Regisseurin Nehle Dick
Florian Kriechbaum
Regisseurin Nehle Dick

Hainisch

Wir bergen Schätze!


Wer war Marianne Hainisch? Was würde Johanna Dohnal zum Corona-Backlash sagen? Mit solchen Fragen setzt sich das Bürger*innentheater des Landestheaters Niederösterreich in seiner jüngsten Produktion auseinander. Regisseurin Nehle Dick über ihr Projekt „1922–2022 Frauenleben in Niederösterreich“.

„Beschreibe bitte das Leben deiner Oma“: Das war eine der ersten Aufgaben, die ich meinem Ensemble stellte. Das Laien-Ensemble – lieber spreche ich allerdings von „Alltags-Experten“ als von „Laien“ –, besteht aus rund 50 Personen, die in St. Pölten und Umgebung leben. Die jüngste Teilnehmerin ist zwölf, die älteste 80 Jahre alt. Wir haben viel mehr Frauen, aber einige Männer sind auch mit von der Partie. Insgesamt decken wir also ein breites Spektrum an Generationen und Erfahrungen ab – allein die Biografien der Großmütter, die wir uns gegenseitig erzählten, gehen über 100 Jahre zurück. Noch bin ich mir nicht sicher, ob und wie ich die einzelnen Lebensläufe in den Theaterabend einbinden werde. So viel kann ich aber schon jetzt verraten: Wir bergen wahre Schätze!Um Geschichten von Frauen geht es in unserer aktuellen Inszenierung mit dem Arbeitstitel „1922–2022 Frauenleben in Niederösterreich“. Die Premiere ist für 22. April geplant. Mit dieser gemeinsamen Stückentwicklung für das Bürger*innentheater feiern wir übrigens gleich ein doppeltes Jubiläum: Zehn Jahre Bürger*innentheater am Landestheater Niederösterreich sowie das 100-Jahr-Jubiläum Niederösterreichs als eigenständiges Bundesland. Interessanterweise ist die politische Souveränität Niederösterreichs eng mit der Frauenemanzipation verknüpft. Eine Niederösterreicherin fungierte als Drahtzieherin der österreichischen Frauenbewegung: Marianne Hainisch (1839–1936) war eine der ersten Frauenrechtlerinnen, die Großartiges leisteten. In unserem Stück wird sie eine zentrale Rolle spielen.

Revolutionär und visionär

Mich beeindruckt vor allem, wie Marianne Hainisch in ihren Schriften persönliche Erfahrungen mit gesellschaftspolitischen Forderungen verbindet. Zu Beginn ihres Engagements stand das Schicksal einer ihrer Freundinnen: Nachdem die Fabrik des Ehemanns in Konkurs gegangen war, musste sie tatenlos zusehen, wie ihre Familie verarmte, da Hainischs Freundin über keinerlei Ausbildung zur Erwerbstätigkeit verfügte. Seinerzeit war das für Frauen der gehobenen Gesellschaft schlichtweg nicht vorgesehen. Als erstes Ziel setzte sich Hainisch daher für die Weiterbildung von Mädchen und Frauen ein – von da aus führte sie der nächste Schritt zum Gymnasium für Mädchen, schließlich als Fernziel die Zulassung zum Studium, damals ein so revolutionäres wie visionäres Vorhaben. 1870 formulierte Hainisch erstmals diese Forderungen; über 20 Jahre lang musste sie kämpfen, bis 1892 eine Mädchenklasse probeweise zugelassen wurde – die erste im gesamten deutschsprachigen Raum! Ich bewundere die Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit, die Frauen wie Hainisch an den Tag legten, oder auch Rosa Mayreder und Auguste Fickert, allesamt Protagonistinnen der ersten Frauenbewegung: Sie ließen sich nicht entmutigen, obwohl die Männerwelt sie anfeindete und umgegangen wurde. Sie machten weiter, auch wenn ihnen anfangs niemand zugetraut hätte, das Geringste zu erreichen. Vor allem aber hielten sie zusammen. Frauen aus dem Bürgertum, der Mittelschicht und der Arbeiterschaft standen im Kampf solidarisch Seite an Seite – auch wenn sie Herkunft und Weltanschauung trennten. Gemeinsam setzten sie viel um. Nehmen wir uns daran heute ein Vorbild!

Nicht klein beigeben

Mir fällt es schwer, meine Wut im Zaum zu halten, wenn ich daran denke, wie mühevoll jeder noch so kleine Fortschritt für Frauen erkämpft werden musste. Andererseits ist es inspirierend zu wissen, dass sich bereits Legionen von Frauen engagiert und vieles erreicht haben. Wir stehen auf den Schultern von Riesinnen. Die Geschichte der Frauenbewegung ist beeindruckend. Sobald man sich jedoch näher mit dem Thema beschäftigt, beschleicht einen das ungute Gefühl, sich mit Randständigem auseinanderzusetzen – was natürlich Unsinn ist, weil Frauengeschichte alle etwas angeht. Ich beobachte hier einen Gender-Data-Gap: Es wird in Sachen Feminismus viel geforscht, in den Bibliotheken findet sich großartige Fachliteratur – kaum etwas davon ist jedoch in den Mainstream-Geschichtsbüchern abgebildet. Im Geschichtsunterricht wird Frauengeschichte nicht gleichrangig behandelt. Mehrheitlich dreht sich noch immer fast alles um Eroberungen und Erfindungen, sprich: das Terrain der Männer. Das ärgert mich maßlos, aber gerade darin liegt eine große Chance für unser Theaterprojekt.Die Leerstelle in der Geschichtsschreibung wird ein zentrales Motiv der Aufführung „1922–2022 Frauenleben in Niederösterreich“ werden. Dafür ziehen wir unterschiedliche Quellen heran, unter anderem poetische Texte von Marianne Hainisch. Darüber hinaus werden Originalzitate aus der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren zu vernehmen sein, etwa von der damaligen Frauenministerin Johanna Dohnal und von Künstlerinnen wie Valie Export, aber auch Pamphlete der „Aktion unabhängiger Frauen“. Freilich werden wir uns auch mit unserer gegenwärtigen Situation beschäftigen. Es ist doch schier unglaublich, dass wir uns teils mit denselben Problemen herumschlagen wie anno dazumal. Gleiches Gehalt für gleiche Leistung? Davon ist schon seit über 100 Jahren die Rede, und die Politik hat diese Forderung noch immer nicht flächendeckend durchgesetzt.

Gegenwärtig beunruhigt mich der von Corona entfachte Backlash. Die Mehrfachbelastung, der Frauen grundsätzlich ausgesetzt sind, hat durch Lockdown, Homeoffice und -schooling negative Schubkraft gewonnen. Diese Form der Erschöpfung wird ein weiteres wesentliches Motiv der Aufführung werden. „1922–2022 Frauenleben in Niederösterreich“ soll keiner klassischen Dramaturgie folgen. Wir planen einen revueartigen Szenereigen, der Unmögliches möglich macht, indem etwa die historische Persönlichkeit Marianne Hainisch auf eine 17-jährige Schülerin der Gegenwart trifft. Worüber sich die beiden wohl unterhalten? Ob das Gymnasium von heute und die Möglichkeit der Berufswahl von Mädchen den Vorstellungen von Hainisch entspricht? Theater ist ein grandioses Spielfeld, um solche Gedankenexperimente in Szene zu setzen. Ernste Themen spielerisch und damit auch vielfältig zu verhandeln – darauf kommt es an. ● ○