Standpunkte

Was brauchen Kinder am dringendsten?


In jeder Ausgabe stellt morgen drei Menschen, die sich auskennen, eine Frage. Diesmal:

Flügel und Wurzeln

Kinder brauchen Flügel und Wurzeln. Wurzeln entstehen neben der Erfüllung der Primärbedürfnisse nach Schlaf, gesundem Essen und Raum für Bewegung und Spielen vor allem durch Beziehung und Bindung, also verlässliche Ansprech- und Bezugspersonen, die ihnen aufmerksam zuhören und sie feinfühlig auf ihrem Lebensweg begleiten. Flügel wachsen Kindern, wenn sie erfahren: „Da ist jemand, dem ich wichtig bin.“ Dann entwickeln sie Explorationsfreude.

Bezugspersonen kommen im Idealfall aus dem familiären Umfeld, das müssen aber nicht die Eltern sein. Es schadet der Entwicklung eines Kindes nicht, wenn sich sein Netzwerk relativ früh – etwa durch eine Tagesmutter – erweitert, solange die Qualität dieser Beziehung gut ist. Österreich hat bei Kinderkrippen und -gärten nicht die strukturellen Rahmenbedingungen, die internationale Expert:innen einfordern und muss sich etwa bei den Gruppengrößen oder beim Personal-Kind-Schlüssel noch deutlich verbessern.

Kinder haben auch das Recht auf eine Meinung. Darin steckt ein Auftrag an Pädagog:innen, die Kinder anzuhören. Das ist eine wichtige Voraussetzung für demokratische Prozesse, denn so lernen Kinder, Entscheidungen zu treffen. Es kann sein, dass ein Kind einen Vorschlag, zum Beispiel für ein Ausflugsziel, einbringt und dass sein Vorschlag abgelehnt wird. Dann muss ihm klar vermittelt werden: „Es wurde zwar deine Idee abgelehnt, aber du als Mensch bist in Ordnung.“

Freies Spielen in der Natur

Grundlegend für das Kindeswohl ist die liebevolle, zugewandte Eltern-Kind-Beziehung, die auch Zeit und Präsenz verlangt, sowie andere positive soziale Beziehungen mit Geschwistern, Freund:innen, Großeltern, Lehrer:innen. Kinder haben das Recht auf Gewaltfreiheit und brauchen einen Rahmen für ihre Entwicklungs- und Entfaltungsfreiheit. Dafür ist ein persönlicher Rückzugsort wichtig, wobei das kein eigenes Zimmer sein muss.

Auch der Kontakt mit Pflanzen und Tieren ist wichtig für das Wohlergehen von Kindern. Dass sie sich selbst mehr Naturerlebnisse wünschen, war ein Ergebnis unserer Kindeswohlstudie von 2020, das uns erstaunt hat. Im Gegensatz zum Dauerbespaßen durch vorgegebenes Spielzeug oder das Tablet regt das freie Spielen in der Natur Fantasie und Kreativität der Kinder an, wodurch sie viel mehr lernen als beim strukturellen Spielen.

Eine weitere Erkenntnis betrifft den Wettstreit zwischen Kindeswillen und Kindeswohl, etwa beim Medienkonsum und der Ernährung. Partizipation ist ein Kinderrecht, aber hier muss es eine Balance geben. Lässt man Kinder immer mitentscheiden, kann man sie überfordern. Zum Beispiel fragen sich viele Eltern, ob sie Zwang anwenden sollen, wenn ihr Kind nicht Zähneputzen will, oder ihm erlauben sollen, die Zähne nicht zu putzen. Verwundert hat uns auch, dass die Kinder einen geregelten Umgang mit Medienkonsum einfordern, weil sie wohl selbst spüren, dass ihnen zu viel davon nicht guttut.

Freiheit und Konflikt

Aus der Perspektive meines Faches gibt es eine Konstante, die Kinder für eine gedeihliche Entwicklung brauchen: eine Person, die verlässlich für sie da ist, sich Gedanken über das Kind und sein Wohl macht und die es erreicht, wenn es etwas braucht. Alle anderen Dinge, mit denen wir uns beschäftigen wie Handyzeiten, Computerspiele und Ähnliches sind in Wahrheit sekundär.

Zudem brauchen Kinder Freiheit und Konflikt. Konflikt ist entwicklungspsychologisch ein zentraler Motor, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Konfliktfähig kann nur werden, wer Bezugspersonen hat, die in der Lage sind, Konflikte konstruktiv zu führen. Transgenerational kommt es zwangsläufig zu Konflikten, weil junge Menschen andere Vorstellungen haben als ältere.

Die meisten Eltern glauben zu wissen, was ihre Kinder am dringendsten brauchen, und es ist ihr Job, dabei manchmal falsch zu liegen – auch das gehört zum Konflikt. Vor allem in Bezug auf Dinge, die sie für gefährlich halten, glauben viele Eltern, ihre Kinder brauchen Verhaltensregeln. Das stimmt einerseits, aber andererseits brauchen Kinder auch Freiheit, sich auszuprobieren und sich Risiken zu stellen, die das Leben mit sich bringt.

Was unterschätzt wird und meines Wissens empirisch noch nicht erfasst ist, sind punktuelle positive Zuwendungen wie Lob und Anerkennung. Man muss keine enge Bezugsperson sein, um einem Kind zu sagen: „Ich finde dich großartig.“ Solche Dinge merken sich Kinder oft sehr lange.