Die Erde lesen
Leopold Pluschkowitz
Die Erde lesen

The Dissident Goddesses’ Network

Oh my Goddess!


Archäologinnen, Künstlerinnen, Kuratorinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Kulturhistorikerinnen – das Spektrum jener, die am Projekt „The Dissident Goddesses’ Network“ beteiligt sind, ist breit. Es ist angesiedelt an der Akademie der bildenden Künste Wien und wird in Kooperation mit Forum Morgen durchgeführt. Ausgehend von weiblichen Kultfiguren der Prähistorie veranstaltete man seit 2018 Performances, Vorträge, Workshops, Symposien zu feministischen, ökologischen, kulturhistorischen und archäologischen Themen. All das kulminiert nun in der Ausstellung „Die Erde lesen. The Dissident Goddesses’ Project“ in der Landesgalerie Niederösterreich (12. März bis 1. Mai 2022), kuratiert von der Kunsthistorikerin Felicitas Thun-Hohenstein, die gemeinsam mit der Künstlerin Elisabeth von Samsonow das „Dissident Goddesses’ Network“ leitet. morgen besuchte Letztere sowie die Künstlerin Helena Eribenne – und ging einem ganz besonderen Fund auf den Grund.

Künstlerin Elisabeth von Samsonow
Philipp Horak
Künstlerin Elisabeth von Samsonow

Elisabeth von Samsonow

Ein stures Gänseblümchen


In den Arbeiten der Künstlerin Elisabeth von Samsonow treffen sich Philosophie und Theologie, Feminismus und Ökologie. morgen besuchte die Universalgelehrte auf ihrem Streckhof im Pulkautal.

Es gibt Menschen, die mit der größten Selbstverständlichkeit die wildesten Dinge erzählen. Elisabeth von Samsonow beispielsweise. Sie sagt gerne Sätze wie: „Ich werde eine Pflanze.“ Oder: „Philosophen machen Photosynthese.“ Manchmal wird dann ihre Stimme höher, vor allem am Ende eines besonders verzweigten Gedankengangs – und sie beginnt zu lachen, doch nicht so, als nähme sie sich nicht ernst, sondern eher aus Freude am Denken. Überraschende Gedankengänge hat die Künstlerin, Philosophin, Autorin, Theologin, Akademie-Professorin und Forscherin jede Menge, und sie zimmert ganze Gebäude daraus. Als Fundament dient ihr ein Wissen auf zahlreichen Gebieten, als Werkzeug ihre sprühende Fantasie. Es ist ein sonniger, kalter Wintertag, an dem sie morgen in ihrem Wohnatelier empfängt, einem Streckhof in Hadres im Weinviertel. Durch das ornamentierte Tor, an dem der Durchzugsverkehr vorbeidonnert, betritt man einen Garten. Entlang dieses kleinen Idylls fädeln sich die Zimmer auf. Elisabeth Samsonow, die an diesem Tag mit einem bunt gestreiften Rock und einem gemusterten Pullover für ihre Verhältnisse dezent gekleidet ist, setzt erst einmal Kaffee auf. Am Vorabend hat es lang gedauert, denn sie hat mit dem Weinbauern Edi Himmelbauer Wermut verkostet. Dann fällt wieder so ein Samsonow-Satz: „Am Schluss hat der Edi Flügel gekriegt!“ 

Zirkusdirektorin 

Die Künstlerin, geboren 1956 im oberbayrischen Neubeuern, hat eine wechselhafte Arbeitsbiografie, und bisweilen fragt man sich, wie sich das ausgeht: so viel Unterschiedliches in einem einzigen Leben. In den 1980er-Jahren war sie Direktorin eines „Kleinzirkus“ und leitete eine Malschule, studierte Philosophie in München, ebenso Katholische Theologie und Germanistik, besuchte als Gasthörerin die Klassen von Eduardo Paolozzi und Daniel Spoerri, der sich mit seinem Ausstellungshaus in Hadersdorf am Kamp unweit von seiner einstigen Schülerin niedergelassen hat. Danach ließ sie sich als Flötistin ausbilden und studierte Tonsatz, lehrte an Universitäten in Wien: Philosophie an der Hauptuni, Sakrale Kunst an der Akademie der bildenden Künste – später wurde diese Professur umgewidmet in eine für Philosophische und Historische Anthropologie der Kunst. Mit ihrer Kollegin dort, der Kunsthistorikerin Felicitas Thun-Hohenstein, leitet sie nun das künstlerisch-wissenschaftliche Projekt „The Dissident Goddesses’ Network“ (TDGN), angesiedelt an der Akademie der bildenden Künste in Wien, mit einem besonderen Bezug zu ihrem Reich in Hadres.

Im Matriarchat gäbe es Begriffe wie Marginalisierung nicht.

„Ich schmeiße Sie raus!“

Samsonow publizierte Aufsätze und Bücher über so unterschiedliche Themen wie Egon Schieles Identifikation mit dem Heiligen Franziskus, den Häretiker Giordano Bruno und die Figur der Elektra. Ihre Publikations- und Lehrtätigkeit hinderte sie keineswegs daran, intensiv an ihrer Kunst zu arbeiten – Skulpturen aus Holz, Videos, Performances, Prozessionen, Installationen sowie Gemälde, in denen Kykladen Vulkanlandschaften bewohnen oder kosmische Bewegungen zu abstrakten Kompositionen werden. All das zu vereinen, wurde ihr einst schwer gemacht.Einmal sah einer ihrer Philosophieprofessoren Kunstwerke von ihr im Schaufenster einer Apotheke. Seine Reaktion: „Wenn Sie das noch einmal machen, schmeiße ich Sie raus!“ Als sie sich für die Professur an der Akademie in Wien bewarb, kehrte sie ihre künstlerische Tätigkeit unter die Decke, auf Anraten ihres Kollegen Peter Sloterdijk. Sie wäre sonst Gefahr gelaufen, als Dilettantin zu gelten. Heute dagegen sind Crossovers zwischen Kunst und Wissenschaft äußerst gefragt, es gibt Förderprogramme und Professuren zur künstlerischen Forschung. Mit dem Projekt TDGN sind Samsonow und Thun-Hohenstein am Puls der Zeit.Dieses kulminiert nun in der Ausstellung „Die Erde lesen. The Dissident Goddesses’ Network“ der Landesgalerie Niederösterreich, die Thun-Hohenstein kuratiert und bei der Samsonow eine Installation zeigt. Das Projekt beleuchtet ausgehend von paläo- und neolithischen weiblichen Figurinen aus Niederösterreich wesentliche feministische, künstlerische und kulturhistorische Fragen. Es greift in ebenso viele verschiedene Richtungen aus wie das Netzwerk der Elisabeth von Samsonow, das aus Winzern und Galeristinnen, Bäuerinnen und Philosophen, Jägern und Schriftstellerinnen besteht. Dieses Interesse an so vielem äußert sich bei Samsonow auch darin, dass sie Dinge zueinander sortiert, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben. Zum Beispiel Gebäck und Skulptur. „Die Brezel ist der Ursprung der Bildhauerei“, erklärt sie in aller Selbstverständlichkeit. Die „Mini-Doppelhelix“, also die Stelle in der Mitte der Brezel, „ist für mich als Bildhauerin erotisch“. 2016 baute sie in der Kremser Dominikanerkirche eine Installation aus einem Saiteninstrument monumentaler Dimension sowie Holzskulpturen: archaische Wesen zwischen Mensch und Pflanze („Transplants“) sowie Figuren, die sich bewegten oder Töne ausstießen. Im Katalog zur Ausstellung schwärmt sie von Bildhauerinnen, auf die sie in den Eighties im Kunstverein Wasserburg traf, Künstlerinnen mit den Namen Louise Stomps und Lidy von Lüttwitz: „großartige Bildhauerinnen in methusalemischem Alter“. 

Land der Göttinnen 

Als Samsonow in den frühen 1990er-Jahren nach Österreich kam, war sie mit ihren Holzskulpturen ziemlich exotisch. „Da machte man in Wien Medien- und Kontextkunst oder text based art“, sagt sie, und setzt in ihrem süddeutschen Idiom nach: „Und dann kimm i daher mit dem Hoiz!“ Sie sei sich vorgekommen wie ein „Gänseblümchen, ein stures.“ Nach wie bevorzugt sie für ihre Bildhauerei das Holz, vor allem das der Linde: „Das sind Bäume von so überlegener Schönheit und Poesie. Die reden mit mir.“ Das Holz sei schließlich nie ganz tot, denn stets bleibe ein „metabolisches Residuum von einem Leben, das viel älter ist als ich“. Eingepackt in Folien, so stehen die hölzernen Wesen in ihren Ateliers – sie hat mehrere Studios. Das Weinviertler Reich Elisabeth von Samsonows ist groß: Es umfasst neben dem Wohnatelier in Hadres das „Göttinnenland“ und einen früheren Heurigen, zu dem auch zwei weitläufige Kellerröhren gehören („ganze U-Bahnhöfe“). Neben einem Bildhauerei- und einem Malatelier hat sie dort eine „Hexenküche“ eingerichtet, wo sie allerlei einlegt und einkocht. Weil das Licht gerade so schön ist, lädt Samsonow an diesem Vormittag zu einer kleinen Besichtigungstour ein. Zuerst lenkt sie ihren Jeep ins „Göttinnenland“, auf einen Hügel mit dem Namen Toter Mann, in die wohl berühmteste Jurte des Landes. 

Diese ist das Zentrum des vier Hektar großen „Göttinnenlandes“, das sie im Vorjahr gemeinsam mit zahlreichen anderen Interessierten erwarb. Das „Dissident Goddesses’ Network“ nutzt die Jurte für Veranstaltungen und Diskussionen; auch Teile eines Films von Samsonow entstanden hier. Darüber hinaus bot die Künstlerin per Zeitungsinserat der Bevölkerung an, das Zelt ebenfalls in Anspruch zu nehmen. Teppiche, Sitzgelegenheiten und ein kleines Getränkeangebot laden zum Verweilen ein. Tatsächlich fand Samsonow bereits einmal eine Yogagruppe hier vor: „Ist das nicht toll?“ An diesem Tag wartet schon Karl Koran auf die Künstlerin. Sie begrüßen einander herzlich, wie alte Bekannte. In wenigen Tagen muss das Zelt abgebaut werden. Ausführlich erklärt Koran, ein Jäger, wie Schnee auf die Außenmauern drücken und diese zerstören könnte. Bereits jetzt hat der Wind das Zelt ein wenig verschoben. Samsonow hört aufmerksam zu – sie weiß die Expertise anderer zu schätzen, vor allem auch von Menschen anderer Disziplinen. Und schwärmt dann von ihnen, etwa von Ines Fritz, einer Assistenzprofessorin am Institut für Umweltbiotechnologie der BOKU. Bei den Gesprächen in der Jurte treffen Wissenschaft und Praxis aufeinander. „Hier sieht man, dass die Menschen angepasstes Wissen haben, ‚situated knowledge‘. Das Wissen über Humus, das Ines Fritz hat, unterscheidet sich von jenem der Bauern hier. Und das wahrscheinlich wiederum von dem der Bauern in Tirol oder Kärnten.“ Der Begriff „Situated Knowledge“, „situiertes Wissen“, wurde 1988 von der feministischen Wissenschaftlerin Donna Haraway geprägt. Er fasst Wissen als etwas, das weder neutral noch universell sein kann. 

„du! Geistlein!“

Je später es wird an diesem Vormittag, desto mehr verfestigt sich der Eindruck: Samsonow geht es um das große Ganze, die Gesellschaft, den Kosmos, unser Verhältnis zur Erde. Etwa, wenn sie über das Matriarchat spricht – für sie nicht bloß ein Lebensentwurf in abgelegenen Regionen, sondern ein gesellschaftliches Modell, das die Welt zum Besseren wenden würde. Der Begriff Matriarchat wecke freilich falsche Vorstellungen: „Die Leute denken: Im Patriarchat terrorisiert uns der Papa, und im Matriarchat halt die Mama – das wollen wir nicht, davon haben wir genug.“ Dabei sei die matrizentrische Gesellschaft ein probates Modell, weil sie aus Geschlechterdifferenzen keine Hierarchien ableite. Die Mutter sei dabei nicht „die Superwoman, sondern ein Konzept. Auf dieser Ebene kann ein Kanon mütterlicher Werte definiert werden: Prestige entsteht durch Distribution und nicht durch Akkumulation wie in unserer Gesellschaft. Das Patriarchat ist eine Herrschafts-, das Matriarchat eine Care-Ideologie.“Einst nahm man an, dass im Paläolithikum Schwache und Kranke zurückgelassen oder getötet wurden, erzählt die Künstlerin. „Aber es gibt Gräber, in denen Skelette von physisch handicapped people liegen.“ Ganz könne die Erzählung vom Survival of the Fittest also nicht stimmen. „Die Gesellschaft ist immer so gut, wie sie für ihr schwächstes Glied sorgen kann. Im Matriarchat gäbe es Begriffe wie Marginalisierung nicht. Denn die ganz Schwachen, die jetzt am Rand sind, wären in der Mitte.“ Aus diesem Grund sei auch die Paarung zwischen Ökologie und Feminismus „unglaublich tauglich“.

Die Mutter ist nicht die Superwoman.

Im Göttinnenland, am Toten Mann, zeigt Samsonow dann noch die Orte, an denen sie im Sommer 2021 ein Göttinnenfest veranstaltete. Diese sind auch die Locations einer Videoperformance. Darin trägt sie eine Krone aus Drähten und bunten Elementen sowie ein weißes Kleid, von dem färbige Streifen flattern. Ein buntes Wesen, das durch die Natur wandert, vorbei an Weinstöcken und uralten Bäumen.Samsonow war mit der 2021 verstorbenen Dichterin Friederike Mayröcker gut befreundet. Diese stellte ihrem 2018 erschienenen Buch „Pathos und Schwalbe“ eine Widmung voran: „du! Geistlein! E. S.! durch die Wälder!“ Mit „E. S.“ ist Samsonow gemeint: das Geistlein, das durch die Wälder streift. Und mit ihren Fundstücken eindrückliche philosophisch-künstlerische Gebäude errichtet. ● ○

Realistische Darstellung: Venus von Willendorf
NHM Wien, Kurt Kracher
Realistische Darstellung: Venus von Willendorf

Genderarchäologie

Venus oder Jägerin?


Feministische Archäologie befreit unsere Sicht auf die Frauen der Frühzeit von Klischees. Dabei helfen zwei Figurinen aus Niederösterreich: die weltberühmte Venus von Willendorf und ihre weniger bekannte Schwester Fanny vom Galgenberg.

Welches Geschlecht hat die Vergangenheit? Seltsame Frage. Keines natürlich. Doch wen sehen wir vor uns, wenn wir an die Entstehung der Höhlenmalerei von Lascaux oder der Venus von Willendorf denken? Nicht nur Speere, auch die ersten Schnitzmesser konnte man sich lange Zeit nur in den Händen von Männern vorstellen. Seit den Anfängen der Archäologie galt es als selbstverständlich, dass männliche Künstler hinter diesen frühesten Artefakten stecken. Ebenso ging man lange davon aus, dass damals eine strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern geherrscht habe: Während sich die Frauen in der Höhle um Feuer und Kinder kümmerten, jagten die Männer Mammuts und schnitzten Werkzeug – so weit, so klischeebeladen. Da die Clans der Frühzeit jagten und sammelten, nehmen Forschende mittlerweile an, dass ihr Zusammenleben ähnlich egalitär war wie in heute noch lebenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Ohne Religion und Hierarchie existiert schlicht kein Grund, Frauen von der Jagd auszuschließen oder Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen. Die feministische Archäologie bemüht sich um einen ausgewogeneren Blick auf die Vergangenheit. Aber ist das schon feministisch? Und wie viel Ideologie passt in eine möglichst unvoreingenommene, objektive Forschung? Fragen wie diese mögen Kritikerinnen und Skeptiker stellen. Man kann den Spieß aber auch umdrehen. Denn die Archäologie ist seit ihren Anfängen stark männlich dominiert, und somit in gewissem Sinne bereits ideologisch grundiert. Man könnte somit die anfängliche Frage, welches Geschlecht die Vergangenheit habe, umformulieren: Wer hat die Hegemonie über die Vergangenheit und deren Deutung?Die Archäologin Christine Neugebauer-Maresch kann sich noch gut an ihre Anfänge erinnern. Als sie in den 70ern an der Uni Wien studierte, stammten Bücher und Fachartikel großteils von Männern. Zu den Objekten, die sie damals am meisten faszinierten, gehörte die Venus von Willendorf. Die kleine, rundliche Figur stammt aus dem mittleren Jungpaläolithikum, dem Gravettien, und wurde 1908 in der Wachau entdeckt, eine Weltsensation. 

Ich bin gegen die Deutung als Göttinnen.

Keine Venus, keine Göttin

Aber schon der Name „Venus“ wirkt aus heutiger Sicht mehr wie eine Zuschreibung als eine Tatsache. „Bei nackten Frauen kamen den meisten männlichen Forschern wohl gleich sexuelle Gedanken“, sagt Christine Neugebauer-Maresch im Gespräch. „Tatsache ist, dass es in der Kunst viele Darstellungen nackter Frauen gibt, zum Beispiel Botticellis Venus, die als Namensgeberin für die Figurinen diente. Auch manche Frauenforscherinnen griffen die Bezeichnung Venus gerne auf, weil sie die Relikte als Göttinnen sehen. Ich bin aber strikt gegen die Deutung als Göttinnen. Das ist zu wenig! Und es passt gar nicht zu den damaligen Gesellschaften, die sehr egalitär organisiert waren.“Das an der Akademie der bildenden Künste Wien angesiedelte Forschungsprojekt „The Dissident Goddesses’ Network“ spielt bewusst und ironisierend mit diesem Göttinnen-Begriff. Die Videokünstlerin Angela Melitopoulos hinterfragt beispielsweise in ihrem Forschungsprojekt „Matri Linear B“ (2021) anthropozentrische Sichtweisen, sucht nach einem matrilinearen Erbe und erkundet das Betrachten von Landschaften als sozialen Prozess. Das Ziel der Forscherinnen und Künstlerinnen ist es, die in Niederösterreich und angrenzenden Gebieten gefundenen Figuren unter heutigen Gesichtspunkten interdisziplinär zu diskutieren und ihre Existenz stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Und da ist durchaus noch einiges zu tun. Während die Venus von Willendorf weltweite Berühmtheit erlangte und die Popkultur beeinflusst (sie ist sogar auf einer Porno-Plattform zu finden und wurde wegen „öffentlich zur Schau gestellter Nacktheit“ auf Facebook gesperrt), fristet die gar nicht weit von ihr entfernt entdeckte Fanny vom Galgenberg noch ein Dasein weitgehend im Dunkel.Dabei hatte sie von Anfang an bessere Karten, nicht sofort vom rein männlichen Blick vereinnahmt zu werden. Entdeckt hat sie 1988 ganz zufällig: Christine Neugebauer-Maresch – die diesen für ihre Karriere bedeutsamsten Fund nicht gemacht hätte ohne das unbeabsichtigte Zutun eines machohaften Professors. Bei diesem hatte sie sich, damals junge Mutter, nämlich als Assistenzprofessorin beworben. „Wie viele Kinder wollen Sie denn noch haben?“, wollte er pikiert wissen und stellte noch ein paar weitere Fragen, die heute undenkbar wären. Den Posten bekam schließlich ein Mann. So beschloss die ambitionierte junge Archäologin, sich als selbstständige Forscherin mit selbst eingeworbenen Stipendien durchzuschlagen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.

Dekonstruktion des männlichen Blicks

Ende der 80er arbeitete sie dann mit ihrem Team aus Studierenden an einer niederösterreichischen Ausgrabungsstätte am Galgenberg zwischen Stratzing und Krems-Rehberg. Die akribische Arbeit der Forschenden förderte die Relikte eines altsteinzeitlichen Lagers zutage. Besonders spektakulär waren die Funde nicht, es handelte sich um steinerne Geräte und die Abfälle ihrer Herstellung. Neugebauer-Maresch erinnert sich an eine Gruppe gelangweilter Gäste, die ihr vorschlug, sie solle doch lieber eine zweite Venus von Willendorf finden als das fade Werkzeug. „Das wird es nicht spielen“, so lautete ihre Antwort. Spielte es dann doch.„Was soll das denn sein?“, fragt eines Tages die junge Studentin Natalie Mesensky. Sie hält ein kleines Dreieck aus grünlichem Schiefer in der Hand. Die Grabungsleiterin Neugebauer-Maresch weiß sofort, dass ihr Team und sie etwas Hochinteressantes entdeckt haben. Alle sind aufgeregt, scherzen, aber sehr bald ist klar: Es kann sich bei dem Teil nur um die Darstellung eines Kopfes handeln. In einer Schachtel liegen bereits zwei kleine, geschnitzte Teile aus demselben Material. Sie passen. In der folgenden Nacht kann die Archäologin kaum schlafen. Auf ein profanes Papiertaschentuch in einem Plastikschälchen hat sie die kleine, nun zusammengesetzte Figur gebettet – und gibt ihr den Namen Fanny vom Galgenberg, nach der berühmten Wiener Tänzerin Fanny Elßler. Für die Forscherin ist nämlich sofort klar, dass es sich bei der Figurine um eine Frau handelt. Sie steht leicht seitlich geneigt, eine Brust ist zu sehen. „Trotzdem muss ich jedes Mal wieder erklären, wie ich auf diese Interpretation komme. Die erste Reaktion eines männlichen Kollegen war: Das ist ein Jäger mit Keule!“ Es gebe immer noch Leute, die in der Fanny einen Mann sehen. „Aber die werden nicht mehr ernst genommen.“Auch die renommierte französische Wissenschaftshistorikerin Claudine Cohen hat sich mit dem männlichen Blick in der Archäologie beschäftigt. In ihrem Buch „Femmes de la préhistoire“ schreibt sie über die Venus von Willendorf. Sie schildert, wie der – die Zunft bestimmende – Prähistoriker Henri Breuil die Figurine sah und damit den Blick der Archäologie lange prägte: Seiner Meinung nach sei der „gewagte Realismus“ des Venus-Künstlers ins „Schreckliche gekippt“. In den Augen von Breuil, der auch katholischer Priester war, schien die Figurine schamlos und sexualisiert.

Claudine Cohen hat einen anderen Blick. Für sie ist die Venus keine übertriebene oder gar groteske, sondern die äußerst realistische Darstellung einer Frau. Und ihre Wiener Kollegin Christine Neugebauer-Maresch stimmt ihr zu. Die Art, wie die schweren Brüste auf dem runden Bauch aufliegen, die Rückenansicht, die gesamte Anatomie weisen ihrer Meinung nach auf eines hin: „So gut kann man sie nur darstellen, wenn sie tatsächlich existiert hat.“ Die Fettleibigkeit der Venus könne unter anderem als Symbol des guten Jagderfolgs ihres Clans gedeutet werden. Gejagt haben Männer und Frauen Seite an Seite, das wissen wir heute.Und wer sagt überhaupt, dass die Venus von einem Mann geformt wurde? ● ○

Helena Eribenne
Heribert Corn
Helena Eribenne

Helena Eribenne

Gefallene Göttinnen


Die Künstlerin Helena Eribenne, einst Musicaldarstellerin, Acid-House-Musikerin und DJ, persifliert den Kolonialismus der Moderne und diskriminierende Einschränkungen im Kunstbetrieb der Gegenwart. Für das „Dissident Goddesses’ Network“ dachte sie über die Rolle der Venus seit der Renaissance nach.

Wie könnte eine moderne Göttin aussehen? Als Helena Eribenne zum Interview- und Fototermin mit morgen in einem Wiener Studio erscheint, hat sie weiße Flügel in ihrer Tasche. Diese federbestückten Requisiten verwendete die Künstlerin schon bei einer ihrer früheren Performances. Heute möchte Eribenne sie für Aufnahmen mit dem Selbstauslöser anziehen. „Überirdischen“ Frauenfiguren widmete sich die Britin schon vielfach, in Fotografien, Filmen und Performances ebenso wie in kunsttheoretischen Texten. „Seit ich denken kann, wollte ich immer auf der Bühne stehen“, erzählt die in London geborene Tochter nigerianischer Eltern. Schon als kleines Mädchen liebte es Eribenne, sich zu kostümieren, zu singen und zu tanzen. Später trat sie in Musicals ihrer Schule auf. Nach ihrem Abschluss wurde die begabte junge Frau Teil der Acid-House-Band S’Express, die 1988 sogar die britischen Charts anführte. „Am liebsten wäre ich jedoch Schauspielerin geworden“, sagt Eribenne heute über ihre frühe Laufbahn.

Man-Ray-Persiflage

Im Rahmen einer Tour kam die Sängerin 1999 als DJ nach Österreich, wo sie schnell Zugang zur hiesigen Kulturszene fand. Wenig später bewarb sich die damals 32-Jährige an der Akademie der bildenden Künste. In der Klasse von Franz Graf begann sie, ihr Interesse an Theater und Musik mit Fotografie zu verbinden. „Aber auch bei meinen Fotoporträts geht es fast immer um Performance, etwa um die Neuinterpretation historischer Arbeiten“, betont die Künstlerin ihren Hang zum Darstellerischen. Für eine dieser Re-Inszenierungen griff Eribenne auf eine Ikone der Fotogeschichte zurück. Gemeinsam mit einem befreundeten Fotografen stellte sie das berühmte Bild „Noire et Blanche“ nach, das Man Ray 1926 geschaffen hat. Das Porträt des Surrealisten zeigt eine weiße Frau mit geschlossenen Augen, die eine afrikanische Maske hält – viele Pariser Kunstschaffenden schwärmten für die sogenannte „primitive“ Kunst. In ihrer Version tritt Eribenne selbst an die Stelle von Man Rays Modell. Von dem im Originaltitel angesprochenen „Weiß“ ist nur mehr der helle Lidschatten auf einem Auge übrig. Wiewohl hochästhetisch, stellt Eribennes Remake auch eine Persiflage auf Man Ray dar. „Dieses Foto entstand aus meiner zunehmenden Frustration darüber, dass von schwarzen Künstler:innen immer erwartet wird, sich mit Hautfarbe, Identität oder Rassismus zu beschäftigen. Als weißer Mann hat man dagegen die Freiheit, zu sagen und zu tun, was man möchte“, erzählt Eribenne dazu. 

Solch stereotype Erwartungen des Kunstbetriebs thematisierte die Engländerin auch in ihrem Solostück „Woman to Woman II“, für das sie 2019 den H13 Niederoesterreich Preis für Performance erhielt. Im Zentrum steht die Frage nach der Repräsentation schwarzer Künstlerinnen und Künstler gestern und heute. Die Künstlerin trat in einem Wohzimmerensemble auf, wie es in den 70er-Jahren für afrobritische Familien typisch war: Sofa mit Stehlampe, Jesusbild, Fernseher. Zur stilistischen Zeitreise zählen auch gehäkelte Deckerl auf dem Mobiliar. Eribenne verkörpert in der ebenso kritischen wie unterhaltsamen Performance eine erfolglose Malerin, die für ihren Unterhalt in einem Jazzclub auftreten muss. In einem Telefonat mit einer Ausstellungsmacherin beklagt sie, in zehn Jahren nur ein einziges Gemälde verkauft zu haben. Durch einen wie magisch auf ihrem Wohnzimmertisch aufgetauchten Brief erhascht die Malerin plötzlich einen Blick in die Zukunft. Sie liest darin von einer Ausschreibung im Jahr 2019, die „BAME“-Künstler, also „Black, Asian, minority ethnic“, zur Bewerbung für ein Projekt zum Thema Rassismus aufruft. Langsam dämmert der Seventies-Künstlerin, dass diskriminierende Einschränkungen auch in 50 Jahren noch nicht überwunden sein werden. „Ich will eure Labels nicht“, verkündet sie empört. „Wir sind heutzutage unterrepräsentiert und das soll auch die Zukunft für schwarze Künstlerinnen sein?“Eine emanzipatorische Wendung erhält die Performance, als sie die Nummer der verantwortlichen Kuratorin aus der Zukunft wählt und sich „von Frau zu Frau“ beschwert. Eribenne wandelte dafür Shirley Browns Song „Woman to Woman“ ab, in dem eine Frau ihre Nebenbuhlerin anruft. „Der Song stammt aus dem Jahr 1974, das eine besondere Bedeutung für mich hat“, sagt die Künstlerin, die wichtige Momente in Kultur und Politik in jener Zeit ausmacht. In ihren Performances geht es immer wieder um Zeitsprünge und -reisen sowie um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Dabei untersucht die Künstlerin insbesondere, wie Mythen bis heute fortwirken und die Geschlechterverhältnisse prägen. Dieses Interesse brachte sie 2019 mit dem Forschungsprojekt „The Dissident Goddesses’ Network“ von Elisabeth von Samsonow und Felicitas Thun-Hohenstein in Verbindung. Eribennes essayistischer Beitrag „Die gefallene Gottheit“ setzt sich mit der Rolle der Venus seit der Renaissance auseinander. „Venus ist die römische Göttin der Liebe, aber die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts brachte sie geradewegs zur Erde, indem man jede Frau Venus nannte, welche Männer erotisch ansprach … Venus wurde dann später zu einem allgemeinen Ausdruck für weibliche Performer, die eine (aus einem westlichen Blickwinkel gesehen) exotische Aura umgab“, analysiert die Künstlerin.

Bei meinen Fotoporträts geht es um Performance.

Tragische Schicksale

Als vom Himmel gestürzte Göttinnen sieht Eribenne Stars mit tragischem Schicksal wie Marilyn Monroe, Romy Schneider, Whitney Houston oder Amy Winehouse. Für ihre Doktorarbeit, die sie an der Wiener Universität für angewandte Kunst verfasst, geht die Künstlerin aktuell der Frage nach, warum diese zu „self-destructive female icons“ wurden, also warum diese gefeierten Frauenfiguren an sich selbst scheiterten. „Ich studiere deren öffentliche Bilder und ihre Versuche, ihr Image zu kontrollieren. Aber es geht auch um den Betrachter, und wie Blicke töten können“, erzählt Eribenne, die den Fall dieser Ikonen auch mit einer uralten männlichen Kastrationsangst in Verbindung bringt. Dem Druck, einem vorgefertigten Bild zu entsprechen, setzt die Künstlerin eigene Images und Interpretationen entgegen. Eribenne wird sich auch künftig die Flügel nicht stutzen lassen. ● ○