Kolumne

Dies ist keine Show


Das Leben schreibt die schönsten und die grausamsten Geschichten.

Im Laufe meines Schriftstellerlebens bereiste ich viele Länder, lernte unterschiedliche Menschen von allen Kontinenten kennen, unterhielt mich in Sprachen, die ich selbst beherrsche oder mittels Dolmetscher und Übersetzungs-Apps, hielt und halte Kontakte über viele Jahre. Auch wenn es nur hin und wieder passiert, freue ich mich, wenn meine Freundinnen und Freunde aus der ganzen Welt Nachrichten schicken.

2004 nahm ich an einem Schriftstellerprogramm an der Universität von Iowa teil, das drei Monate dauerte. Wir, etwa 30 Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus 30 Ländern hielten Vorträge und Lesungen an der Uni und arbeiteten mit Studenten an Texten und Übersetzungen. Unsere Theaterstücke wurden nicht nur in Iowa, sondern auch in St. Louis, Portland und New York aufgeführt. Wir bereisten weitere Städte, besuchten Theater, Museen, Galerien, aber auch Amish People oder Vieh­auktionen im Mittleren Westen. Heute kann ich sagen, dass dieser Aufenthalt zu den Höhepunkten meines Schriftstellerlebens gehört.

Zu Natalija Woroschbyt und Maxim Kurotschkin aus der Ukraine fand ich sofort eine Verbindung. Beide sind Dramatiker, Dramaturgen, Drehbuchautoren und Regisseure. Wir hatten uns viel zu erzählen. Außer der gemeinsamen Sprache Russisch verbanden uns vor allem die slawische Seele, die Schwingungen zwischen den Worten, die politische Auflehnung gegen totalitäre Systeme, die wir allzu gut kannten und am eigenen Leib erfahren mussten.

Gegen Ende des Programms waren wir bei den Ortsbauern zu einem Erntedankfest eingeladen, sprach mich Maxim auf die Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 in der damaligen Tschechoslowakei an. Während sich die anderen Schriftstellerkollegen in der Scheune an köstlichen Speisen labten und ausgelassen zu Country­musik tanzten, saßen wir draußen auf Strohballen und plauderten. Maxim ließ sich detailliert erklären, wie die Tschechen und Slowaken auf die Invasion der Armeen des Warschauer Paktes reagiert hatten und wie ich es persönlich wahrgenommen hatte.

Ich war damals 17 und erinnere mich sehr genau an den Morgen des 21. August, als über uns Militärhubschrauber kreisten und die Stadt mit russischen Panzern besetzt war. Rundfunk und Fernsehen schwiegen, nur durch das verbotene Radio Free Europe erfuhren wir, was in unserem Land gerade passierte. Der öffentliche Verkehr stand still, die Straßen waren verbarrikadiert. Irgendwann hörten wir, dass einige Menschen erschossen worden waren.

Nur weil sich unsere Regierung der militärischen Übermacht des „großen Bruders“ ergab und der damalige Bundespräsident Ludvík Svoboda zum gewaltlosen Handeln aufrief, kam es zu keinem Krieg. Nach einer guten Woche war alles vorbei. Die Militärs zogen aus den Städten ab, die Müllabfuhr beseitigte die Fäkalien der Besatzer von den Straßen. Am 1. September gingen wir voller Angst wieder in die Schule. Darauf folgte die Zeit der sogenannten Normalisierung, die nichts anderes war als die Bestrafung jener, die es während des Prager Frühlings wagten, besonders mutig zu sein.

„Ich möchte mich bei dir im Namen des sowjetischen Volkes für die Invasion entschuldigen“, sagte Maxim zu mir. „Dazu hatten Breschnew und die Seinen kein Recht.“

Heute, viele Jahre danach, muss ich an dieses Gespräch denken, wenn ich die Nachrichten aus der Ukraine verfolge. Natalija und Maxim haben sich in ihrem Land und auch im Ausland ein großes Ansehen als gefragte Theaterfachleute erworben. Kurz bevor der Krieg begann, gründeten sie mit befreundeten Dramatikern ein AutorInnen-Theater in Kyjiw, das Anfang März dieses Jahres feierlich eröffnet werden sollte. Dazu kam es nicht.

Gleich am zweiten Tag des Krieges floh Natalija mit Tochter, Mutter und einer Katze nach Lwiw / Lemberg. Dort wohnte sie zusammen mit anderen Künstlern in einem Theater. Sie schickte mir Fotos mit provisorischen Betten und Matratzen auf der Bühne und im Zuschauerraum, auf denen die Menschen sitzen oder liegen, während sie verzweifelt auf ihre Handys starren und Nachrichten an ihre Liebsten schicken.

Kurze Zeit danach bekam sie ein dreimonatiges Aufenthaltsstipendium für Wien, wo ich sie traf. Sie hat sich inzwischen sehr verändert. Aus einer jungen, unbeschwerten Frau wurde eine Kämpferin. Seit 2014 schreibt und inszeniert sie Theaterstücke zum Thema Unruhen und Krieg in der Ukraine. Sie war eine der AktivistInnen der Maidan-Proteste (darüber schrieb sie das Stück „Tagebücher des Maidan“), bereiste Donezk und Luhansk, sprach mit Menschen vor Ort. Ihre Theaterstücke „Zerstörte Straßen“ und „Sascha, bring den Müll raus“ werden vor allem seit Kriegsbeginn auf den größten Bühnen der Welt gespielt. Und auch jetzt, während des Krieges, ergeben sich die ukrainischen Künstler, die im Land geblieben sind, nicht ihrem Schicksal. In Kellern, ausgebombten Häusern, auf beschädigten Bühnen führen sie ihre Stücke weiter auf.

Maxim, der sein Studium in Moskau und seine jahrelange Tätigkeit an russischen Theatern mittlerweile für den größten Fehler seines Lebens hält, ist in der Ukraine geblieben und kämpft als Soldat für sein Vaterland. Auch mit ihm bin ich in regelmäßigem Kontakt. Er schreibt, dass er sich zurzeit in Donezk aufhält und sich einigermaßen sicher fühlt. Berührend war sein Abschied von seinen Eltern. Auf Social Media postete er ein Foto von ihnen, wie sie auf der Couch sitzen und sein Gewehr am Schoß halten. „Noch geschwind zu Mama und Papa laufen. Wie könnte man sie nicht lieben?“, schrieb er. „Sie sind zu allem entschlossen. Genauso wie ich.“

In der Tschechoslowakei haben wir uns 1968 ergeben, ergeben müssen, und dadurch die Abhängigkeit und viele Missstände im Land für lange 21 Jahre in Kauf genommen. Die Ukraine kämpft für ihre Unabhängigkeit. David gegen Goliath. Auf meine Frage, was er den Europäern gern von der Front mitteilen möchte, antwortete mir Maxim: „Vertraue nicht, vertraue nicht, vertraue niemals Moskau!“

Natalija ist wieder in ihrer Wohnung in Kyjiw. Sie kann, wer weiß, wie lange noch, durch die Straßen spazieren, jeden Tag sehen, wie Menschen mit provisorisch zusammengeschnürten Gepäckstücken die Bahnhöfe stürmen, Kinder in die Schule laufen und Geschäfte sporadisch mit Lebensmitteln beliefert werden. Sie kann wieder ihre Blumen gießen, sich an ihren Bildern und Büchern erfreuen, ihre Katze füttern und Freunde, die in der Stadt geblieben sind oder wieder da sind, treffen. Es ist ihr sogar gelungen, die Premiere ihres neuen Theaterstückes „Getreidespeicher“, das schon vor längerer Zeit auf dem Plan gestanden war, auf die Beine zu stellen. Zu der Aufführung kam auch Maxim, der seine 14-­jährige Tochter endlich wieder in die Arme schließen konnte.

„Europa soll sich an diesen Krieg nicht gewöhnen“, schrieb mir Natalija unlängst. „Er findet nämlich nicht nur zwischen Russland und der Ukraine statt, sondern betrifft uns alle. Wir haben noch nicht genug Unterstützung von der Welt bekommen. Wir brauchen eure Komplizenschaft, wichtige politische Weichensteller! Ihr sitzt wie dankbare Zuschauer im Theater, jubelt, spendet stehende Ovationen, werft Blumen auf die Bühne und vergesst, dass ihr auch Geiseln seid und dies keine Show ist.“● ○