Kolumne

An einem anderen Ort


Hätte ich an einem anderen Ort die sein können, die ich nicht war, oder bliebe ich die, die ich schon immer bin? Je älter ich werde, umso mehr mache ich mir Gedanken darüber, was wäre, wenn ich in der damaligen Tschechoslowakei geblieben wäre. Lassen sich zwei Lebensentwürfe miteinander vergleichen? Hätte ich mein Leben mit dem desselben Menschen verknüpft, dieselben Kinder bekommen, aber vor allem, hätte ich den Mut gehabt, in meiner Muttersprache Schriftstellerin zu werden?

Die Sprache, den größten Stolperstein meiner Migration, zu meinem Beruf zu machen, war nicht geplant. Wie denn auch? Ich kam zu Euch ohne Worte. Drei Fremdsprachen im Gepäck, die Sprache des neuen Landes außer Reichweite. Ich hörte dem Geräusch des Dialekts zu, zweifelte an mir selbst, war zunächst nicht fähig, mich in dem Nest der Alteingesessenen zurechtzufinden. Ob es mir in Österreich gefalle, war am Anfang meine kleinste Sorge. Vielmehr plagte mich das Gefühl der Fremde, des Entwurzeltseins, des Verlusts der Familie, der Freunde, des Ansehens.

Ich war physisch da, aber der Kopf und das Herz waren woanders. Und ich verstand so gut wie nichts. Nach ein paar Tagen, als sich die erste Aufregung gelegt hatte, hörte ich aus dem Gemisch der unverständlichen Worte hin und wieder etwas, das mich an die Mundart meiner Babka (so heißt in der Slowakei die Oma) erinnerte. Babka, die in einem Dorf unweit von Bratislava lebte, sprach einen starken Dialekt, den ich nicht nur verstand, sondern bei ihr auch sprach. Aber nur dort. In der Großstadt, wo ich damals mit meinen Eltern und Geschwistern lebte, war ein Dialekt verpönt. So sprachen nur dumme und ungebildete Menschen, meinten die Lehrer, und wer wollte schon als dumm und ungebildet gelten?

Wenn Babka bügeln ging, sagte sie, sie gehe piglovať. Vorher machte sie das piglajs (Bügeleisen) heiß und ošpricovala (bespritzte, besprenkelte) die Hemden und Laken, damit sie feucht und leichter zu glätten waren. Die zusammengelegte Wäsche legte sie in die kašna (den Kasten), die Vorräte bewahrte sie in der komora (Vorratskammer) auf, das Wasser vom Brunnen holte sie im kýbel (Kübel) ins Haus, und in ihrer fertucha (Vortuch, Schürze) trug sie stets ein sauberes šnuptychel (Schnupftuch, Taschentuch).

„Šmakuje?“ (Schmeckt’s?), fragte sie beim Essen. Fast jeden Tag kochte sie auf dem alten šporhelt (Sparherd) ihre špeciality – den elektrischen Herd benutzte sie nur zum Aufwärmen der Speisen –, legte ein paar Holzscheite ein, zündete papír (Papier) an, und los ging’s. Krumple (Kartoffeln), nokle, fašírky (faschierte Laibchen), grísšmarn, granadír marš, palacinky, am Sonntag in prézle panírované šnicle (in Bröseln panierte Schnitzel) und als Nachspeise im dynst (Dunst) gedämpfte buchty (Buchteln).

„Kind, hast du auch warme fusakle (Socken) an?“, rief sie mir jedes Mal nach, bevor ich nach draußen rodeln ging. Sie richtovala (richtete) meine Mütze und den kragel (Kragen), stülpte mir die kapucňa (Kapuze) über den Kopf, band den Schal fester um meinen Hals und sagte: „Na lauf schon, an­cvajdraj (eins, zwei, drei). Und pass auf dich auf und brich dir die haxne (Beine) nicht.“ Wenn ich trotzdem mit einer Beule auf dem Kopf nach Hause kam, tröstete sie mich unnachahmlich mit nekrenkuj sa (kränke dich nicht) oder ermahnte mich, wenn ich zu sehr lamentierte, nicht háklivá (heikel) zu sein, weil ich schon ein großes Mädchen sei.

Auf dem gánek (Gang) kehrte sie den Schnee von meinen Schuhen und meiner Hose mit einem portviš (Bartwisch) herunter, half mir beim Ausziehen und schickte mich in die cimra (Zimmer). Aus dem kredenc (Kredenz) holte sie zwei šálky (Schalen) und schenkte uns beiden heißen Tee ein. Mein Dedko (der Opa) ging manchmal am Abend Karten spielen in den šenk (die Schenke, das Wirtshaus). Wenn er zurückkam, holte er aus seinem alten Geigenkasten die Geige heraus und fidlikoval (fidelte) darauf die schönsten Kinder- und Volkslieder, die mir bis heute in warmer Erinnerung geblieben sind. Babka und ich sangen dabei, tanzten und drehten uns im Kreis.

Und wenn die Sonne hinter die sanften Ebenen des Dorfes sank, legten auch wir uns zufrieden schlafen, denn wir wussten, dass wir im Winter, sollte es notwendig sein, nicht nach draußen aufs hajzel (Häusel, WC) im Hinterhof gehen müssen. Unter dem Bett stand ein šerblík (Scherben, Nachttopf), der uns die Plage ersparte. Das war viel komótne (kommoder, bequemer), aber vor allem wärmer.

In der Großstadt, wo ich aufwuchs, sprach ich Hochslowakisch, weil es damals so richtig war, aber mein Herz gehörte dem Dorf meiner Großeltern. Und als mich das Schicksal nach Österreich verwehte, kam ich nicht aus dem Staunen heraus: Um zu überleben, musste ich gleichzeitig zwei neue Sprachen lernen, Hochdeutsch und den niederösterreichischen Dialekt. Aber so sehr ich mich auch im Deutschkurs bemühte und die fremden Vokabeln büffelte, der Dialekt floss unberührt an mir vorbei. Ich verstand nicht, warum aus einem A plötzlich ein O wird, aus einem Ü ein I und warum die Endungen so oft in den Tiefen der Kehlen verschwinden. Dagegen überraschten mich Ausdrücke, die aus dem Tschechischen oder Slowakischen stammen. „Pekne pomaly“ oder „auf Lepschi gehen“ versteht in Österreich fast jedes Kind. Auch mit süßen „Liwanzen“, „schetzko jedno“, „roboty“ und anderen Ausdrücken mit Migrationshintergrund können viele etwas anfangen.

Anfangs hielt ich es für eine Sache zwischen Stadt und Land, bis mein Deutsch so gut war, dass ich auch in den Städten fast ebenso viel Mundart wahrnahm wie auf dem Land, wenn auch feiner ziseliert. Was ist das, fragte ich mich, und warum? Dann fielen mir wieder meine Babka ein und ihr Dialekt.

Europa ist ein kleiner Kontinent. Und egal, ob es bewachte Grenzen gibt oder nicht, die Menschen fanden immer Gründe, von einem Ort zum anderen zu ziehen. Beruflich, privat oder als Flüchtlinge vor totalitären Systemen. In ihrem Gepäck stets die Sprache, die sie wie einen Samen unterwegs ausstreuten.

Die böhmischen Köchinnen (auch wenn sie oft aus der Slowakei kamen), waren in Wien sehr beliebt und mit ihnen jede Art von Knödeln und Strudeln. Von Powidltatschkerln, die ich erst in Wien zum ersten Mal aß, würde wahrscheinlich jeder zweite Wiener behaupten, dass sie eine typische Wiener Spezialität sind. Dabei bedeutet švestková povidla auf Tschechisch nichts anderes als Pflaumenmus oder wie es in Österreich heißen müsste – Zwetschgenmarmelade. Und kennen Sie die Wendung „Des is ma Powidl“?

Je länger ich in Österreich lebe, umso mehr liebe ich die kleinen Nuancen der Sprachen, die mich hier umgeben. Stadt, Land, Mundart, eingewanderte Wörter, die die Ausdrucksweise bereichern.

Die Sprache verbindet. Warum meinen aber manche, sie wäre die Linie, die uns unwiderruflich trennt? ● ○

Anmerkung: Liebe Leserin, lieber Leser, wie schön, dass Sie mich auf meiner Stadt-Land-Multikulti-Reise begleiten. Für eine bessere Lesbarkeit hier ein paar Tipps: Lesen Sie š = sch, z = s, y = i, ň = nj, ť = tj, v = w und die Vokale mit einem Apostroph lang.