Büchertalk mit Veronika Trubel, Felicitas Hoppe und  Erik Fosnes Hansen (v. l.), Europäische Literaturtage 2021
Büchertalk mit Veronika Trubel, Felicitas Hoppe und Erik Fosnes Hansen (v. l.), Europäische Literaturtage 2021

Europäische Literaturtage

Auf Buchfühlung


„Das Komische im Angesicht der Katastrophe ist eine Kulturtechnik, die hilft, mit dem Unfassbaren zu koexistieren“, sagt der Schriftsteller Walter Grond. Seit 14 Jahren konzipiert er die Europäischen Literaturtage in Krems. Heuer stellte er dem Festival in der Wachau das Motto „Komik und Krise“ voran. Auch für diesen Herbst gelang es, prominente Gäste zu gewinnen, darunter Mircea Cărtărescu, Theresia Enzensberger, Barbi Marković, Ljuba Arnautović sowie Hervé Le Tellier. Den Eröffnungsvortrag hält die ukrainische Schriftstellerin Natalka Sniadanko – lesen Sie dazu das Interview, das ihr Kollege Thomas Sautner mit ihr führte. Eine Feierstunde beschließt das Literaturfestival, nämlich die Verleihung des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln an Miljenko Jergović, der „sich mit seiner Literatur aufs Spiel setzt“, wie es Thomas Ballhausen in seinem Essay über den Preisträger so treffend formuliert.

17. bis 20. November, Klangraum Krems Minoritenkirche, literaturhauseuropa.eu

Natalka Sniadanko

„Ich wäre lieber Rocksängerin geworden"


Die ukrainische Schriftstellerin Natalka Sniadanko kann selbst kaum glauben, was der Krieg mit ihren Überzeugungen angestellt hat. Im morgen-Gespräch erzählt sie über Lehrmeisterinnen und Lehrmeister wie Elfriede Jelinek, Franz Kafka und Günter Grass, über die Tücken des literarischen Übersetzens und warum ihr keine andere Wahl bleibt als das bisher Undenkbare.

Ihr Mann hat sich freiwillig zur Armee gemeldet, ihre Eltern harren in Lwiw / Lemberg aus, sie und ihre beiden Kinder hingegen sind in Deutschland untergekommen. Wie es der ukrainischen Schriftstellerin und Übersetzerin Natalka Sniadanko dieser Tage geht, ist insbesondere in jenen Momenten zu hören, in denen sie nicht spricht. Ihre gedehnten Atemzüge. Ihr unbewusstes, leises Seufzen immer wieder. Welch humorvoller Mensch Natalka Sniadanko ist, blitzt in den Momenten durch, in denen es in unserem Telefonat um jene Dinge geht, um die sich ihr Leben vor Russlands Krieg drehte. Natalka Sniadanko lacht auf, wenn sie von ihrem Computer-Ordner mit der momentan geradezu fantastisch anmutenden Aufschrift „Neuer Roman“ erzählt. Wenn sie sich die Idee ausmalt, einen unlesbaren Roman in den verschiedensten Sprachen zu schreiben. Oder wenn sie darüber nachdenkt, ob künstliche Intelligenz womöglich schneller lernt als manche Schriftstellerin.

Die wichtigste Frage zuerst: Wie geht es Ihrer Familie, Ihrem Mann?

Natalka Sniadanko

:

Er ist im Krieg. Soweit ich weiß, ist mehr oder weniger alles in Ordnung. Gestern war es zumindest so. Heute habe ich noch nicht mit ihm telefoniert. Die Eltern sind in Lemberg, denen geht’s auch einigermaßen. Die Kinder sind mit mir. Ich bin ja auf Einladung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Ich bin froh, wenn ich in der Nähe meiner Kinder bin, sie unterstützen kann und sie den Krieg nur aus der Ferne mitbekommen.

Kommen Sie bei alldem zum Schreiben?

Nein. Nur Artikel und Essays, Blogs, Tagesaktuelles. Aber: Ich habe ein File auf meinem Computer, das heißt „Neuer Roman“ …

… und ist vermutlich komplett leer.

Nicht ganz! Es steht schon was drin! Eigentlich sogar viel, aber eben nur die Idee und das Konzept. Bleibt nur noch die Kleinigkeit, den Roman auch zu schreiben.

Sie sind Schriftstellerin, übersetzen aber auch Literatur. Woran bemisst sich die ideale literarische Übersetzung?

Wichtig ist, die Melodie zu spüren in der Originalsprache. Literarisches Übersetzen fängt an, wenn man nicht nur den Sinn wiedergibt, sondern den Stil, den Klang, die Sprache des Autors. Und es geht natürlich auch um Wirkung. Bei meinem letzten Buch zum Beispiel hat meine Lektorin den Titel geändert, denn wörtlich übersetzt hätte er geheißen: „Schulscheinheftl von Erzherzog Wilhelm und sein seidener Schlafrock“. Im Original, auf Ukrainisch, klingt das geheimnisvoll und auch sinnvoll, auf Deutsch aber teils doch plump, und es sagt nichts aus. So lautet der Titel nun also: „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“.

Das ist nicht nur inhaltlich ein völlig anderer Titel, sondern verspricht auch einen amüsanten Roman.

Genau. Wenn das wörtliche Übersetzen nichts hergibt, muss man sich etwas einfallen lassen. Wenn der Sinn verloren geht, muss man ihn neu errichten.

Was ist ergiebiger beziehungsweise schwieriger: selbst Literatur zu schaffen oder sie zu übersetzen?

Übersetzen ist doch einfacher, man hat nicht das erschreckend leere Blatt vor sich. Ich habe einen Text, mit dem ich arbeiten kann, und selbst wenn ich an einem Arbeitstag nicht gut drauf bin, kann ich zumindest eine Rohversion übersetzen. Aber manchmal gibt es auch bei Übersetzungen Stellen, die einfach nicht zu schaffen sind, weil die Wirkung verloren geht. Und manchmal sind es auch einfach schlechte Texte, die man übersetzen muss.

Was passiert in so einem Fall? Haben Sie dann die Ambition, dass die Übersetzung besser wird als das Original?

Hm. Besser als das Original hieße ja, dass der Text umgeschrieben werden müsste, das wäre eine Grenzübertretung – der Text sollte ja von der Übersetzerin nicht verändert werden.

„Selbst als Marbacher Projekt ist es zu glasperlenspielig!“

Anderseits ist es vermutlich schwer erträglich, einen schlechten Text abzugeben, wenn ein guter möglich ist.

Ja, das ist wirklich ein Dilemma. Und beim Übersetzen sieht man ja wesentlich mehr als beim Schreiben, man sieht, was das Lektorat übersehen hat. Man korrigiert. Aber was soll’s, einen idealen Text gibt es nicht. Man findet immer irgendwas, irgendeine Verbesserungsmöglichkeit. Insofern ist ein Text nie fertig. Nie.

Mich lässt die Idee nicht los, dass manche literarische Übersetzung besser ist als das Original.

Es gibt Passagen, die lassen sich in einer Sprache besser, treffender, melodischer formulieren als in einer anderen. Je nach Inhalt und Stimmung ist ein Text einmal in dieser, dann in jener Sprache prägnanter und flüssiger machbar.

Insofern entstünde womöglich der ideale Roman, wenn Sie die verschiedensten Sprachen kombinieren und daraus einen multi-­lingualen Roman komponieren. Das gab’s noch nie, oder? Wäre doch spannend!

Wie schön, die Frage bringt Natalka Sniadanko lauthals zum Lachen. Das wäre, ruft sie, die Immigranten­sprache. Ja. Aber der Roman wäre völlig unlesbar. Ein völlig utopisches Projekt.

Als verrücktes experimentell-­universitäres Projekt im Marbacher Literaturarchiv wäre es vielleicht sogar realistisch.

Selbst als Marbacher Projekt ist es zu glasperlenspielig!

Literarisches Schreiben, sagten Sie einmal, sei das Anstrengend­ste, was man sich als Künstler aussuchen kann. Nietzsche verglich es mit „Tanzen in Ketten“ – die Leichtigkeit muss so gut vorgetäuscht werden, dass die Unmöglichkeit der Angelegenheit nicht auffällt. Warum tun sich dennoch so viele Literatur an? Warum schreiben Sie?

Man ist für irgendetwas begabt, und was das ist, kann man sich nicht aussuchen. Ich wäre lieber Rocksängerin geworden, das lohnt sich mehr. Und man erreicht auch ein größeres Publikum. Oder als Sportlerin – da könnte ich Olympia gewinnen. Aber das Schreiben ist nun einmal das, was ich kann. Damit versuche ich, mich nun durchzuquälen.

Früher waren Sie Journalistin.

Ich habe für einige Lemberger Tageszeitungen im Kulturressort gearbeitet. Bis sie dort feststellten, dass erstens keine Zeitungen mehr auf Papier gedruckt werden müssen und dass zweitens die Leute über Kultur angeblich nicht mehr in der Zeitung lesen wollen. Also habe ich das bleiben lassen. Ab und zu schreibe ich noch Kolumnen und Artikel.

Hat das journalistische Schreiben geholfen oder mussten Sie es sich als Literatin eigens abgewöhnen?

Im Schreiben ist alles gut, was man gelernt hat. Jede Erfahrung – positiv oder negativ – ist hilfreich fürs Schreiben. Je mehr Erfahrungen, desto besser wird man. Schreiben kommt vom Leben und vom Leiden und vom Erfahrungen-Verarbeiten.

Ihre Lehrerinnen und Lehrer waren auch Franz Kafka, Günter Grass, Elfriede Jelinek und viele mehr, die Sie übersetzt haben. Was ist das Wichtigste, das Sie von ihnen gelernt haben?

Das Wichtigste ist vermutlich, zu lernen, wie mit dem Wort umzugehen ist, wie sparsam. Wie baut man einen Satz, was kann man mit Fantasie machen, was mit Technik. Wobei Schreiben etwas ist, das man intuitiv machen muss, damit es interessant ist. Natürlich kann man auch kalkuliert schreiben, das machen ja auch viele, etwa in der Unterhaltungsliteratur. Man hat das Konzept, die Form, und die füllt man dann. Aber das wird sich vielleicht bald erübrigen, weil es die künstliche Intelligenz übernimmt. Neulich war ich bei einem Literaturfestival, das die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk organisierte, und sie erzählte von ihrer Erfahrung, davon, wie erschreckend gut KI-Programme bereits darin sind, Texte zu entwerfen. In manchen Passagen merkt man zwar, dass es noch nicht restlos funktioniert, aber die Algorithmen lernen und entwickeln sich schnell. Schneller als manche Autoren sich entwickeln.

Es heißt, der ukrainische PEN-Club verbiete es seinen Mitgliedern, gemeinsam mit russischen Kollegen aufzutreten. Stimmt das?

Das stimmt nicht, und es würde auch nicht gehen. Wir leben in einem freien Land und jeder entscheidet für sich, was er tut. Viele ukrainische Autoren haben gemeinsam beschlossen, bis zum Kriegsende nicht zusammen mit russischen Autoren aufzutreten.

Aber viele davon stellen sich gegen Putins Regime, gegen den Krieg.

Ich weiß, aber wir können keine Ausnahme machen. Es tut mir unglaublich leid, weil es wichtig wäre, sich mit Kollegen zu treffen, aber nur, wenn wir die Sanktionen lückenlos durchsetzen, haben wir die Chance, diesen Krieg und die postkolonialen Ambitionen Russlands zu beenden. Die russischen Sportler, die unter Sanktionen fallen, können ebenso regimekritisch sein, aber man kann es nicht in jedem einzelnen Fall prüfen, es führt nur zu Verwirrung. Die Initiative „Cancel Russian Culture“ ist entscheidend, weil Kultur der Hauptbestandteil der russischen Propaganda ist.

Ihr boykottiert alle russischen Künstlerinnen und Künstler, nur weil sie aus Russland sind? Das ist doch nationalistisches Denken. Das widerspricht sämtlichen aufklärerischen Wertvorstellungen. Und ihr schadet Menschen, die an eurer Seite gegen Krieg und Diktatur kämpfen.

Wir boykottieren russische Künstler nicht wegen ihrer Nationalität, sondern weil Russland in der Ukraine einen brutalen Krieg führt. Es ist ein Teil der Sanktionen, die gegen Russland gerichtet sind, und ich sehe keinen Grund, warum gerade für Kulturschaffende Ausnahmen gemacht werden müssen. Selbst regimekritische russische Künstler teilen oft die Überzeugung, dass es die große russische Kultur gibt und daneben die kleinen Kulturen, darunter auch die ukrainische. Der Boykott soll dazu dienen, dass ukrainische Literatur nicht mehr auf diese postkoloniale Weise gesehen wird. Um dies zu verstehen, muss man sich mit der ukrainischen Geschichte auseinandersetzen. Seit Jahrhunderten hat Russland ukrainische Sprache und Kultur verboten, verfolgt und als unterentwickelt bezeichnet. Ukrainische Kultur ist stets von russischer Politik bedroht. Sanktionen sind nicht für, sondern gegen das nationalistische Denken gerichtet, für die freien Chancen für alle, nicht nur für Großmächte.

„Entscheidend ist, dass man sich traut, Freiheit aktiv einzufordernund zu verteidigen.“

Mit dem Boykott verbunden sind auch Visa-Einschränkungen. Es ist doch hochgefährlich für sie, wenn regimekritische russische Künstler nun nicht mehr aus dem Land können.

Ja, natürlich ist das gefährlich. Aber noch gefährlicher ist es jetzt für die ukrainischen Künstler, die an der Front kämpfen und die in den Luftschutzkellern sitzen müssen. Im Krieg gibt es nichts Gutes. Sanktionen sind auch nichts Gutes. Aber es gibt jetzt keine andere Möglichkeit, den Krieg zu beenden.

Unsere Generation wuchs mit dem Eisernen Vorhang auf, der den Westen vom Osten, die Demokratie von der Diktatur trennte. Werden wir künftig wieder mit einem Eisernen Vorhang leben müssen, dieses Mal zu Russland?

Das positive Szenario wäre natürlich ein Machtwechsel und eine Demokratisierung. Darüber hinaus kann man in Zeiten des Internets auf Dauer kein Land mehr isolieren. Der umfassende Boykott, kombiniert mit den Niederlagen auf dem Feld, wird Russland hoffentlich zum Einlenken bringen. Ich bin wirklich nicht froh, nun diese harte Meinung zu den Sanktionen vertreten zu müssen, doch sie scheint mir alternativlos, um den Krieg zu beenden. Aber natürlich sehne ich mich nach dem Gegenteil. Nach Freiheit und Demokratie in ganz Europa.

Freiheit. Ist es das Wichtigste im Leben?

Ja, aber entscheidend ist, dass man sich traut, Freiheit aktiv einzufordern und zu verteidigen. Auch auf hohes eigenes Risiko, mit Mut und Courage. Ohne Mut und Courage bleibt Freiheit nur ein Wort. ● ○

Miljenko Jergovic

Ungeschützt, ungedeckt


Der Schriftsteller Miljenko Jergović erhält den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln. Damit wird sein vielfältiges Werk, aber vor allem auch sein couragiertes Wirken gewürdigt. Das erinnert daran, was Literatur für die Gesellschaft leisten kann, ohne dienstbar oder gar gefällig zu sein. In Zeiten erhöhter rhetorischer Reizbarkeit und versuchsweiser Zähmung der Künste ist die Entscheidung für Jergović und seine Texte ein starkes, ermutigendes Signal.

Das Werk des in Sarajevo geborenen Schriftstellers Miljenko Jergović ist überaus vielfältig: Es reicht von Lyrik bis zu journalistischen Arbeiten, von Sportkommentaren bis zur Erzählprosa. Durch seine Storys und Romane ist Jergović auch einem deutschsprachigen Publikum vertraut. Seine Werke „Sarajevo Marlboro“, „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ und zuletzt „Der rote Jaguar“ sind Bestandteil eines Kanons postjugoslawischer sowie europäischer Literatur. Die Einladung des Autors zu den Europäischen Literaturtagen und insbesondere die Verleihung des diesjährigen Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln erscheint mir ein richtiger, ermutigender und eben auch mutiger Schritt – nicht zuletzt angesichts einer Gegenwart, in der auch die Literatur zunehmend mit Verordnungen des vermeintlich Richtigen zu kämpfen hat.

Biografien, egal ob faktisch oder zugeschrieben, werden für wichtiger genommen als fordernde Inhalte, anspruchsvolle künstlerische Strategien scheinen nicht mehr zeitgemäß oder gar anrüchig, künstlerische Inhalte werden, dem Zeitgeist entsprechend, kommentarlos verändert. Recht evidenzbefreit wird einer im Kern unehrlichen Konfliktkultur das Wort geredet, die eher auf homogene Textproduktion und moralischen Mainstream setzt denn auf echten Dialog und Ausverhandlung. Ambivalenzen oder Uneinigkeit dürfen, so der Eindruck, nicht bestehen, denn der Ausgang der Debatten scheint immer schon vorvereinbart und präfiguriert. Dabei kommt nicht nur die erwähnte Ästhetik unter die sprichwörtlichen Räder, sondern auch das Moment der Kritik, das sich potenziell aus der Literatur schöpfen lässt.

Sich angreifbar machen

Die Literatur, und nicht zuletzt die Literatur von Miljenko Jergović, darf (und soll, so meine ich) das Unerfreuliche, das Unterschlagene und das Spannungsverhältnis von Geschichte und Geschichten adressieren. In den schon genannten Werken, aber auch in „Mama Leone“, „Wolga, Wolga“ oder „Ruth Tannenbaum“ verhandelt der Autor auf mitunter recht drastische Weise Themen wie Erinnerung, Vergangenheit und Identität. Nicht selten sind es familiäre Bande, die am Ausgangspunkt seiner Prosa stehen. Diese scheut den Konflikt eben nicht und bemüht sich um Haltung. Das ist nicht immer nur bequem und sicher, gewiss, es verweigert sich trigger warnings und trial by twitter, aber – und das erscheint mir zentral – es ist im besten Sinne lohnend. Denn Miljenko Jergović macht es sich schwer, er setzt sich mit seiner Literatur aufs Spiel, er macht sich mit seinen Werken und seinem Wirken, seinen öffentlichen Aussagen, etwa rund um Vergangenheitsbewältigung, angreifbar. Kritik meint eben auch einen mitunter aufwändigen, unbequemen Nachvollzug der Themen, mit denen wir uns künstlerisch auseinandersetzen, es meint Verantwortung als Verankerung in der Gegenwart – und es braucht eine Art der Courage, die wir, so ist zu befürchten, nach und nach abgewöhnt bekommen.

Das zielt freilich keineswegs auf ein Zurückgehen hinter die Errungenschaften notwendiger Korrektheit wie beispielsweise Sensibilität für die wirklichkeitsstiftende Funktion von Sprache, das Aufdecken von Asymmetrien und missbräuchlichen Machtunverhältnissen – all dies muss uns in einer aufgeklärten, säkularen Gesellschaft ebenso selbstverständlich sein wie der Erhalt europäischer Werte. Von gleicher Klarheit – um den Begriff der aktuell ebenfalls in Verruf geratenen Aufklärung auch auf dieser Ebene auszuspielen – könnten deshalb, so Vermutung und Wunsch, zwei weitere Aspekte sein: Einerseits die kritische Reflexion der eigenen Position, die durch die Künste ausgelöst wird; andererseits die unhintergehbare Billigung künstlerischer Konzession, diese Herausforderungen, Irritationen und Unruhe hervorzubringen.

Die Künste, und nicht zuletzt die Literatur, reizen richtigerweise zum Widerspruch, zur Teilhabe an einem offenen Austausch, der es wortwörtlich aushält, nicht alles zu glätten. An dieser Stelle möchte ich daran erinnern, dass Courage auch im etymologischen Sinne eine Herzensangelegenheit ist: Die aus der französischen Soldatensprache abgeleitete Kühnheit und Beherztheit steht in Verbindung zum Mut, zur Kühnheit, zum Unerschrockenen und, noch weiter in die Geschichte zurückblickend, auch zum Zorn.

Widerpart

Ausgehend von den positiveren Konnotationen der Courage darf (ich bin versucht zu schreiben: muss) uns Miljenko Jergović als mutiger Gegenwartsautor gelten. Mit den gewählten Themen und seiner Art des Erzählens – die Linearität und Fiktionsbedürfnis ebenso aufgreift wie Geschichtlichkeit oder Historiografie – stellt sich Jergović, vielleicht auch ungewollt, für mich in zumindest zwei Traditionen, die auch europäische Literaturgeschichte und Diskurskultur positiv geprägt haben: Da ist einerseits das Moment des Antagonismus, also die vorsätzliche Positionierung als Widerpart, die sich von der antiken Philosophie über Immanuel Kants „ungesellige Geselligkeit der Menschen“ bis hin zu Mark Fishers Aufforderung zur risikofreudigen Debattenteilhabe nachverfolgen lässt. Die Literatur stiftet demnach Geschichten und Bilder, die in ihrem Adressieren als auch in ihrem produktiven Verpassen einerseits der Behauptung von Akkuratesse entgehen, andererseits die sogenannte geschichtlich-politische Wirklichkeit überhaupt erst (neu) verhandelbar machen – und zwar weit über die Einschreibungen von der jeweiligen Produktionsgegenwart hinaus. Diese Macht des Einspruchs der Literatur ist nicht erst in ebendieser Jetztzeit erkannt worden.

Schon in Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ wird diese Kraft als das „große Instrument der Kultur“ gepriesen, das aber, was den Autoritären unserer Zeit in Erinnerung gerufen werden sollte, niemals „Opfer der Totalität“ werden darf. Der zweite Moment, in dessen Tradition Jergovićs Schreiben steht, ist die rhetorische Figur der Parrhesia, also die ungeschützte, ungedeckte Sagbarkeit als das notwendigerweise direkte An- und Aussprechen mit den Mitteln der Literatur. Hier komme ich nicht umhin, eine zentrale Frage zu wiederholen: Diskutieren wir bereits, was die Künste leisten können – oder reden wir immer noch darüber, was sie, im Sinne einer zähmenden Indienstnahme, zu leisten haben? Man verharrt, so ist zu befürchten, weiterhin bei der Option des (Wahr-)Sprechens der Künste, insbesondere der Literatur, zumeist im Bezirk des Wirklichen. Was aber ist mit dem Möglichen, mit dem (vermeintlich) Unmöglichen?

Die aktuellen Verhandlungsstrategien der veränderten gesamtgesellschaftlichen Bedingungen in den Kunstwerken und den sie begleitenden kritischen Paralleldiskursen ist wohlbelegt; es gibt und braucht auch weiterhin relevante, über das Kunstfeld hinaus wirksame, freimütige künstlerische Erwiderungen in Bezug auf unsere Wirklichkeit. Das Werk und Wirken von Miljenko Jergović steht für mich für diese couragierte Freimütigkeit, die die Freiheit der Kunst, in aktuellen Debatten nur gar zu gerne ausgeblendet, zum Ausdruck bringt. ● ○