Welches Geschlecht hat die Vergangenheit? Seltsame Frage. Keines natürlich. Doch wen sehen wir vor uns, wenn wir an die Entstehung der Höhlenmalerei von Lascaux oder der Venus von Willendorf denken? Nicht nur Speere, auch die ersten Schnitzmesser konnte man sich lange Zeit nur in den Händen von Männern vorstellen. Seit den Anfängen der Archäologie galt es als selbstverständlich, dass männliche Künstler hinter diesen frühesten Artefakten stecken. Ebenso ging man lange davon aus, dass damals eine strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern geherrscht habe: Während sich die Frauen in der Höhle um Feuer und Kinder kümmerten, jagten die Männer Mammuts und schnitzten Werkzeug – so weit, so klischeebeladen. Da die Clans der Frühzeit jagten und sammelten, nehmen Forschende mittlerweile an, dass ihr Zusammenleben ähnlich egalitär war wie in heute noch lebenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Ohne Religion und Hierarchie existiert schlicht kein Grund, Frauen von der Jagd auszuschließen oder Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen. Die feministische Archäologie bemüht sich um einen ausgewogeneren Blick auf die Vergangenheit. Aber ist das schon feministisch? Und wie viel Ideologie passt in eine möglichst unvoreingenommene, objektive Forschung? Fragen wie diese mögen Kritikerinnen und Skeptiker stellen. Man kann den Spieß aber auch umdrehen. Denn die Archäologie ist seit ihren Anfängen stark männlich dominiert, und somit in gewissem Sinne bereits ideologisch grundiert. Man könnte somit die anfängliche Frage, welches Geschlecht die Vergangenheit habe, umformulieren: Wer hat die Hegemonie über die Vergangenheit und deren Deutung?Die Archäologin Christine Neugebauer-Maresch kann sich noch gut an ihre Anfänge erinnern. Als sie in den 70ern an der Uni Wien studierte, stammten Bücher und Fachartikel großteils von Männern. Zu den Objekten, die sie damals am meisten faszinierten, gehörte die Venus von Willendorf. Die kleine, rundliche Figur stammt aus dem mittleren Jungpaläolithikum, dem Gravettien, und wurde 1908 in der Wachau entdeckt, eine Weltsensation.
Genderarchäologie
Venus oder Jägerin?
Feministische Archäologie befreit unsere Sicht auf die Frauen der Frühzeit von Klischees. Dabei helfen zwei Figurinen aus Niederösterreich: die weltberühmte Venus von Willendorf und ihre weniger bekannte Schwester Fanny vom Galgenberg.
Ich bin gegen die Deutung als Göttinnen.
Keine Venus, keine Göttin
Aber schon der Name „Venus“ wirkt aus heutiger Sicht mehr wie eine Zuschreibung als eine Tatsache. „Bei nackten Frauen kamen den meisten männlichen Forschern wohl gleich sexuelle Gedanken“, sagt Christine Neugebauer-Maresch im Gespräch. „Tatsache ist, dass es in der Kunst viele Darstellungen nackter Frauen gibt, zum Beispiel Botticellis Venus, die als Namensgeberin für die Figurinen diente. Auch manche Frauenforscherinnen griffen die Bezeichnung Venus gerne auf, weil sie die Relikte als Göttinnen sehen. Ich bin aber strikt gegen die Deutung als Göttinnen. Das ist zu wenig! Und es passt gar nicht zu den damaligen Gesellschaften, die sehr egalitär organisiert waren.“Das an der Akademie der bildenden Künste Wien angesiedelte Forschungsprojekt „The Dissident Goddesses’ Network“ spielt bewusst und ironisierend mit diesem Göttinnen-Begriff. Die Videokünstlerin Angela Melitopoulos hinterfragt beispielsweise in ihrem Forschungsprojekt „Matri Linear B“ (2021) anthropozentrische Sichtweisen, sucht nach einem matrilinearen Erbe und erkundet das Betrachten von Landschaften als sozialen Prozess. Das Ziel der Forscherinnen und Künstlerinnen ist es, die in Niederösterreich und angrenzenden Gebieten gefundenen Figuren unter heutigen Gesichtspunkten interdisziplinär zu diskutieren und ihre Existenz stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Und da ist durchaus noch einiges zu tun. Während die Venus von Willendorf weltweite Berühmtheit erlangte und die Popkultur beeinflusst (sie ist sogar auf einer Porno-Plattform zu finden und wurde wegen „öffentlich zur Schau gestellter Nacktheit“ auf Facebook gesperrt), fristet die gar nicht weit von ihr entfernt entdeckte Fanny vom Galgenberg noch ein Dasein weitgehend im Dunkel.Dabei hatte sie von Anfang an bessere Karten, nicht sofort vom rein männlichen Blick vereinnahmt zu werden. Entdeckt hat sie 1988 ganz zufällig: Christine Neugebauer-Maresch – die diesen für ihre Karriere bedeutsamsten Fund nicht gemacht hätte ohne das unbeabsichtigte Zutun eines machohaften Professors. Bei diesem hatte sie sich, damals junge Mutter, nämlich als Assistenzprofessorin beworben. „Wie viele Kinder wollen Sie denn noch haben?“, wollte er pikiert wissen und stellte noch ein paar weitere Fragen, die heute undenkbar wären. Den Posten bekam schließlich ein Mann. So beschloss die ambitionierte junge Archäologin, sich als selbstständige Forscherin mit selbst eingeworbenen Stipendien durchzuschlagen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Dekonstruktion des männlichen Blicks
Ende der 80er arbeitete sie dann mit ihrem Team aus Studierenden an einer niederösterreichischen Ausgrabungsstätte am Galgenberg zwischen Stratzing und Krems-Rehberg. Die akribische Arbeit der Forschenden förderte die Relikte eines altsteinzeitlichen Lagers zutage. Besonders spektakulär waren die Funde nicht, es handelte sich um steinerne Geräte und die Abfälle ihrer Herstellung. Neugebauer-Maresch erinnert sich an eine Gruppe gelangweilter Gäste, die ihr vorschlug, sie solle doch lieber eine zweite Venus von Willendorf finden als das fade Werkzeug. „Das wird es nicht spielen“, so lautete ihre Antwort. Spielte es dann doch.„Was soll das denn sein?“, fragt eines Tages die junge Studentin Natalie Mesensky. Sie hält ein kleines Dreieck aus grünlichem Schiefer in der Hand. Die Grabungsleiterin Neugebauer-Maresch weiß sofort, dass ihr Team und sie etwas Hochinteressantes entdeckt haben. Alle sind aufgeregt, scherzen, aber sehr bald ist klar: Es kann sich bei dem Teil nur um die Darstellung eines Kopfes handeln. In einer Schachtel liegen bereits zwei kleine, geschnitzte Teile aus demselben Material. Sie passen. In der folgenden Nacht kann die Archäologin kaum schlafen. Auf ein profanes Papiertaschentuch in einem Plastikschälchen hat sie die kleine, nun zusammengesetzte Figur gebettet – und gibt ihr den Namen Fanny vom Galgenberg, nach der berühmten Wiener Tänzerin Fanny Elßler. Für die Forscherin ist nämlich sofort klar, dass es sich bei der Figurine um eine Frau handelt. Sie steht leicht seitlich geneigt, eine Brust ist zu sehen. „Trotzdem muss ich jedes Mal wieder erklären, wie ich auf diese Interpretation komme. Die erste Reaktion eines männlichen Kollegen war: Das ist ein Jäger mit Keule!“ Es gebe immer noch Leute, die in der Fanny einen Mann sehen. „Aber die werden nicht mehr ernst genommen.“Auch die renommierte französische Wissenschaftshistorikerin Claudine Cohen hat sich mit dem männlichen Blick in der Archäologie beschäftigt. In ihrem Buch „Femmes de la préhistoire“ schreibt sie über die Venus von Willendorf. Sie schildert, wie der – die Zunft bestimmende – Prähistoriker Henri Breuil die Figurine sah und damit den Blick der Archäologie lange prägte: Seiner Meinung nach sei der „gewagte Realismus“ des Venus-Künstlers ins „Schreckliche gekippt“. In den Augen von Breuil, der auch katholischer Priester war, schien die Figurine schamlos und sexualisiert.
Claudine Cohen hat einen anderen Blick. Für sie ist die Venus keine übertriebene oder gar groteske, sondern die äußerst realistische Darstellung einer Frau. Und ihre Wiener Kollegin Christine Neugebauer-Maresch stimmt ihr zu. Die Art, wie die schweren Brüste auf dem runden Bauch aufliegen, die Rückenansicht, die gesamte Anatomie weisen ihrer Meinung nach auf eines hin: „So gut kann man sie nur darstellen, wenn sie tatsächlich existiert hat.“ Die Fettleibigkeit der Venus könne unter anderem als Symbol des guten Jagderfolgs ihres Clans gedeutet werden. Gejagt haben Männer und Frauen Seite an Seite, das wissen wir heute.Und wer sagt überhaupt, dass die Venus von einem Mann geformt wurde? ● ○