Kolumne

Nichts ist fix


Kind sein. Kind sein heute und damals. Kind sein hier und dort. Zwei schwer vergleichbare Welten. Und doch.

2009, als Europa zum 20. Mal den Fall des Eisernen Vorhangs feierte, lud mich das Österreichische Kulturforum London zu einer Gedenkveranstaltung ein. Ich las einen Text zum Thema, beantwortete die Fragen aus dem Publikum, diskutierte mit internationalen Gästen über ihre Grenzerfahrungen und wunderte mich über die Vielfalt der Emigrationsschicksale.

Als Zusatzprogramm zu meiner Lesung in London absolvierte ich in den kommenden Tagen eine Lesereihe an Schulen und Universitäten in Südengland und Wales. Mein erster Besuch führte mich an die Whitgift School in South Croydon. Die prachtvolle Schlossanlage, in der die Eliteschule untergebracht ist, liegt etwa eine halbe Zugstunde südlich von London. Es ist eine Highschool für Knaben, die als Halbinternat geführt wird. Beim Eintreffen vor dem Einfahrtstor fielen mir die Luxuslimousinen mit Privatchauffeuren auf, die die Schüler zum Unterricht bringen.

Gleich nach meiner Ankunft teilte mir der zuständige Lehrer zwei etwa 15- bis 16-jährige Burschen zu, die mir die edle Lehranstalt zeigen sollten. Beide trugen eine graue Schuluniform mit dem Schulemblem auf der Brusttasche. Es ging sehr förmlich, britisch zu. Wir besichtigten zuerst die Sportanlagen im Freien, danach einige Klassenräume, die gerade leer waren, später diverse Hobby- und Freizeiträume: die professionell ausgestatteten Ateliers für angehende Maler und Bildhauer, Werkstätten für Handwerksbegabte, ein Theater mit Haupt- und Probebühne sowie diverse Multimedia-Einrichtungen. In einem der Turnsäle lief gerade ein Basketballmatch, im zweiten Fechtunterricht, im dritten Gymnastiktraining.

„Unsere Schule legt viel Wert auf eine interaktive Lernumgebung“, sagte der Lehrer, der am Ende des Rundganges auf uns wartete. „Der aktive Austausch zwischen Lehrern und Schülern sowie die kritische Denkfähigkeit unserer Kids werden hier bestens gefördert. In einer Privatschule in England wie der unseren stehen traditionelle Werte wie Disziplin und Leistung im Mittelpunkt.“

Klar, dass so eine Ausbildung viel kostet, was für die Familien der Knaben aber keine Rolle zu spielen schien. Das hochpreisige Schulgeld war nur ein kleiner Teil der Gaben, die die Familien an die Schule in Form von großzügigen Spenden überwiesen. Die Höhe der Spenden richtete sich nach gesellschaftlicher und vor allem ökonomischer Stellung der Eltern und Großeltern, aber auch nach der Anzahl der Absolventen der jeweiligen Familien. Wenn schon der Großvater und Vater auf einen Schulabschluss aus Whitgift verweisen können, wird sich auch der Sohnemann anstrengen und ihnen keine Schande machen. Denn Reichtum verpflichtet. Verursacht aber auch Druck und Angst vor dem Versagen. Nicht jeder besitzt die Gabe, höhere Ziele zu erreichen.

In der Klasse las ich kurze Passagen aus meinen Büchern und wir diskutierten über das Jahr 1989, die Samtene Revolution, den Zerfall von Jugoslawien und der Tschechoslowakei sowie den Beitritt neuer Staaten in die Europäische Union. Die Schüler waren großartig vorbereitet und stellten nicht nur Fragen, sondern erzählten auch selbst, was sie über die Umwälzungen in Europa gehört oder gelesen hatten. Natürlich waren sie neugierig, auch auf meinen Werdegang, und ich erzählte ihnen von meinem Aufwachsen unter einem roten Stern. Von der Anpassung – an das sozialistische System, an die Eltern und Lehrer, mit einem Wort an alles, was größer und stärker war als wir.

Meine Schule, ein altes, bröckeliges Gebäude, das nach Turnschuhen und Pausenbroten roch, war in den 1960ern aufgrund der starken Jahrgänge restlos überfüllt. Der Unterricht musste in zwei Schichten ablaufen – eine Woche am Vormittag, eine Woche am Nachmittag drückten 30 bis 40 Kinder in einer Klasse die Schulbank. Die Gratisschulbücher wurden knapp, nicht jedes Kind bekam eines pro Unterrichtsgegenstand, das ewige Ausborgen und Herumbetteln gehörte zum Alltag. Im Chemielabor fehlten Reagenzgläser ebenso wie Chemikalien, im Physiklabor Kabel und Geräte, im Biologiekabinett lagerten nur ein paar ausgestopfte und in die Jahre gekommene Vögel, kleine Marder und Murmeltiere, die grässlich stanken. Es herrschte nicht nur ein Mangel an Lehrmaterialien, sondern an allen modernen, technologischen Hilfsmitteln, die notwendig gewesen wären, um den Unterricht effektiver zu gestalten.

Im sozialistischen System stand die Idee der Gleichheit im Vordergrund. Der Unterricht basierte auf dem marxistischen Prinzip der kollektiven Bildung, bei dem der Schwerpunkt auf der Ideologie, sich nicht als ein Individuum, sondern als Teil des Ganzen zu fühlen, lag. Das Wissen, meist von einem autoritären Lehrer vermittelt, ließ kein kritisches Denken der Schüler zu.

Trotzdem oder gerade deswegen verstand jedes Kind sehr früh, dass Überlebensstrategien sehr wichtig sind. Die Flucht in Sport, Kunst, Handwerk oder die Mathematikolympiade bot ein Ventil und Erholung vom ewigen Druck.

Ich entschied mich für Leichtathletik sowie eine Sing- und Tanzgruppe. Damit entkam ich den langweiligen und verlogenen Treffen der Pioniere. Denn unsere Schule bot solide Nachmittagsaktivitäten an, die auch ohne besondere Ausrüstung auskamen. Im Gegensatz zu Whitgift kostete die Freizeitgestaltung nichts. Die einzige Bedingung für den Besuch eines oder mehrerer Kurse waren fertig geschriebene Hausaufgaben und ein positives Zeugnis.

Dann wurde ich erwachsen und übersiedelte nach Österreich. Aus einem dünnen Mädchen mit langen Beinen, das gern sang, tanzte und Langstrecke lief, wurde eine Schriftstellerin.

Und nun stand ich in einer Eliteschule in Südengland und zog den Vergleich zu meiner Schulzeit. Wie unterschiedlich die Wege auch waren, eines hatten sie gemeinsam: die Suche nach der eigenen Identität.

Auf den ersten Blick haben es die Kinder der wohlhabenden Eltern leichter, weil die Chancen, die sich ihnen bieten, größer sind. Es wäre aber ein Fehler, den Überlebenstrieb der Unterdrückten zu unterschätzen. Nach der Öffnung der Grenzen strömten unzählige Menschen aus den ehemaligen Oststaaten nach Westeuropa, um zu pflegen, putzen, reparieren … Aber es gibt auch zahlreiche Tschechen, Slowakinnen, Polen und Kroatinnen in hohen Positionen, die sich als anerkannte Ärzte, Wissenschaftlerinnen, Geologen, Architektinnen oder Informatiker unter den Absolventen und Absolventinnen der westlichen Luxusschulen behaupten können. Denn nichts ist fix. Die Chancen gehören genutzt.● ○