© Michael Kosakowski
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Kultur • Aigner

Ein Leben lang runterlaufen


Die Künstlerin Uli Aigner reflektiert in ihren Zeichnungen immer wieder die Kindheit – ein Begriff, den sie denkbar weit fasst. In ihren neuesten Arbeiten „Kindheit der Menschheit (Archäologie)“ geht es gleich ums große Ganze.

Welche zeitgenössische Künstlerin wäre prädestiniert für eine Intervention in einem Archäologiemuseum, wenn nicht Uli Aigner? Das jedenfalls legt ihre Serie „One Million“ nahe: Seit 2014 produziert die Künstlerin, die eine Töpferlehre sowie ein Designstudium absolvierte, händisch Porzellangefäße mit fortlaufender Nummer. Mittlerweile entstanden rund 8.000 Stück. Das Ziel liegt bei einer Million. Dieses wird die Lebenszeit der Künstlerin übersteigen – ein bewusster Widerspruch, der als Gedankenexperiment und Projektion in die weit entfernte Zukunft weist.

Henkelkrüge, Näpfe, Schalen

ngesichts dieses Kunstprojekts, das weite Zeiträume umfasst, erscheint die Einladung des Berliner Neuen Museums mit Schwerpunkt auf frühzeitliche Kulturen an Uli Aigner nur schlüssig. Die Künstlerin, Jahrgang 1965, die in Gaming bei Lunz aufwuchs und heute in Berlin lebt, platzierte ihre Gefäße zwischen Tausende Jahre alte Henkelkrüge, Näpfe und Schalen. Als sie mit diesem Projekt befasst war, kam es, wie so oft, dazu, dass sie gemeinsam mit ihrer Tochter zeichnete. „Immer, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, zeichnen wir“, erzählt Uli Aigner bei einem Gespräch mit morgen. An diesem Tag entstanden drei Filzstiftarbeiten: Kompositionen, die auf den ersten Blick fast abstrakt wirken, aus denen sich mit der Zeit jedoch Figuren schälen – Vögel, Tiere, Beine, eine menschliche Gestalt, Ornamente und: Vasen.

„Kindheit der Menschheit (Archäologie)“ nennt Uli Aigner diese Papierarbeiten. In der Urgeschichte, so bemerkte sie, spielen Gefäße eine sehr bedeutende Rolle: „Aus deren Form lässt sich die Entwicklungsstufe einer Gesellschaft ablesen.“ Die Filzstiftzeichnungen entstanden schnell und fast unbewusst: „Das Gehirn war ausgeschaltet, und plötzlich haute ich diese Zeichnungen raus“, sagt sie. Sie reflektieren den Status frühgeschichtlicher Kulturen – einer Menschheit, die am Anfang ihrer Entwicklung steht, wie Kinder. Ein wichtiger Aspekt in Aigners Arbeit ist das Handwerk; nicht nur in der Art, wie sie ihre Kunst schafft, sondern auch als Voraussetzung für technische Errungenschaften. Sie erinnert daran, dass die ersten Höhlenmalereien Hände darstellten – wenn Menschen per Handabdruck eine Spur ihrer selbst hinterließen, ähnlich, wie es Kinder mit Fingerfarben auf Papier bis heute tun. Doch nicht nur das Alte fasziniert Uli Aigner, sondern auch das sehr Zeitgenössische, Zukunftsträchtige: Aktuell befasst sie sich mit künstlicher Intelligenz sowie den Forschungen des Quantenphysikers und Nobelpreisträgers Anton Zeilinger. Schon in der Steinzeit des Computers, in den 1980er-Jahren, arbeitete sie damit. Auch das Digitale ist eben ein Handwerk – der Begriff leitet sich übrigens vom lateinischen „digitus“, dem Finger, ab.

Schlund und Strudel

Ihre „Kindheit der Menschheit (Archäologie)“ wird Uli Aigner demnächst in große, bunte Buntstiftzeichnungen übersetzen. Seit Jahrzehnten schafft sie solche, sie sind geradezu eines ihrer Markenzeichen geworden. Sie überlagert darin Gegenstände des Alltags mit Figuren, Symbolhaftes mit abstrakten Elementen, schafft Räume, in denen Perspektiven aufbrechen und kippen. So auch in jener Serie, die formal auf den ersten Blick der „Kindheit der Menschheit (Archäologie)“ ähnelt: „Open Shape“ nannte sie die Zeichnungen, die als lose Folge vor mehreren Jahren entstanden und in denen sie das Dasein von Kindern in der Gegenwart reflektierte. „Open Shape 32“ etwa bildet als Grundform einen Schlund, eine Anspielung auf den Sog, in den digitale Geräte ihre kindlichen User und Userinnen ziehen. In anderen Zeichnungen dieser Serie geraten rosa Gewehre, tödliche Quallen, aber auch Kinderzeichnungen in einen Strudel.

Auffällig ist die Größe ihrer Zeichnungen – „Open Shape 32“ etwa misst 1,80 mal 2,57 Meter. „Wenn man in so riesigen Formaten zeichnet, dann ist das eine körperlich relevante Aktion“, sagt Uli Aigner.

Die Künstlerin, deren Fotoarbeit „Keimzellen des Staates“ gerade in der Ausstellung „Kind Sein“ auf der Schallaburg ausgestellt ist, schlägt in ihrem Werk einen weiten Bogen: vom Großen ins Kleine, vom Makroskopischen einer fernen Zukunft ins Mikroskopische eines einzigen Porzellangefäßes, von der Kindheit der Menschheit in die Kindheit im Berlin des frühen 21. Jahrhunderts. Dabei ist sie fern jeder Verklärung dieses Lebensabschnitts. Er ist in ihren Werken eine Entwicklungsstufe, die sehr stark gesellschaftlich bestimmt wird.

Am Ende des Gesprächs formuliert sie es so: „Die Kindheit, so habe ich mal gehört, ist das, was ein Leben lang an dir runterläuft.“ Das trifft auf die Frühzeit menschlicher Kulturen ebenso zu wie auf die Umstände, unter denen jemand individuell aufwuchs. Uli Aigner beleuchtet beides. ● ○