Gertraud Klemm
Dirk Skiba
Gertraud Klemm

Essay

Als der Feminismus an Land kroch


Die Schriftstellerin Gertraud Klemm über Frauen, Männer und Kinder am Land: ein Essay.

1980, Baden, Volksschule. In der Aula hängt der Landeshauptmann neben dem Direktor, in der Klasse hängt der Bundespräsident neben dem Jesus Christus; für mich spielen die vier in ein und demselben Team, und in meiner vorfeministischen Ursuppe fühlt sich das behütet an. Frauen, mit denen alles stimmt, sind Mamis oder Omis oder noch keine Mamis, alles, nur keine Emanzen; und Patriarchat ist noch kein Wort, das ich kenne, sondern ein Substrat, in dem wir kleinen Niederösterreicher (die Madeln mitgemeint) behütet wurzeln: zwischen Himmelsvater und Ackerkrume, Handarbeitsunterricht und Werkunterricht, zwischen Waldviertler Mohnzelten und Gumpoldskirchner Zierfandler wachsen wir heran. Wien ist in sicherer Entfernung, obwohl es nicht einmal 20 Kilometer weit weg ist. 20 Kilometer reichen, um zwei Kontinente zu trennen.Ich wachse im Industrieviertel auf, das zwar einen hässlichen Namen hat, aber viel Speck auf den Rippen, ganz besonders in unserer Kleinstadt, die ein Biedermeier-Juwel ist, in das mehr Land als Stadt passt. Für eine Stadt kennen sich alle zu gut, und für ein Dorf zu schlecht. In einer Kleinstadt kennt man alle ein bissl und keinen richtig. Man grüßt nur, wen man unbedingt grüßen muss. Ein mindestens über vier Generationen gespanntes Tratsch- und Bezichtigungs-Gespinst spannt sich wie ein Wurstnetz um das Biedermeierjuwel. Es passierte praktisch ständig und von Kindestagen an, dass ich jemanden kennenlerne und zu Hause den Namen erwähne, und die Mutter sagt: Ach, das muss die Tochter von der Soundso sein. Und die Großmutter dann einwirft: Genau, das muss dann das Enkelkind des Soundso sein, oder? Ich kenne den Opa, der war. Ja, was war der: ein Säufer, ein Weiberer, ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein fescher Kerl, ein Nazi, ein Naturbursch, ein Spinner, ein Tachinierer, ein Bürgermeister, such’s dir aus. Und wenn es eine Frau war: eine Furie, eine Schönheit, eine Hur, eine schlechte Mutter, eine liebe Lehrerin, eine, die dann Krebs gekriegt hat, eine Aufgetakelte, eine, die sich hint’ und vorn’ bedienen lässt, eine Abgerackerte. Die, die keinen gefunden haben, die dann weggegangen sind, die Sprache nicht gekonnt haben oder es nicht ins Gymnasium geschafft haben, über die sprach man nie und sicher ist es immer noch so. In unserer Kleinstadt gibt es reichlich Biedermeierhäuser, Jugendstilvillen, Schwefelwasser, Operettenkomponisten-Denkmäler, Rosarien, Weinberge und Kurgäste. Die Kurgäste treiben durch die Rosengärten genauso mühelos wie durch das körperwarme Schwefelwasser, stundenlang dösen und jausnen und kuren sie gegen ihre Leiden an, an jeder Ecke der Kurstadt, die von ihnen seit Jahrhunderten prächtig lebt. Wegen der Kurgäste muss alles gepflegt und schön sauber und ruhig sein, Klavier und Streichinstrumente ausgenommen. Nach 20 Uhr ist die Innenstadt mit einer Punschglasur überzogen, die so dick ist, dass man nach dem Reinbeißen die Zähne sehen kann. Armut, Kriminalität, Drogen, Proletariat und Ausländer: So etwas gibt es vielleicht in Wien, bei uns aber nicht. Bei uns leben Notare, Ärzte, Beamte und Geschäftsmänner, ihre gut gebildeten Ehefrauen mitgemeint. Selten verirrt sich ein Kind von Eltern, die nicht so sprechen oder verdienen wie unsere, in unsere Schule. Um auf Nummer sicher zu gehen, schaut man darauf, dass die Kinder von Notaren, Ärzten, Beamten und Geschäftsmännern, ihre gut gebildeten Ehefrauen mitgemeint, sich nicht mit den anderen vermischen. Am elegantesten trennt es sich konfessionell: die katholischen in die A- und B-Klasse, die protestantischen und orthodoxen in die C. Da ich evangelisch bin, ist mir ein bisschen Diversität vergönnt. Andere Konfessionen gibt es nicht. Die Muslime noch nicht, die Juden nicht mehr.

Auch an den Wochenenden sind sie nur da, um gleich wieder zu verschwinden.

Jeden Tag in der Früh verschwinden die Väter von der Bildfläche. Sie fahren mit Zügen und Autos nach Wien oder sonstwohin in die Arbeit, oder sie gehen gleich ins Wirtshaus. Wenn wir aus der Schule kommen, sind sie noch lange nicht da. Sie gehen nicht einkaufen und kochen kein Essen. Sie stehen nicht vor der Schule oder vor dem Kindergarten, um uns abzuholen. Sie machen nicht mit uns Kindern Aufgabe und sie bügeln dabei auch nicht. Egal, ob am Hauptplatz, in der Schule, auf der Straße oder beim „Konsum“: Untertags ist es bei uns vaterlos. Ein paar Bauarbeiter, Fleischhacker, Opis, Trankler und Busfahrer einmal ausgenommen; aber die sind in ihrer Funktion dermaßen dienstlich unterwegs, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, sie als irgendjemandes Väter zu sehen. Erst am Abend kehren die Väter zurück. Auch an den Wochenenden sind sie nur da, um gleich wieder zu verschwinden, in ihre Werkstätten und Kellerräume, in ihre Feuerwehren und Baumärkte und Jagdhütten und Schützenvereine und Bergwachten und Blasmusikkapellen. Nicht zu vergessen: die Heurigen und Wirtshäuser. Wer ist eigentlich wir? Wir sind die Badener. Und nicht die Mödlinger oder Wiener oder Wiener Neustädter. Noch haben wir nicht einmal eigene Autokennzeichen, wir sind alle N. Wir unterscheiden uns durch Grundstückspreise und wie viele Stationen Südbahn wir von Wien entfernt sind. Wir unterscheiden uns aber auch in Blond und Braun, Hauptschule und Gymnasium, Bub und Mädchen. In Österreich herrscht Gleichberechtigung, deswegen dürfen Mädchen alles, was Buben dürfen. Aber müssen sie auch das Gleiche? Mädchen müssen nur bis 60 arbeiten, und sie müssen nicht unbedingt Kinder kriegen, aber Buben müssen zum Bundesheer! Und jetzt dürfen sie auch noch stricken! Wir verirren uns manchmal im Labyrinth der Privilegien und Pflichten von Geschlechterrollen, aber wir finden immer wieder zur selben Tür hinaus. Es gibt nur eine, und über der steht, auf ein gestärktes Spitzendeckerl gestickt: So ist das eben. Es ist eben so, dass die Frau Matura macht und den Einkauf und dass sie das Waschbecken putzt. Dass sie Kinder bekommt und fertig studiert hat und kocht und die Wäsche aufhängt. Dass sie halbtags arbeiten geht und heimkommt und kocht und die Wäsche abnimmt und die Küche sauber macht und die Speibe wegputzt, wenn es das Kind nicht mehr aufs Klo geschafft hat. Es ist eben so, dass nicht nur ein Vater das nicht kann, sondern all die anderen Väter auch nicht. Sie können das nicht, weil sie ganztags etwas anderes können müssen. Etwas, das die Mütter wiederum nicht können, also, nicht ganz so gut wie die Männer, also, nicht ganz so gut bezahlt wie die Männer und nicht so ganztags. Man darf ihnen da nicht bös sein. Bös, das sind nur die Emanzen. In der Badenerzeitung werden derart schwerwiegende Themen nicht aufgegriffen. Stattdessen wird jede Woche ein anderes „Badener Madl“ auf Seite 3 gekürt, das mit schiefgelegtem Kopf in die Linse lächelt. Besondere Anlässe wie neue Mistkübel, Blumenkisteln oder Parkbänke werden mit „unseren Fotomädchen“ aufgeputzt. Es schadet doch nicht, hübsch sein zu dürfen!

Warum ich ein Kind wollte, wenn ich es unterversorge und verstoße?

Warum sind da nur Männer in der Politik, warum sind die Maler der Bilder in den Museen nur Männer, und warum sind alle Forscher und Wissenschaftler und Architekten auf den Schwarz-Weiß-Bildern nie Frauen? Ich frage nicht, weil ich die Antwort kenne: Es gibt sie nicht. 1985. Erst die Genies und Klassiker, also Hesse und Flaubert und natürlich Bukowski. Dann die erste Brigitte Schwaiger. Dann Simone de Beauvoir und Doris Lessing. Und Marilyn French und Margaret Atwood. Langsam wird mir alles klar. Nun ist es zu spät, ab sofort bin ich eine böse Emanze. Und damit ganz alleine. Es ist schwer, dazu zu stehen. Buben finde ich interessant, sie mich nicht besonders. Und wenn, dann wollen sie: Grapschen. Saufen. Ficken. Autofahren. Rechthaben. Sie wollen auch reden, aber. Die Kinder werden auch morgen die Frauen kriegen, und das wird immer so bleiben, Alice Schwarzer ist eine schiache Lesbe, Abtreibung ist eine Sünde, und das wird immer so bleiben, egal was diese Dohnal in ihrem roten Wien sagt. Ich knirsche mit den Zähnen, die gehören doch alle nur ordentlich durchgefickt, was willst denn von denen! Wenn die Tränen kommen, gehe ich aufs Klo heulen.1989. Ich studiere Biologie. Einen Brotberuf. So wie viele andere aus meiner Kleinstadt studiere ich von zu Hause aus, weil pendeln so bequem ist. In Wien in Windeln studieren, denke ich abfällig über uns Speckgürtler, und beneide die aus den Bundesländern um ihre winzigen Zimmer in den grindigen Studentenheimen, in denen sie erwachsen sein dürfen, während wir am Abend heimfahren und essen, was uns Mutti gekocht hat. Viele aus unserer Stadt ziehen das die ganze Studienzeit durch, weil Wien ja nur 20 Kilometer weit weg ist. 1991 reicht es mir. Ich ziehe auch nach Wien und lerne, mich zwischen Armut, Ausländern, Kriminalität und diesem schrecklichen Verkehr wohlzufühlen. Die Stadt ist nie Vater-, aber auch nicht Mutterlos. Sie ist zu groß, um sich um Einzelne zu scheren. Ich muss niemanden kennen oder grüßen. Ich lese den Falter, gehe auf Demos, beende mein Studium, beginne zu arbeiten und wieder zu schreiben. Wien wirbelt alles, was zu Hause so streng getrennt war, durcheinander: An der Uni, in den Beisln und beim Kellnerieren treffe ich endlich auf Bauernkinder, Schwule, Fleischhauer, Lesben, Afrikaner und Revoluzzerinnen. 1998. Noch bevor die Kinder kommen, zieht es mich wieder in unsere Kleinstadt, weil mir die Weinberge fehlen. Die Kleinstadt ist zwar untertags noch immer erstaunlich vaterlos, aber manchmal sieht man ein Pärchen, und er steuert den Kinderwagen. Die Kinder kommen erst 2006, und 2012. Als ich einen Betreuungsplatz suche, geht es los. Erstens gibt es zu wenige. Zweitens sind die teuer. Drittens gehört ein Kind zu seiner Mutter. Das wird mir seit 15 Jahren nicht gesagt, es wird mir vorgelebt. Dass Kinder gefälligst daheim und nicht im Kindergarten oder im Hort essen sollen, wird mir nicht gesagt. Es wird mir vorgekocht. Dass Kinder nicht bis um vier Uhr Nachmittag im Kindergarten oder Hort sein sollen, wird mir nicht gesagt, sondern es wird mir abgewöhnt, und zwar von den Kindern, die viel zu oft als Letztes geholt werden und mich dann vor der Kindergärtnerin schimpfen. Die steht dann daneben und nickt. Das traut sie sich bei meinem Mann nie. Warum ich unbedingt ein Kind wollte, wenn ich es dann auf tausend verschiedene Arten unterversorge und verstoße? Das ist keine Frage, sondern ein Befund, der wird mir fast nie direkt ins Gesicht gesagt, aber er wird jahrelang ventiliert, und zwar immer in meine Richtung, weil: Die Vormittage sind immer noch unverändert vaterlos. Warum ist alles noch so wie früher? Wo sind die Väter? In Wien könntest du jetzt anonym sein, werfe ich mir an den Kopf. Da gibt’s keinen Heile-Familie-Terror oder Mittags-abholen-Terror und Mutti-kocht-selber-Terror. Da kennt dich keine Sau. Hier schauen sie dir schon ein ganzes Leben lang beim Scheitern zu, und sie haben es immer schon gewusst. Weil sie schon deiner Mutter und Großmutter dabei zugesehen haben, wie sie alles falsch machen, weil was richtig machen: Das ist schwierig, wenn du mit Vagina geboren bist.2021. Ich bleibe am Land. Ich schiebe meine Kinder ab und schreibe darüber, wie unerträglich es ist, dabei zusehen zu müssen, dass sich nichts Wesentliches verändert hat, seit ich vom Kind zur Kindsmutter geworden bin. Dass ich mich davor fürchte, Großmutter zu werden und immer noch sind wir nicht weiter. Vielleicht sogar weniger weit als vor 50 Jahren. Nicht nur am Land und in der Kleinstadt. Immerhin: Es gibt jetzt Krabbelstuben in den hintersten Winkeln unseres Landes. So weit hat es der Feminismus gebracht: Er ist an Land gegangen und hat das Patriarchat so lange ins Wadl gebissen, bis es zähneknirschend Krabbelstuben und Horte errichtet und subventioniert hat. Er hat sich an Land gestrampelt, in Form von Bürgermeisterinnen und Bergsteigerinnen und Feuerwehrfrauen und Biobäuerinnen und Winzerinnen und Kulturrätinnen. Da sitzt er jetzt, der Feminismus, und wartet darauf, dass die Evolution endlich Gas gibt. Die Kiemen sind schon weg, die Saurier waren auch schon dran, und die Vögel sind angeblich schon in Arbeit. Federn soll’s schon geben. ● ○