Statements

Schmutz, Schmerz, Gagen


Wer ein Kunstwerk – einen Film, ein Buch, eine Performance, ein Theaterstück – präsentiert, stellt damit immer einen Teil seiner oder ihrer selbst zur Disposition. Es ist dann draußen in der Welt, und was damit geschieht, entzieht sich der Kontrolle. Andere können es interpretieren, kritisieren, ja, bisweilen sogar in der Luft zerreißen. Zur Job Description von Künstlerinnen und Künstlern gehört also auch: Mut. Diesen benötigen sie freilich ohnehin schon für die Entscheidung, sich auf ein Berufsleben ohne Netz und mit hohem ökonomischem Risiko einzulassen. Für die folgenden Seiten befragten wir Menschen, die zudem in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung – etwa mit ihrer Familiengeschichte, mit ihren Emotionen, mit der Gesellschaft – besondere Courage beweisen. Es gibt einiges von ihnen zu lernen.

Moritz Franz Beichl, Schriftsteller und Regisseur

Courage hat oft mit der Überwindung von Angst zu tun. Darüber habe ich nachgedacht und festgestellt, dass ich in meiner Kunst in den letzten Jahren uneitler wurde, mich mehr der Sache hingebe. Ich sehe im Theater oft Stücke, die inhaltsleer bleiben und bei denen es nur darum geht, gut auszusehen. Mich interessiert aber an Kultur, wenn jemand Mut zu Hässlichkeit und Ehrlichkeit, Authentizität und Rotzigkeit hat. Ich inszeniere gerade im Bronski & Grünberg Theater Wien mit „Effi Briest“ eine von mir geschriebene Komödie frei nach Fontane: Selbst bei einer Komödie muss man als Künstler investieren und in sich graben. In meinem Roman „Abschaffung der Wochentage“ wollte ich über Liebesschmerz schreiben. Während des Schreibens habe ich gemerkt, dass ich tiefer gehen will, und habe mich entschieden, mich mit psychischen Krankheiten und Psychiatrie zu befassen. Um die schlimmsten Situationen dann mit einem Witz zu brechen. Ich finde, man soll lachen. Man lacht auch, um das zu überstehen. Es ist eine fiktive Geschichte, aber von eigenen Erfahrungen inspiriert. Ich hatte in meinem Leben immer wieder mit Depressionen zu tun. Es hat mir Mut abverlangt, mich zu öffnen, aber es ist auch befreiend. Depressionen sind nach wie vor ein Tabu. Wenn ich schreibe und Theater mache, muss ich mich mit Themen verbinden, Anknüpfungspunkte haben. Das Thema Beziehung kehrt bei mir immer wieder, und ich probiere, in meiner Kunst queer und feministisch zu arbeiten. Mein Job ist natürlich ein künstlerischer, aber ich möchte politisch sein. Ich möchte Geschichten erzählen, wo es in den Dreck und Schmerz hineingeht und unangenehm sein darf. Ich möchte Fragen stellen und Leute berühren, zum Fühlen und Nachdenken bringen.

„Mut, mich zu öffnen"

Moritz Franz Beichl, Theaterregisseur und Autor, publizierte kürzlich seinen ersten Roman („Die Abschaffung der Wochentage“, Residenz). Er wuchs in Niederösterreich auf, lernte die Theaterwelt an der Jungen Burg kennen, studierte Regie in Hamburg, inszenierte unter anderem am Landestheater Niederösterreich und ist Hausregisseur am Deutschen Theater Göttingen. 2019 bekam er den Nestroy-Nachwuchspreis.

Julischka Stengele, Künstlerin

Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen Mut und Notwendigkeit. Etwa die Proteste im Iran: Diese Frauen und ihre Aktionen sind unglaublich mutig, gleichzeitig werden sie aber an den Punkt gebracht, an dem es keine andere Wahl mehr gibt, außer so zu handeln. Ich finde es mutig, sich Normen zu widersetzen, auch wenn man die möglichen Konsequenzen für das eigene Handeln absehen kann. Mir wird oft gesagt, wie mutig und wichtig meine Arbeit sei. Aber ich kann selten etwas damit anfangen. Besonders wenn ich körperbezogen arbeite, bezeichnen es andere als couragiert. Ich gehe dabei aber nicht wirklich ein Risiko ein, wenn man sich den sehr stark akademisierten Kunst- und Kulturkontext ansieht. Und ich arbeite in einem Land, in dem ich keine Zensur fürchten muss. Es war eher mutig, dass ich mit meinem Hintergrund in die Kunst gegangen bin und jetzt in der Lage bin, Gagen zu verhandeln. Ich komme aus einem Armutsmilieu, nur ungefähr ein Prozent meiner demografischen Schicht schafft es an Universitäten, ins akademische Umfeld. Mit dem Wunsch, Künstlerin zu sein, kam ich nach Österreich – ohne jede Sorte von Kapital, weder kulturell noch sozial oder ökonomisch. Das war viel mutiger als mich im Aktsaal zu entkleiden und dort Modell zu stehen.

„Zu wenig kuratorisches Risiko."

Was die österreichische Gesellschaft betrifft, steht es ganz schlecht. Zivilcourage auf der Straße bei rassistischen Beleidigungen oder physischer Gewalt bekomme ich nur selten mit. Außerdem denke ich, dass vor allem in der bildenden Kunst Österreichs nicht besonders mutig kuratiert wird. Man beruft sich gerne auf wenige bereits etablierte Positionen, es wird wenig kuratorisches Risiko eingegangen. So kommt keine Durchlässigkeit zustande.

Julischka Stengele lebt in Wien und agiert international in den Feldern Kunst, Kultur und Bildung. Die vielfältige Arbeit der Künstlerin, Textproduzentin, Kulturschaffenden und Kuratorin widmet sich sozialen, ökologischen und ästhetischen Aspekten sowie Möglichkeiten eines guten (Zusammen-)Lebens. 2021 erhielt sie den H13 Niederösterreich Preis für Performance.

Valerie Blankenbyl, Regisseurin

Für mich hat Filmemachen mit Mut zu tun. Ich bin sehr selbstkritisch. Ein Filmprojekt dauert lange, und dabei kommen immer wieder Zweifel auf, ob es nicht noch eine Facette gibt, die beachtet werden sollte. So werden Filme möglicherweise intensiver und komplexer. Je mehr man in die Tiefe geht, desto mehr Aspekte werden dann wahrgenommen. Wenn man sich dem Publikum stellt, gibt man die Fackel weiter, sich Gedanken zu machen. Gute Dokumentarfilme geben Anstoß, selbst etwas zu tun. Ein Film beginnt für mich damit, dass ich etwas nicht verstehe und meine Komfortzone verlasse, um es zu verstehen. Meistens bearbeite ich Themen, von denen ich annehme, dass sie vielen fremd sind und man sich damit auseinandersetzen sollte. Bei meinem neuen Projekt über Hass im Netz denkt man vielleicht: Was hat das mit mir zu tun? Hoffentlich wird im Film klar, dass Hass nicht nur im Internet existiert und die Frage auch lauten kann: Wie viel Hass habe ich in mir, und wie schnell könnte er in der entsprechenden Situation zum Vorschein kommen? Ein unangenehmer Gedanke. Beim Filmen bin ich Menschen begegnet, die ich im Alltag nicht treffen würde und die nicht denken wie ich. Für „The Bubble“ haben wir mit einem Waffennarr und Trump-Anhänger gedreht. Ich war erstaunt, dass wir einander mögen und respektieren konnten. Es gab bisher immer Möglichkeiten, Brücken zu schlagen. Natürlich muss ich überlegen: Wem biete ich eine Plattform? Wie erzähle ich etwas so, dass ich für andere Lebenssituationen Verständnis schaffe, aber auch meine eigene Haltung bewahre? Es ist mein Auftrag, in den Filmen unterschiedliche Meinungen nebeneinander existieren zu lassen. Etwas verstehen zu wollen bedeutet, dass man sich öffnen muss.

„Filmemachen hat mit Mut zu tun."

Valerie Blankenbyl befasste sich in ihren Dokumentarfilmen mit Jesus-Reinkarnationen („I am Jesus“, 2011), indischen Leihmüttern („Ma Na Sapna – A Mother’s Dream“, 2013) und der Rentnersiedlung „The Villages“ in Florida („The Bubble“, 2021). Gerade entwickelt sie einen Langfilm über Hass im Netz. Sie wohnt in Wien und Niederösterreich.

Schwesta Ebra, Rapperin

Aktuell finde ich wahnsinnig mutig, dass iranische Frauen aus Protest ihre Kopftücher ablegen, obwohl sie im schlimmsten Fall getötet werden. Als der Transmann Malte C. beim Christopher Street Day in Münster die Belästigung eines lesbischen Paares beobachtete, einschritt und vom Angreifer getötet wurde, berührte mich das auch sehr. Couragiert finde ich, wenn man den Mund in Situationen aufmacht, die für einen selbst gefährlich sein können. Man muss unterscheiden, ob man das in einem Land macht, in dem Meinungsfreiheit herrscht oder nicht. Wenn man in einer gewissen Öffentlichkeit arbeitet, wissen die Leute ungefähr, wie man tickt. Wenn man auf jemanden aus dem anderen politischen Lager trifft, kann das auch ein Nachteil sein. Physisch ist mir zum Glück noch nichts passiert, verbal schon – online und offline. Ich weiß nicht, ob ich in Bulgarien oder der Türkei, den Herkunftsländern meiner Eltern, den nötigen Mut für Kunst und Aktivismus hätte. Im ersten Coronajahr war ich außerdem noch um einiges politischer in meiner Selbstdarstellung, aber auch um einiges frustrierter im Alltag. Momentan nehme ich davon Abstand und bin weniger direkt politisch, weil es einem hauptsächlich Hass einbringt. Eine komplette Trennlinie möchte ich aber auch nicht ziehen – die Verbindung meiner Kunst mit politischen Themen ist eine Hassliebe.

„Im schlimmsten Fall getötet."

Österreich ist zwar ein sehr konservatives Land, aber in mutiger Erinnerung habe ich die Mahnwachen an der Wiener Ringstraße, nachdem die Porträts von Holocaustüberlebenden zerschnitten und beschmiert wurden. Ich war mit meiner Partnerin dort. Die Nächte waren kalt, aber die Leute waren alle sehr solidarisch und zugänglich. Einmal hat ein Chor gesungen. Schade, dass immer erst so etwas passieren muss, bevor sich die Leute an den Händen nehmen.

Schwesta Ebra ist Ebru Sokolova, die im Waldviertel aufwuchs und in Wien lebt. Sie studierte Lehramt, bevor sie sich der Rap zuwandte. In ihren Texten sowie in kurzen Videos auf Instagram und Tiktok thematisiert sie unter anderem toxische Männlichkeit.

Martin Pollack, Autor

Nicht nur für Schreibende ist es wichtig, dass man sich nicht einschüchtern, nichts vorgeben, nicht bei der Arbeit behindern lässt und für das, was man verfolgt, einsteht und sich einsetzt. Ich habe mich immer wieder mit Osteuropa beschäftigt und zur Zeit des Kommunismus in Polen studiert. Da brauchte es eine gewisse Courage, man selbst zu bleiben. Das habe ich immer versucht und mache ich bis heute in meiner Arbeit. Mut und Konsequenz brauchte ich auch für die Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte. Ich komme aus einer Familie mit bekennenden Nazis, mein Vater war leitender Gestapo-Beamter und Offizier des SS. Jeder hat lieber einen Helden zum Vater. Ich wusste, wenn ich mich näher mit seiner Funktion beschäftige, kommen grausige Dinge zutage. Meine Familie hat nicht goutiert, dass ich darüber geschrieben und gesprochen habe. Es war in Österreich ja eine weit verbreitete Tendenz, dass man das verdrängt und darüber schweigt. Ich habe den Standpunkt bezogen, diese Geschichten offen zu erzählen, auch wenn das schmerzlich und unbequem sein mag. In Osteuropa war ich hautnah mit Opfern konfrontiert. Ich habe von Anfang an erzählt, aus welcher Familie ich komme. Wenn wir mit unseren Nachbarn in Osteuropa leben und auskommen wollen, müssen wir uns der eigenen Geschichte stellen. Das sind wir auch unseren Kindern schuldig, sonst erben sie Konflikte.

„Schmerzlich und unbequem."

ch habe in meiner Arbeit auch immer den Dialog gesucht. Offen zu reden ist der einzige Weg zur Verständigung, dazu braucht es Courage. Konflikte sind ein Resultat dessen, dass man sich nicht offen mit der Vergangenheit und dem Nachbarn, dem Fremden, der jenseits der Grenze ist, auseinandersetzt.

Martin Pollack ist Slawist und Experte für osteuropäische Geschichte, Journalist und Essayist, dokumentarischer Autor von etlichen Büchern und Übersetzer von u. a. Ryszard Kapuściński. Er machte es sich zur Lebensaufgabe, (Familien-)Geschichte aufzuarbeiten und darüber zu schreiben, zuletzt in: „Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante“ (Zsolnay). 2018 erhielt er den Staatspreis für Kulturpublizistik, 2021 den Kulturpreis Nieder­österreich in der Sparte Literatur.