Prinz

„Wer streikt, muss wegziehen"


Das Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich widmet seine nächste große Ausstellung dem „Aufsässigen Land“.

Sie räumt mit der Annahme auf, dass Protest nur in Metropolen daheim ist. Der Schriftsteller Martin Prinz steht als treibende Kraft hinter dem Projekt. Im morgen-Interview erzählt er über ein vielversprechendes Vorhaben sowie sein nächstes Buch „Dahinter nichts“.

Der Schriftsteller Martin Prinz hat ein breites Interessensspektrum. In der Regel schreibt der in Lilienfeld aufgewachsene Autor über Menschen, die tatsächlich leben oder gelebt haben, etwa in seinen Romanen „Der Räuber“ oder „Die letzte Prinzessin“. Sein nächstes Buch handelt vom Arbeitskampf in Traisen 1905. Seine Recherchen führten zu einem weiteren Projekt: Die von ihm mitkuratierte Ausstellung „Aufsässiges Land“ zeigt das St. Pöltner Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich ab Februar 2023. Sie thematisiert den „Bauernbefreier“ Hans Kudlich, protestierende Tabakarbeiterinnen in Stein, die großen Streiks der Jahrhundertwende in Neunkirchen und im Traisental, ein widerständiges Netzwerk von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in der NS-Zeit, den Streik im Traiskirchner Semperit-Werk, die Traktordemonstrationen gegen die Agrarpolitik der Regierung in den 1970er-Jahren sowie die Besetzung der Hainburger Au 1984. Die Bauern- und Arbeiterschaft litt vor 100 Jahren unter heute unvorstellbaren Arbeitsbedingungen. Viele Bauern waren bis 1781 Leib­eigene und durften ohne Erlaubnis des Grundherrn weder heiraten noch dessen Güter verlassen, für die sie nur ein (widerrufliches) Nutzungsrecht hatten. Im Gegenzug schuldeten sie enorme Arbeitsleistungen und Naturalabgaben. Erst 1848 wurde auf Antrag des revolutionären Bauernsohns Hans Kudlich im öster­reichischen Reichsrat das Gesetz zur „Aufhebung des grundherrlich-bäuerlichen Untertänigkeitsverhältnisses“ beschlossen. In einer Rede forderte Kudlich: „Es genügt nicht, dass die Revolution den Bürgern Wiens die demokratische Freiheit gebracht hat, sie muss endlich auch in den Provinzen Realität werden.“

Arbeiterinnen und Arbeitern ging es nicht besser. Um 1850 hatten sie gegen Lohnsenkungen keine Handhabe, ihre Entlassung war jederzeit möglich, die tägliche Arbeitszeit konnte 16 Stunden betragen, Nachtruhe und freier Sonntag waren nicht gesichert, es gab Kinderarbeit und keine Krankenbehandlung. Doch in der k. k. Monarchie waren Demonstrationen und Streiks gewissermaßen undenkbar. Kaiser Ferdinand I. wird als Ausdruck seiner Verwunderung über den Volkszorn im Revolutionsjahr 1848 der Satz zugeschrieben: „Ja, dürfen’s denn des?“ Erst 1867 war es nicht mehr verboten, einer Gewerkschaft anzugehören oder eine Versammlung unter freiem Himmel – sprich: eine Demonstration – abzuhalten (welche allerdings bis 1918 einer Genehmigung bedurfte). Heutzutage gewährt der Artikel 8 des UN-Sozial­paktes, dem Österreich beigetreten ist, ausdrücklich ein Streikrecht. Vor diesem Hintergrund ist etwa der in der Ausstellung thematisierte Protest von Tabakarbeiterinnen 1886 in Stein gegen die Entlassung einer Kollegin als sehr couragiert zu bewerten. Leider blieb er aussichtslos: Die Demonstrantinnen wurden allesamt entlassen. Ebenfalls einen schlechten Ausgang nahm jener Arbeiterkampf in Traisen 1905, über den Martin Prinz recherchiert hat. morgen traf den Schriftsteller im Wiener Café Prückel.

Herr Prinz, wie wurden Sie als Germanist, Theaterwissenschaftler und Schriftsteller zum Kurator einer historischen Ausstellung?

Martin Prinz

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Nun, ich habe nie fertigstudiert, weil parallel zur Diplomarbeit mein erster Roman „Der Räuber“ erschien, und seither lebe ich vom Schreiben. Im Zuge der Recherche für meinen nächsten Roman stieß ich auf das Material, das Auslöser für die Ausstellung war.

Worüber haben Sie recherchiert?

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Über einen Streik in Niederösterreich im Jahr 1905. Da gab es den Fabrikanten Lenz, eine berüchtigte Figur. Karl Kraus hat ihn namentlich in „Die letzten Tage der Menschheit“ aufgenommen, als Ausbeuter. Lenz hatte in Traisen ein Werk übernommen, in dem eigentlich Gelenkverbindungen für Rohrleitungen hergestellt wurden. Mit dieser Fabrik stieg er bald in die Waffenproduktion ein. Er hatte Verträge mit dem russischen Zarenreich, das damals im russisch-japanischen Krieg stand. Und 25 Kilometer taleinwärts wurden Waffen an Japan verkauft. Es ist doch unglaublich, wie sich Weltpolitik auf unscheinbare Weise im Kleinen niederschlagen kann.

Wogegen streikten die Arbeiter dann?

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Gegen die Arbeitsbedingungen und die geringen Löhne. Lenz lenkte kurzfristig ein, weil er ja seine Verträge zu erfüllen hatte. Doch einen Monat später holte er Fremdarbeiter aus Ungarn und Kroatien und entließ diejenigen, die gestreikt hatten. Da wohnten in Traisen auf einmal die Familien von 500 Fremdarbeitern. Diese waren mit staatlicher Unterstützung mit der Bahn hergebracht worden.

Und die Entlassenen?

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Damals war klar: Wer streikt und verliert, muss wegziehen. Gewerkschaftliche Organisation in Betrieben war in vielen Fällen verboten. Darüber hinaus kann man den Verdacht haben, dass die Sozialdemokratie zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf Arbeitskämpfe Kompromisse mit dem Staat eingegangen ist – in der Hoffnung auf das allgemeine oder zumindest männliche Wahlrecht, um bei der nächsten Abgeordnetenwahl als Sieger hervorzugehen. 1916, mitten im Krieg, gab es wieder eine Arbeitsniederlegung im Traisner Lenz-Werk, und die Sozialdemokratie hat diese Streiks nicht mehr anerkannt. Und dann kam der große Jänner­streik 1918, der in mancherlei Hinsicht zentral in der Ausstellung sein wird.

Ging es bei einem Streik mitten im Krieg ebenfalls um die Arbeitsbedingungen?

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Nein, die Arbeiter waren unzufrieden über die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten im Ersten Weltkrieg. Der Streik begann in Wiener Neustadt mit dem Ziel, Arbeiterräte zu den Verhandlungen zu schicken und dort womöglich im Namen einer Republik – also in einem anderen Namen als dem der k. u k. Monarchie! – Frieden zu schließen. Und wie hat sich die Sozialdemokratie dazu verhalten? Zum einen waren die Streikanführer sogenannte Linksextreme, also von der Sozialdemokratie nicht anerkannt. Zum anderen steht in Berichten des deutschen Botschafters in Wien über den Streik sinngemäß: Wenn das so weitergeht, bricht uns der Verbündete Österreich-­Ungarn weg. Da wird es offen ausgesprochen, dass man nur auf die Sozialdemokratie setzen könne. Diese müsse den Streik umpolen.

Und, hat sie das?

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Ja, man hat den Streik eingegraben. Wiener Neustadt war der Wahlkreis des Sozialdemokraten Karl Renner. Er überbrachte die Nachricht, dass man den Streik beenden solle. Und wurde für kurze Zeit von Arbeitern festgesetzt! Das muss man sich einmal vorstellen: Der Gründer der Ersten Republik wird von Arbeitern eingesperrt, weil sie sagen, das ist eigentlich Verrat.

„Ich suche die Geschichten immer dort, wo sie auf den ersten Blick nicht liegen.“

Wie kam es dazu, dass Sie nun eine Ausstellung kuratieren?

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Vor zwei, drei Jahren erzählte ich Christian Rapp, dem wissenschaftlichen Leiter des Hauses der Geschichte, von meinen Recherchen. Er meinte, die Weltbühne Traisen eigne sich gut als Zentrum für eine Ausstellung. Wir beginnen mit dem Jahr 1848 und beleuchten den Streik kurz vor Ende der österreichischen Besatzung, ebenso wie Marienthal, die Arbeitslosen, die in den Nationalsozialismus hin­über­wandern. Außerdem das Semperit-Geschehen und Hainburg. In Summe soll die Ausstellung mit dem Missverständnis aufräumen, dass große Revolten oder Streiks immer nur von den Metropolen ausgehen.

Und wie gehen Sie im Buch mit dem Material um?

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In „Dahinter nichts“ ist der Streik 1905 eine Vergangenheitsebene, die angesichts des jetzigen Krieges in der Ukraine umso stärker in die Gegenwart einbricht. Ich suche die Geschichten immer dort, wo sie auf den ersten Blick nicht liegen, oder: die Geschichten hinter der Geschichte.● ○