Als ich Walter Fantl im Oktober 2001 kennenlernte, machte er auf mich den Eindruck eines fröhlichen, gelassenen Menschen. Er war damals siebenundsiebzig, ich wusste kaum etwas von ihm. Als „Überlebenden des Holocaust“ konnte ich ihn mir anfangs gar nicht vorstellen, eher als Emigranten in England oder Palästina, der irgendwann, aus Heimatliebe, wieder zurückgekehrt ist. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass er zu der kleinen Gruppe der noch Lebenden gehörte, die damals „im Lager waren“, ja, dass er einer von denen war, die in Auschwitz-Birkenau über die „Rampe“ gingen und deren Leben genauso gut an diesem Ort, in diesem Augenblick hätte enden können. „Dass ich überlebt habe“, sagte Walter oft, „ist nichts als Zufall gewesen.“
Fantl
Der Gürtel, bis zuletzt
Der Holocaust-Überlebende Walter Fantl vermachte seinen Nachlass den Landessammlungen Niederösterreich. Unser Autor schrieb eine Biografie über ihn. Für morgen erinnert er sich an den 2019 verstorbenen gebürtigen Bischofstettner – und an dessen „Lebensobjekt“.
Bürokratische Hindernisse
Schon bei unserer ersten Begegnung war mir klar, dass über Walter Fantls Geschichte ein Buch geschrieben werden müsse. Das wünschte er sich von mir, das versprach ich ihm. Als ich ihn und seine Frau erstmals in Wien besuchte, hatte er den Wohnzimmertisch mit alten Fotos, Briefen, Reisepässen, Gettogeld aus Theresienstadt und einer Vielzahl anderer Dokumente ausgelegt, die die Holocaust-Geschichte seiner Familie erzählten. 1938 hatte sich ihre kleine beschauliche Welt im niederösterreichischen Bischofstetten von einem Tag auf den anderen verändert, immer mehr verloren die Fantls ihre Lebensgrundlage, schließlich wurde ihnen Haus und Geschäft weggenommen und sie mussten nach Wien übersiedeln. Zwei Jahre lang bemühte sich Walters Vater vergeblich, die Flucht nach Amerika zu organisieren. Bürokratische Hindernisse verzögerten die Ausreise, am Ende fehlten auch die finanziellen Mittel. Stattdessen ging es am 1. Oktober 1942 ins Getto Theresienstadt, die Durchzugsstation auf dem Weg in die Vernichtung. Zwei Jahre später, am 28. September 1944, saßen Walter und sein Vater im Zug nach Auschwitz, es war der erste der sogenannten „Liquidationstransporte“. Die Situation, eingeschlossen im Waggon, erzählte Walter oft, war ein Schock. Davon träumte er sein weiteres Leben immer wieder: die Enge, die Dunkelheit, das bedrückende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Herzrasen, Schweißausbrüche, Angst. Das wurde er nie mehr los. „Man überlebt nicht alles, was man überlebt“, schrieb die Schriftstellerin Ilse Aichinger einmal.
Im Oktober 2002 starb Walter Fantls Frau, und nun hatte er niemanden mehr an seiner Seite, der ihn aus den nächtlichen Albträumen weckte. Ihr Tod war die zweite Katastrophe in seinem Leben. An dem geplanten Buch zu arbeiten, war nun unmöglich. „Ich kann nicht“, sagte er. Erst zehn Jahre später war er dazu bereit. Zum ersten Mal sah ich damals die zweieinhalb Stunden dauernde Videoaufnahme der Shoah-Foundation aus dem Jahr 1997, in der Walter von Auschwitz erzählte. Zum ersten Mal zeigte er mir auch jenen breiten Ledergürtel, den er sich als 16-Jähriger in Wien besorgt hatte, als er in der technischen Abteilung der Kultusgemeinde zu arbeiten begann. Diesen Gürtel trug er auch in Theresienstadt, und er hatte ihn umgeschnallt, als er nach Auschwitz-Birkenau kam. Damals wurde ihm und den anderen Männern gesagt, es ginge zu einem Arbeitseinsatz nach Deutschland. Der Gürtel war das Einzige, was Walter nach der „Selektion“ behalten durfte. Als er Tage später in das Außenlager Gleiwitz I überstellt wurde, begann er sich an diesen Gürtel zu klammern, er wurde für ihn zum Überlebenssymbol. Solange er den Gürtel habe, sagte er sich, so lange werde er am Leben bleiben.
Ein Stück Leder
Bei den Friseuren im Lager war der Gürtel begehrt, sie mussten ihre Rasiermesser täglich an einem Stück Leder schärfen, und Leder war Mangelware. Immer wieder hatten sie Walter mehrere Brotrationen im Tausch gegen den Gürtel angeboten. Jeder Häftling wäre vermutlich sofort darauf eingegangen, um ein wenig den unsäglichen Hunger zu stillen. Aber nicht Walter. Die irrationale Angst, mit dem Gürtel sein Leben zu verlieren, war stärker. Am Ende wog er kaum 38 Kilo und war das, was man im Lagerjargon einen „Muselmann“ nannte. Den „Todesmarsch“ hatte er nur um ein Haar überlebt.
Als ich den Gürtel erstmals in der Hand hielt, konnte ich noch kaum begreifen, wie viel ihm dieses Stück Leder tatsächlich bedeutet hat. Kein Objekt vermag anschaulicher Walters Geschichte zu erzählen. Ursprünglich hatte der Gürtel fünf Löcher – so hatte ihn Walter bis 1942 in Wien getragen. Später wurden drei weitere Löcher in ihn gestanzt – das waren die zwei Jahre Theresienstadt. Dann folgten noch einmal, in unregelmäßigen Abständen, sechs Löcher – das waren die drei Monate im Lager Gleiwitz I.
Welche magische Kraft der Gürtel tatsächlich für Walter hatte, das wurde mir erst am Ende seines Lebens so richtig bewusst, als ihm stückweise die Gegenwart entglitt. Er vergaß plötzlich, wo er den Gürtel normalerweise aufbewahrte, verzweifelt und panisch begann er überall nach ihm zu suchen. Die Angst aus dem Lager war wieder da und plagte ihn auch noch ganz zuletzt. Auch die Vorstellung, dass man den Gürtel, wie er das immer wollte, eines Tages in einer Museumsvitrine sehen würde, beunruhigte ihn. „Schau“, sagte er noch wenige Monate vor seinem Tod im Oktober 2019, „ich weiß ja, dass es verrückt ist, aber ich glaube halt immer noch, dass ich mein Leben verliere, wenn ich den Gürtel nicht mehr habe.“
Noch einmal kam er für Filmaufnahmen nach Bischofstetten und stand vor seinem Elternhaus. In St. Pölten besuchte er die Synagoge, wo er 1937 seine Bar-Mizwa gefeiert hatte. Und in Wien begleitete ich ihn mit dem Filmteam an jenen Ort, von wo er und seine Familie nach Theresienstadt deportiert wurden. Noch einmal war das Vergangene ganz nah – und natürlich sein Gürtel, den er in die Kamera hielt, von dem er überzeugt war, dass er ihm das Leben gerettet hatte.
Am 28. Jänner 1945 – er war damals noch nicht ganz 21 – wurde Walter Fantl im KZ Blechhammer nahe der Oder von der Roten Armee befreit. Er hatte als Einziger seiner Familie überlebt. ● ○