Kultur • Essay

Der Rassismus wächst mit


Die Schriftstellerin Gertraud Klemm lebt bei Baden. Sie ist Mutter zweier südafrikanischer Adoptivkinder.
Hier berichtet sie, wie die beiden aufwachsen: eine Analyse in acht Überraschungen.

1. Kinder

Überraschung Nr. 1: die anderen Kinder. Dass Erwachsene starren, sich um den Kinderwagen scharen und meinen afrikanischen Kindern bitte, bitte! in die Haare greifen wollen, war mir schon vom Einkaufen bekannt und lästig. Aber dass schon Kinder, kaum des Gehens oder der Sprache mächtig, wie Zombies auf meine Söhne zurobbten, und ihnen gierig in die Haare tatschten, ließ mich grübeln. Wo beginnt Rassismus, wo endet Neugier?, fragte ich mich, und: Wie geht das weiter? Werden sie das aushalten, immer eine Sensation zu sein? Denn abseits der großen Städte gehören Schwarze noch lange nicht zum österreichischen Stadt- oder Dorfbild.

2. Diversität

Damit steht das Land noch völlig am Anfang. Als gäbe es nicht schon seit Jahrzehnten auch hier Migration! In der Altenpflege, im Straßenbau und in der Gastronomie! Dort, wo wir wohnen, im Industrieviertel, sind die ersten Schwarzen, die unsere Kinder regelmäßig zu Gesicht bekamen, die Zeitungsverkäufer vor den Supermärkten. Von ihnen haben sie eine Menge unterschiedlicher Begrüßungsformeln gelernt.

Im Kindergarten, in der Schule, im Turnen: Unsere Kinder waren immer die einzigen ihrer Art im Jahrgang, meist auch die einzigen in der ganzen Einrichtung, meist die ersten obendrein.

Jö, ein Benetton-Kind! Wie bei Brad Pitt und Angelina Jolie! Und: So eine Puppe hatte ich als Kind! Ist das wirklich alles, was wir mit afrikanischen Menschen assoziieren? Plakatwände aus den 1980-ern? Promiklatsch? Spielzeug? Ja, das ist alles, was der Mainstream zu afrikanischer Kultur zu bieten hat. Das, plus Vorurteile, und Hungersnöte. Danke, Kolonialismus.

Was sich bei den kleinen Kindern als Exotismus mit einmal Haare-Greifen „wegwuscheln“ lässt, wächst sich spätestens in der Pubertät zum guten, alten Rassismus aus. Und weil am Land die Rassismus-Kategorien noch feinsäuberlich aufgeteilt werden, und es für jedes Vorurteil eine Herkunft gibt, bleiben für uns: sonniges Wesen, Faulheit, Dummheit, Drogendealer, „kann gut tanzen“ und „braucht keine Sonnencreme“.

Da war Fassungslosigkeit, aber auch Scham in ihren Gesichtern.

3. Verunsicherung

Ich will jener Landbevölkerung, die Migration nur aus den Nachrichten, aus der Zeitung und von Wahlslogans kennt, keinen mutwilligen Rassismus unterstellen. Meine Kinder sind oft die ersten Schwarzen, die sie persönlich kennenlernen. Sicher sind sie verunsichert. Wie spricht man denn über diese Schwarzen Kinder korrekt? Darf man fragen, woher die kommen? Als Eltern stehen wir oft unter Zugzwang, spontan interkulturelle Bildung nachzuschulen. Wie greife ich ein, wenn zwei Kleinkinder, laut das N-Wort krähend, auf meinen Zehnjährigen zulaufen? Soll ich die Kinder aufklären, oder doch die Eltern? Soll ich den Kleinen schützen? Wie? Oder lasse ich es den Großen regeln, der sehr eloquent über Gebrauch und Nichtgebrauch von Worten aufklärt? Wie konfrontiere ich Lehrer und Lehrerinnen mit eindeutig unangemessenen Kommentaren zur Hautfarbe? Wie finde ich den Polizisten, der meinen Sohn vor der Schule oder am Ballkäfig grundlos filzt, und stelle ihn zur Rede? Wer ist hier verunsichert?

4. Illusion

Zwischen dem akademischen, woken Schönsprech im Netz und in den Großstädten und dem davon völlig unbeeindruckten Alltagsjargon gibt es null Verbindung – außer vielleicht den gegenseitigen Hass. Dem theoretischen, postkolonialen Diskurs, der in seiner Blase klugscheißend um sich selbst kreist, setzt die niederösterreichische Normsprache die immer selben Schimpfwörter und Vorurteile entgegen – die noch jede Generation unbeschadet überdauert haben. Während ich am Parkplatz ein mühsames Telefonat nach dem anderen abwickle, um einen absurden Rassismus-Vorwurf gegen mich (wegen schriftlichen Zitierens einer Beschimpfung – inklusive des N-Worts) zu entkräften, bestellen meine Kinder im Lokal einen „Mohr im Hemd“. Das ist unser Alltag.

5. Solidarität

Wie rassistisch MigrantInnen und Nicht-Weiße untereinander sind, ist erschütternd. Auch wenn sich in den Freundeskreisen unterschiedliche Ethnien zusammenfinden und zusammenhalten: Was uns da am Fußballplatz, auf der Straße und auf Weinfesten auf Serbisch, Kroatisch und Türkisch untergekommen ist, ist nichts für schwache Nerven. Der Rassismus schafft eine hässliche Hackordnung, die jede Solidarität im Keim erstickt und dafür sorgt, dass ausgerechnet Einwandererkinder den Heilsversprechen der Rechten auf den Leim gehen.

6. Instrumentalisierung

Schwarze Kinder werden instrumentalisiert und gern als ideologisches Feigenblatt vorgehalten. Vor allem rechtskonservative Politiker ließen sich sehr gerne mit unseren Kindern abbilden, denn die machen sich als Quotenschwarze gut und peppen die ewig selben Fotos auf. In einem unbeobachteten Moment entfleuchte mir einmal für ein paar Minuten der Kleine auf einem Weinfest, und kaum eine Stunde später fand ich ihn auf Facebook, auf dem Arm eines rechtskonservativen, wahlkämpfenden Kanzlerkandidaten. Schaut her, sagte das Foto. Mir graust eh nicht!

7. Resilienz

Von unserer österreichweiten Community höre ich, wie ihre Kinder in den Öffis bespuckt werden, wie sie aus Schulen und Bahnhöfen gemobbt, von Polizisten schikaniert und von Türstehern aussortiert werden. Diese und schlimmere Szenarien sind immer möglich.

Und doch haben sie Unterstützung. Wo immer meine Kinder aufgetaucht sind, konnten sie ein Team generieren, das auf ihre Situation sensibel reagierte, das sie unterstützte und beschützte: in der Familie, in Freundschaften, in der Nachbarschaft, in Schule und Sport.

Die gut geschulte Kindergartenpädagogin, die das richtige Buch aussucht, die Volksschullehrerin, die geschickt in einem Streit vermittelt, der Fußballtrainer, der souverän einen rassistischen Reinplärrer maßregelt: Sie alle errichten eine Schutzhülle um unsere Kinder. Dort, wo sie endet, beginnt die Gesellschaft.

8. Nachwort

Ein Wirtshaus an der burgenländisch-niederösterreichischen Grenze.

Am Spielplatz haben zwei Kleinkinder den Kleinen beschimpft (das unschreibbare Wort) und sind weggelaufen. Der Kleine schnappt sich seinen großen Bruder und läuft ihnen nach. Ich widerstehe der Versuchung, mich einzumischen, gehe aber nach und spähe vorsichtig ums Eck.

Eine erwachsene Frau baut sich gerade vor dem Kleinen auf; die Kleinkinder verstecken sich hinter ihr.

„Pudel di net auf, du kleiner Stöpsel“, sagt sie. Und da tritt mein Großer hinter den Kleinen, und ich beobachte, wie die Kinder sich sehr wohl aufpudeln: wütend, wortgewandt, mutig und im Dialekt lesen sie den Erwachsenen die Leviten. Erwachsenen, die keine Argumente haben, außer: So haben wir doch immer schon geredet. Und deren Kinder, die zuschauen und lernen. Ich sah ihnen in die Augen. Da war Fassungslosigkeit, aber auch Scham in ihren Gesichtern. Dann sahen wir nur noch ihre Rücken. ● ○