Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser!


Wo beginnt das eine, wo das andere?

Im Frühling 2018 tobte im deutschen Feuilleton ein Streit. Man kennt heftige mediale Debatten von Themen wie Feminismus, Klimakrise oder vom Umgang mit kolonialem Raubgut. Doch diesmal drehte sich die Diskussion um ein – zumindest vordergründig – weitaus weniger aufgeladenes Thema: nämlich die Frage, ob ein Leben am Land dem in der Großstadt vorzuziehen sei. Es begann mit einem Essay der Schriftstellerin und einstigen Viva-Moderatorin Charlotte Roche, Galionsfigur einer ganzen Generation, die in der Süddeutschen Zeitung forderte: „Verlasst die Städte!“ Burnout, Kriminalität, Drogensucht und Krankheiten seien dem engen Zusammenleben in der Großstadt geschuldet, so suggerierte Roche. Erzürnte Repliken ließen nicht lange auf sich warten. Der Sozialwissenschaftler Houssam Hamade antwortete in der TAZ: „Es stimmt: Wir brauchen den Rückzug als Ausgleich. Abseits dessen ist die Stadt der Ort, in den Leute ziehen, die etwas verändern wollen.“ Eine Neuauflage dieser Diskussion erlebten wir kürzlich in Österreich anlässlich des Gesetzesentwurfs zur Steuerreform, die einzig für Wienerinnen und Wiener die niedrigste Klimabonus-Stufe vorsieht. Dementsprechend warf man einander wechselseitig vor, entweder jeden Meter mit dem Auto zu fahren oder aber in einer weltfremden Bobo-­Blase zu leben.

All das führt natürlich genau nirgendwohin. Denn die Realität ist komplizierter, und die Frontstellungen erscheinen bei näherem Hinsehen doch eher konstruiert – schließlich bewegen sich viele Menschen, besonders in Niederösterreich, zwischen Stadt und Land. Wo beginnt das eine, wo das andere? Wie können die beiden voneinander lernen? Und was bedeutet das für den Kulturbetrieb? Fragen wie diesen gingen die Autorinnen und Autoren dieses Heftes nach.

Den Anlass für unseren Themenschwerpunkt bietet das Trennungsgesetz, das vor 100 Jahren, am 1. Jänner 1922, in Kraft trat. Es schied die Bundesländer Wien und Niederösterreich voneinander – ein Jubiläum, das wir in unserem Special zum Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich beleuchten.

Ich persönlich wünsche mir, wie Architekt Roland Gruber, „Krapfen mit guter Fülle“ (siehe Standpunkte Seite 44) – und Ihnen viel Freude beim Lesen dieses Hefts. ● ○

Herzlichst

Ihre Nina Schedlmayer