Essay

Schwellenbrecher


„Menschen, für die es sich zu überleben lohnte“ oder: Courage für Fortgeschrittene. Warum manche Personen

in Diktaturen ungeheure Risiken auf sich nehmen,

um für die Freiheit zu kämpfen, Autoritäten zu kritisieren oder Gefährdete zu retten.

Im Jahr 1946 unterschrieb eine Gruppe von mehreren Personen eine Erklärung, derzufolge sich eine Frau Marie Maibaum ihnen gegenüber „wie eine wahre Mutter benommen hat“. Jeder der Unterzeichnenden, „der verfolgt und in Not war, konnte bei ihr Hilfe finden, durch bereitwillige Aufnahme, manchmal waren wir 6–7 Personen gleichzeitig bei ihr in Schutz genommen“.

Das beschreibt die Historikerin Brigitte Ungar-Klein in ihrem 2019 erschienenen Buch „Schattenexistenz. Jüdische U-Boote in Wien 1938–1945.“ Marie Maibaum, nach der heute kein Platz, keine Straße, ja nicht einmal ein winziger Beserlpark benannt ist, Marie Maibaum, die keine Ehrungen oder Denkmäler erhielt, diese Marie Maibaum muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein. Wenig ist öffentlich bekannt über sie, nur dass ihr Mann, ein jüdischer Architekt, von den Nazis nach Polen deportiert wurde und von dort nie wieder zurückkehrte. In Akten des Wiener Stadt- und Landesarchivs taucht weiters die Information auf, dass sie als Näherin gearbeitet habe.

Bewog Marie Maibaum das Schicksal ihres Mannes, jenes unglaubliche Risiko auf sich zu nehmen, jüdische (oder auch längst konvertierte) Männer und Frauen bei sich zu beherbergen? Wie wir aus Zeitzeugenberichten wissen, war es im Nationalsozialismus schon brandgefährlich, auch nur einer Person Unterschlupf zu gewähren. Helferinnen und Helfer bauten Verschläge, hinter denen sich die sogenannten U-Boote versteckten, teilten ihre ohnehin schon knappen Lebensmittelressourcen, schwindelten ihre Hausmeister und Nachbarinnen an – schließlich konnte man nie wissen. Viele derer, die zum Überleben beitrugen, ehrt heute die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“. Ein Text, den Yad Vashem publiziert hat, beschreibt, wie manche zu Rettern und Retterinnen wurden: „Konfrontiert mit Juden, die an ihre Tür klopften, sahen sich jene, die bis zu diesem Zeitpunkt nur unbeteiligte Zuschauer gewesen waren, gezwungen, sofort eine Entscheidung zu fällen. Dies war in der Regel eine spontane, instinktive menschliche Geste, der eine moralische Entscheidung erst folgte. Oft war es ein allmählicher Prozess, wobei die Retter sich immer intensiver engagierten, um den verfolgten Juden zu helfen. Die Bereitschaft, während einer Razzia oder einer Massenfestnahme jemanden zu verstecken und für einen oder zwei Tage bei sich aufzunehmen, bis etwas anderes gefunden werden konnte, entwickelte sich mitunter zu einer Rettungsaktion, die Monate und Jahre andauerte.“ Im Fall von Marie Maibaum war die Rettung erfolgreich, bei vielen anderen nicht. Was mit einem Moment der menschlichen Geste begann, endete bei manchen im KZ. Courage: Wie entsteht sie? Was bringt die einen dazu, zuzuschauen, die anderen dazu, etwas zu unternehmen? Warum retteten die einen ihre Mitmenschen vor dem Holocaust, die anderen nicht? Oder heute: Warum gehen die einen in Russland oder im Iran auf die Straße, die anderen nicht? Vielleicht kommt es darauf an, eine Schwelle zu übertreten. Das Weitere folgt. Der russische Dichter Ossip Mandelstam überschritt die Schwelle möglicherweise im November 1933, als er ein Gedicht schrieb:

Wir Lebenden spüren den Boden

nicht mehr,

Wir reden, dass uns auf zehn Schritt

keiner hört,

Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –

Betrifft’s den Gebirgler im Kreml.

Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,

Und Zentnergewichte wiegt’s Wort,

das er fällt,

Sein Schnauzbart lacht Fühler von

Schaben,

Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

Schmalnackige Führerbrut geht bei

ihm um,

Mit dienstbaren Halbmenschen spielt

er herum,

Die pfeifen, miauen oder jammern.

Er allein schlägt den Takt mit dem

Hammer.

Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:

In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.

Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –

Und breit schwillt die Brust des Osseten.

Der „Gebirgler im Kreml“, die Anspielung war für die zeitgenössischen Leserinnen und Leser klar, bezeichnete Josef Stalin. Mandelstams Mut, dieses Epigramm gegen einen Diktator zu publizieren, führte zu seiner ersten Verhaftung. Am Ende, im Dezember 1938, sollte sein Tod in einem Gulag stehen. Courage kann auch ein Gedicht sein.

„Warum rettetendie einen ihre Mitmenschen vordem Holocaust, die anderen nicht?“

In einer Demokratie lässt sich kaum erahnen, was das bedeutet: Wenn Äußerungen, wenn Poesie, wenn Kunst direkt ins Gefängnis, ins Arbeitslager, in die Folter, in den Tod führen. Es ist ein Leichtes, von Künstlerinnen und Künstlern kritische Worte gegenüber dem russischen Präsidenten einzufordern, wenn man selbst gemütlich vor dem Fernseher sitzt, erste Reihe fußfrei. Es ist bequem, die ukrainische Bevölkerung zum Aufgeben aufzufordern, wenn die einzige Bedrohung, der man selbst ausgesetzt ist, eine Raumtemperatur von 19 Grad in öffentlichen Gebäuden ist und nicht eine Diktatur.

Es zeigt sich immer wieder, dass der Mut bisweilen im Zentrum des Unterdrückungsapparats heranwächst. Das wurde im Frühjahr in Gestalt der Journalistin Marina Wladimirowna Owsjannikowa deutlich. Sie erlangte internationale Berühmtheit, weil sie mit einem Plakat in der zentralen Nachrichtensendung des staatlichen Fernsehens Russlands neben der Nachrichtensprecherin auftauchte. „Kein Krieg“ stand darauf, und: „Hier werden Sie belogen.“ Wenige Sekunden später wurde die Übertragung unterbrochen. Nur jemand, der oder die wie Owsjannikowa Zugang zu dem Studio hatte, konnte diese Aktion vollbringen. In einer TV-Sendung beschrieb sie die Angst, die sie hatte, und wie es ihr gelang, sich mit Hilfe ihrer Zutrittskarte an den Wachleuten vorbeizuschummeln. Sie sagte: „Ich bin ganz schnell eingedrungen und“ – an dieser Stelle holte Owsjannikowa Luft, so, als würde sie diesen Moment, in dem sie eine Schwelle überschritt, noch einmal erleben – „hielt mein Plakat hoch“.

Jahrzehntelang hatte die Mittvierzigerin und Mutter zweier Kinder im Staatsfernsehen gearbeitet. Irgendwann wurde es zu viel. „In den vergangenen Jahren habe ich leider beim Ersten Kanal gearbeitet und mich mit Kreml-Propaganda beschäftigt. Ich schäme mich jetzt sehr dafür. Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass vom TV-Bildschirm gelogen wurde. Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass Russen in Zombies verwandelt wurden“, erzählt sie in einem Video, das sie selbst online publizierte, anscheinend aus ihrer Wohnung. Im Hintergrund stehen nur ein Bücherregal sowie ein Gemälde mit einem Mohnblumenstrauß – und keine Institution, keine westliche NGO, kein sonstiger Schutzschirm. Später sagte Owsjannikowa noch: „Die meisten Menschen, die für das Staatsfernsehen arbeiten, wissen, dass sie etwas Falsches machen.“

„Die meisten Menschen, die für das Staatsfernsehen arbeiten, wissen, dass sie etwas Falsches machen.“

Wahrscheinlich fühlte auch Hedwig Stocker, Gefängnisaufseherin in der Haftanstalt Krems, geboren 1903, verstorben 1997, Oberwachtmeisterin von 1941 bis 1950, irgendwann ein Unbehagen an dem, was sie dort tun musste. Der Historiker Robert Streibel, der über Stocker forschte, schrieb: „Wer die Eckdaten des Berufslebens von Hedwig Stocker betrachtet, glaubt auf den ersten Blick einen Beweis für die NS-Kontinuitäten im Justizwesen zu entdecken.“ Tatsächlich hatte sie sich jedoch, wie eine damals inhaftierte Frau schrieb, „immer als der schützende und gute Geist der politisch Inhaftierten gezeigt“, und diesen „Möglichkeiten gegeben, ein menschliches Dasein zu führen“. Kurz vor Ende des Krieges versteckte die Aufseherin sogar die inhaftierte Widerstandskämpferin Maria Polak in ihrer Gartenhütte, nachdem sie sie aus dem Gefängnis geschmuggelt hatte – in Absprache mit dem Direktor des Kreisgerichtlichen Gefangenenhauses, wie ihr Stiefsohn dem Historiker Streibel berichtete. Wahrscheinlich rettete sie Polak damit das Leben.

Demokratien belohnen Courage à la longue bisweilen mit Ehrenkreuzen und Auszeichnungen. Diktaturen bestrafen sie mit Haftbefehlen, Folter, dem Tod. Wie viel könnten Menschen in Demokratien, von jenen lernen, die sich in Diktaturen ein Herz gefasst haben, über die Schwelle zu treten.

Der Dichter und Shoah-Überlebende Primo Levi schrieb über Lorenzo Perrone, seinen Retter: „Ich glaube, es ist wirklich Lorenzo zu verdanken, dass ich heute am Leben bin – nicht in erster Linie wegen seiner materiellen Hilfe, sondern weil er mich durch seine Gegenwart ständig daran erinnerte, dass es außerhalb der unseren noch immer eine gerechte Welt gab, Dinge und Menschen, die noch immer rein und intakt waren, für die es sich zu überleben lohnte.“
Menschen wie Maibaum, Stocker, Mandelstam und Owsjannikowa. ● ○