Ausflugslokal aus den 1960er-Jahren, das schon Hanners Eltern geführt hatten, dann wurde in den 1990ern erstmals groß erweitert und zu Beginn der 2000er noch einmal.“ Der „Hanner“, 2002 von Planet architects geplant, galt als angesagte Adresse. Alle, die wichtig waren oder sich dafür hielten, pilgerten zum Haubenkoch in den Wienerwald.

3.500 Quadratmeter Nutzfläche und 27.000 Quadratmeter Grund zählt das verlassene Gebäudekonglomerat. Es erzählt von überhitztem Wachstum, überstürztem Aufbruch, Sein und Schein. Dunkle Gänge, leere Bars und Foyers, Gipskartondecken, Natursteinimitate, maßgetischlerte Bettpodeste, teils Laminat, teils Echtholzböden und eine überraschende Vielfalt an Badezimmern im einstigen Viersternhotel – die Delegation der Vinzirast verließ das Anwesen verzagt. „Wir fuhren weg und hatten Bauchweh“, erzählt Schartner. Gaupenraub +/– überlegten ein Szenario für das unübersichtliche Volumen. „Die 3.500 Quadratmeter Nutzfläche haben uns sehr beeindruckt. Irgendwann begannen wir, die Bedrohung als Chance zu sehen“, sagt Hagner. „Jetzt bauen wir noch ein Glashaus auf 700 Quadratmetern dazu sowie 90 Quadratmeter Stall – und 150 Quadratmeter bebauen wir mit Volieren.“ Im Juni 2022 wolle man aufsperren, sagt Veronika Kerres, die Geschäftsführerin der Vinzirast am Land.

Wir bauen im und mit dem Bestand. Wie Scouts erschnüffeln wir die Qualität.

Chemie ist tabu

Dennis Reitinger wohnt schon zwei Jahre auf der Baustelle. Er hat an der Universität für Bodenkultur studiert, ist ein Experte der Permakultur und das Mastermind hinter der Landwirtschaft der Vinzirast in Mayerling. „Permakultur schafft einen geschlossenen Kreislauf. Es bedeutet, dass ich aus allem das Beste mache, permanent etwas wächst und wir nichts zukaufen müssen – außer Samen.“ Der Stall, in dem sich die Hühner nun sehr wohl fühlen, ist ein Geschenk. Er steht dort, wo früher der Tennisplatz war und kommt aus dem Kamptal. Thomas Radatz und Josef Kleinrad, zwei Lehrer der HTL Mödling, bauten ihn mit einem engagierten Team in sechs Stunden ab und dann in Mayerling fünf Monate lang wieder auf. Und zwar so, dass die südorientierte Dachfläche möglichst viel Solarenergie generiert. Die Samen kommen vom Verein Arche Noah, der sich für bedrohte Kulturpflanzen einsetzt; und als Dünger dient der Mist der Hühner. Sie fressen, wie die Kamerunschafe, das Gemüse, das nicht verkauft wird.

Chemie ist tabu, die Pflanzpläne sind kompliziert. Reitinger setzt auf eine arbeitsintensive Landwirtschaft. „Wir machen alles mit der Hand“. Bis zu 95 Prozent des Gemüses – Salat, Radieschen, Kohlrabi, Mangold – werden im Glashaus vorgezogen. Das beschäftigt viele. Hier geht es nicht um die Effizienz des Einzelnen, sondern darum, die Möglichkeiten für alle zu maximieren. Das betrifft sowohl die Tätigkeiten als auch den Umgang mit Dingen.

Das Glashaus, das in Maria Anzbach demontiert wurde, steht nun in Mayerling. „Menschen aus der Vinzirast bauten es auseinander und verluden es, ein ehrenamtlicher Transport brachte es nach Mayerling“, erzählt Hagner. Dann kam die böse Überraschung: Die Beschriftungen waren vergilbt, die Bestandteile des Glashauses lagen unsortiert am Parkplatz. Die zurate gezogene Firma Franz Hermann Glashausbau wusste auch nicht weiter, hatte aber eine heiße Spur: Ehemalige Mitarbeiter, die Brüder Winfried und Karl Pfeffer – einer etwas unter, der andere etwas über 80 Jahre alt, beide längst in Pension – erkannten das Glashaus wieder: Sie hatten es vor Jahrzehnten aufgebaut. „Als sie begannen, die Teile zu sortieren, hatten wir das Gefühl, sie gehen ganz in ihrer Arbeit auf“, sagt Hagner. „Alles hing an ihrem Wissen.“ Nun steht das Glashaus im Rasen vor dem einstigen Haubenlokal. Hagner: „Wir arbeiten linksrum: Der Bestand war für die Randgruppe der sehr Wohlhabenden gemacht. Nun adaptieren wir ihn für die diametral entgegengesetzte Randgruppe – jene Menschen, die nichts haben.“

Seit fünf Monaten bin ich fast ständig hier.

Anknüpfungspunkte

Immer mehr Synergien ergaben sich. Ein Pflegeheim im nahen Alland musste seine Wäsche immer zu einer Wäscherei bringen – demnächst kann die Vinzirast aushelfen. „Es gibt hier viele Anknüpfungspunkte an die Gesellschaft“, so Gaupen­raub +/-. Auch das Stift Heiligenkreuz meldete Bedarf an: Es hat zu wenig Betten für die Pilgerinnen und Pilger auf der Via Sacra. Mayerling liegt genau an der Route. Im ehemaligen Seminarhotel gibt es 77 Betten. „Einige Zimmer sind gerade 12 Quadratmeter groß, aber die Suiten bringen es auf 30“, sagt Ulrike Schartner. „Wir bauen im und mit dem Bestand. Wie Scouts erschnüffeln wir die Qualität.“

Die unterschiedlichen Raumgrößen ermöglichen es, viele Besucherschichten anzusprechen. 30 ehemals Obdachlose sollen hier ständig wohnen, Familien mit Kindern günstig am Land urlauben, Pilger übernachten können. In Hanners einstigem Privatloft soll ein Schlafsaal mit etwa 20 Betten entstehen. Schartner: „Wir möchten, dass jede Person, die hier herkommt, etwas für sich findet.“

Küchen-Rolls-Royce

Die Gastroküche ist der Raum mit der schönsten Aussicht, durch ein wandfüllendes Panoramaglas sieht man hier ins Grüne. Küchengeräte, Geschirr, der Motor aus der Geschirrspülmaschine: Alles, was sich mitnehmen lässt, fehlt. Der festgeschraubte Rest dagegen blieb: Arbeitsflächen aus Nirosta, Dunstabzugshauben, ein Herdblock, auf dessen weinrotem Korpus „Hanner“ steht. Die Räumlichkeiten sind gigantisch. „Das ist ein Rolls-Royce unter den Küchen“, sagt Ulrike Schartner. Für Koch Sahab Jahan­bekloo aka Shabi, der auch die Vinzirast-mittendrin in Wien betreibt, ist sie ein Segen. Oft wird seine inspirierte Fusionsküche zwischen Orient und Okzident für Caterings gebucht. In Wien stehen ihm dafür gerade sechs Quadratmeter Küche zur Verfügung. Daher möchte er das Catering nun nach Mayerling verlegen – mit Obst und Gemüse aus eigenem Anbau. In der Küche sollen auch Apfelsaft, Tees, Chutneys, Marmeladen, fermentiertes Gemüse, Essig, Brot, Nudeln und mehr hergestellt werden – Waren, die man im Hofladen in Mayerling und in der Vinzirast-mittendrin kaufen können wird. Das schafft Beschäftigung, ebenso wie die Holz- und Textilwerkstatt, die hier im ehemaligen Restaurant eingerichtet werden soll.

Mondäne Vergangenheit

Vali Khederli, ein Bewohner der Vinzirast-mittendrin, verbringt immer mehr Zeit in Mayerling. „Seit etwa fünf Monaten bin ich fast ständig hier. Ich fahre nur noch an den Wochenenden nach Wien.“ Khederli ist Syrer und wartet seit sechs Jahren auf einen positiven Asylbescheid. Über die Vinzirast-Notschlafstelle kam er zur Vinzirast-mittendrin, in Mayerling ist für ihn viel zu tun. „Ich habe Beete hergerichtet, Pflanzen eingesetzt, Unkraut gejätet, Gurken, Melanzani, Kohlrabi und Kürbisse geerntet. Für meine persönliche Entwicklung ist die Natur sehr gut.“ Er findet es schön, Bäume zu pflanzen und zu sehen, wie sie wachsen. Seine Freundin Ina Vilkova ist auch oft da. Die gebürtige Russin spielte in einer Integrationsgruppe Theater. Dort lernte sie Omar kennen, einen Bewohner der Vinzirast-mittendrin. „Ich war oft zu Besuch und sofort verliebt in dieses Haus. Die Gemeinschaftszimmer waren so schön, ich dachte, es wäre cool, wenn ich da einziehen könnte.“ Sie bewarb sich und wurde aufgenommen. Seit März war sie auch oft in Mayerling, half beim Abriss im Haus und am Feld.

Ludwig Köck, der Bürgermeister von Alland, ist froh, dass es für das Hanner’sche Anwesen in der Katastralgemeinde Mayerling wieder eine Perspektive gibt. Gaupenraub+/- haben aus ihren Erfahrungen mit Sozialprojekten gelernt: Immer wieder laden sie Interessierte, Förderer, Unterstützerinnen, Nachbarn und Anrainerinnen ein, um Berührungsängste abzubauen und Begeisterung zu wecken.

Erst im September schmiss man ein großes Herbstfest mit Flohmarkt und Hühnertaufe. Kabarettist Gernot Rudle moderierte launig, an die 20 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schnippelten auf den Nirostaflächen des geschichtsträchtigen Küchenprovisoriums Gemüse, kochten Suppe aus Kürbis vom eigenen Feld, schenkten Kaffee und Wein aus. Sie trugen T-Shirts mit der Aufschrift: „Wir alle gehören zusammen. Vinzirast. Platz für Menschlichkeit.“ Behutsam lotsten sie die Gäste über einen Schleichweg durch die Baustelle zu den Toiletten im Untergeschoß: schwarze Türen, schwarze Fliesen, schwarze Waschtische, weiße, runde Waschbecken und große Spiegel. Da war sie wieder, die mondäne Vergangenheit mit ihrem Seitenblicke-Glamour. Und die Zu-kunft: Die entsteht gerade. ● ○