© Max Kropitz
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Kultur • Kinder und Kunst

Blickwechsel im Wolkenmeer


Emotionen ausdrücken, künstlerische Prozesse mitbestimmen, Mathematik durch Theaterszenen erfassen oder einfach Spaß haben: Was Kunst und Kultur für Kinder und Jugendliche bieten können, zeigen Tänzerin Sunčica Bandić, Theatervermittlerin Julia Perschon und Mona Jas, die künstlerische Leiterin des Kinderkunstlabors. Ihre Ansätze bestechen dadurch, dass sie

ihr Publikum hochgradig aktivieren – und gesellschaftlich brisante Fragen stellen.

Bis jetzt hätten sie kaum Sitzmöglichkeiten für Unterrichtspausen gehabt, erzählen Mudasar und Yaser. Sie und die anderen Jugendlichen aus ihrer Klasse, der 3D der Sportmittelschule St. Pölten, saßen früher meist auf Stiegen, wenn sie Hausaufgaben machten oder einfach abhängen wollten. Auch an diesem Tag, als morgen mit ihnen über ihre Schule und das angrenzende Kinderkunstlabor im St. Pöltner Altoonapark spricht, haben sie im Treppenhaus Platz genommen. Während sie erzählen, eröffnet draußen, zwischen dem Schulvorplatz und dem Park, mit einem Fest das „Wolkenmeer“: ein Infopoint, der die Bauarbeiten des Kinderkunstlabors bis zu dessen Eröffnung 2024 begleitet und den die Klasse von Mudasar und Yaser mitgeplant hat. Dass diese wolkenähnliche Konstruktion Sitzelemente hat, war ihnen wichtig. So entsteht ein Treffpunkt, der auch Menschen aus der Umgebung einlädt.

Wenn das Haus drüben fertig ist, werden sie es oft besuchen, nehmen sich Mudasar und Yaser vor. Sie wünschen sich, dass sie dort Spaß haben können. Was im Kinderkunstlabor geschieht, können sie selbst mitbestimmen. Sie sind gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern der 3D Teil des Kinderbeirats der Institution, ebenso wie sechs weitere Klassen. Dieser Beirat sowie Kinder, die in der schulunabhängigen Kunstideenwerkstatt tätig sind, sind in die Umsetzung und in Entscheidungen sowie die künstlerischen Prozesse rund um das Kinderkunstlabor eingebunden.

Co-Kreation – das ist besonders im entstehenden Kinderkunstlabor ein großes Thema. Im Verständnis seiner künstlerischen Leiterin Mona Jas sind die Ausgangspunkte von Kulturvermittlung „die eigenen Erfahrungen, die Lebenswelt und die Interessen der Teilnehmenden“. In einem Video für das Haus sagt Mudasar: „Kinder sind ja die Zukunft für euch.“ Schon jetzt konzipieren die Jungen mit zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern Arbeiten. An diesem Tag sind die Künstlerinnen Christine und Irene Hohenbüchler vor Ort und zeigen das Modell für Co:Co, eine tierhafte Skulptur für den öffentlichen Raum, deren Name sich Kinder ausdachten.

Es entsteht eine demokratische Auseinandersetzung.

Auseinandersetzung mit der Welt

Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen wird im Kinderkunstlabor, das eine lernende Institution sein will, auch von Researchers-in-Residence begleitet. Fragen von Diversität und Inklusion spielen mit, um unterschiedliche Gruppen an die Kunst heranzuführen und deren Lebenswelten gerecht zu werden. In Zeiten radikaler Umbrüche verändern sich die Anliegen und Bedürfnisse der jungen Generation, heißt es im Mission Statement des Hauses. „Die Wahrheiten zerschlagen sich gerade, Koordinaten lösen sich auf“, meint Jas. „Das erfordert umso mehr, in solchen Vermittlungssituationen zu überlegen: Warum ist etwas so?“ Jas spricht von Differenzerfahrungen, einem anderen Wahrnehmen durch die Kunst als bei alltäglichen Erfahrungen – ein Wahrnehmen, das Fragen auslöst. „Über diese Fragen entsteht auch demokratische Auseinandersetzung, weil ich etwas anderes kennenlerne, das meine eigene Erfahrung auch ein Stück weit befragt.“

Selbsthilfegruppe

Ortswechsel. Im Landestheater am St. Pöltner Rathausplatz finden junge Menschen einen bewährten Ort, an dem sie sich bei Vermittlungsformaten mit aktuellen Situationen und Themen auseinandersetzen können. „In diesen Theaterformaten soll man Fragen stellen können, an sich selbst, an die Welt und an andere Menschen“, schildert Julia Perschon, die Leiterin der Theatervermittlung. „Wenn dann Themen gefunden werden, die alle verbinden, ist das ein schöner Moment.“ Sie studierte auch Soziologie und Philosophie, weswegen sie sich mit dem Moment des gesellschaftlichen Zusammenhalts besonders befasst. „Das interessiert mich: Wenn man erkennt, das bin nicht nur ich in mir drinnen, sondern die Gesellschaft ist auch in mir“, fügt sie hinzu. Nach der Pandemie setzt das Theater kommende Spielzeit auf das Motto „Beziehung“. Das schlägt sich in den Vermittlungsformaten nieder, mit einem Fokus auf Diversität und Mehrsprachigkeit. Wobei Theater ohnehin ein Beziehungs- und Begegnungsort sei, so Perschon: „Mir ist wichtig, dass es eine kollektive Erfahrung gibt, etwas Gemeinschaftliches. Das ist eine große Qualität von Theater. In unseren Gruppen treffen Menschen aufeinander, die sonst vielleicht nicht zusammenkommen würden.“

Das Theater achtet auf niederschwellige Angebote: Wer will, darf. Eine, die unbedingt wollte, ist Marie Neuhauser. Die heute 22-Jährige kam während ihrer Schulzeit zum Theaterclub 14+, macht gerade die Abendschule Elektrotechnik und ist weiter dabei. Sie habe die Bühne immer toll gefunden, auch die Technik dahinter habe sie interessiert, erzählt sie. Für die letzte Aufführung gestaltete sie das Logo des Theaterclubs. Dort solle jede Person ihre eigenen Interessen und Talente einbringen, sagt Julia Perschon: „Ich gebe Impulse und einen Rahmen. Dann wird partizipativ ein Stück entwickelt, bei dem Ideen, Wünsche und Visionen der Kinder und Jugendlichen einfließen.“ Marie Neuhausers Club hat ein Stück über Reparatur entwickelt und dabei den Optimierungszwang hinterfragt. Als Basis dafür diente ein Interview mit einem Therapeuten. Auch der Theatergruppe selbst schreibt Neuhauser therapeutische Wirkung zu: „Seit ich damals im Theaterclub angefangen habe, bin ich viel offener und selbstbewusster geworden“, sagt sie. Anfangs sei das nervenaufreibend gewesen. „Der Theaterclub ist für mich persönlich so wichtig, weil ich in diesem Rahmen Emotionen ausdrücken kann, die ich sonst in der Gesellschaft nicht wirklich zeigen kann.“

Kunst hat eine andere Denkweise als das konservative Schulsystem.

Durchs Sonnensystem tanzen

„Kunst ist eine schöne Art, über die Dinge zu sprechen, die die Gesellschaft betreffen“, meint Sunčica Bandić. Die Tänzerin lernte in Kroatien klassisches Ballett und entdeckte später Creative Dance für sich. Derzeit absolviert sie ein Masterstudium für Kunst- und Kulturvermittlung an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Zudem ist sie Teil des internationalen VRUM Performing Arts Collective, das Performances für verschiedene Altersgruppen entwickelt. Bei der neuesten Produktion „Matta Matta 2.0“ einer interaktiven Performance in Turnhallen für Publikum ab fünf Jahren (buchbar etwa über den Dschungel Wien), tanzt Bandić selbst mit. Für sie sind Unterrichten und Performen eng verbunden. Wenn junge Menschen mit neuen Technologien und veränderten Gesellschaftsstrukturen aufwachsen, dann brauche es auch neue Formen des Ausdrucks und Lernens, so Bandić. Lehrstrukturen in den Schulen blieben aber gleich. „Kunst hat eine andere Denkweise als das konservative Schulsystem, sie ist vernetzter und zugleich offener und kreativer“, so Bandić. „Ich beschäftige mich damit, wie man das Sonnensystem durch Bewegung erklärt oder Mathematik mit Theaterszenen.“ Mit VRUM bietet sie auch Workshops für pädagogisches Personal an.

Körpereinsatz kann eine persönlichere Verbindung zu einem Thema schaffen, ist Bandić überzeugt: „Wir versuchen, den Kindern und Jugendlichen Tools zu geben, die für sie funktionieren.“ Kunst drücke sich auf vielen Ebenen aus und ermögliche daher viele Zugänge – auch spielerische. „Wir unterschätzen Kinder. Sie können wertvolle Meinungen zu ernsten Themen haben.“

Beim Spielen kann man leichter verschiedene Handlungen ausprobieren.

Eine aktive Mitwirkung an der Kunst braucht Zeit, Bereitschaft – und einen Ort. Mona Jas spricht vom Kinderkunstlabor als „drittem Ort“: Kinder und Jugendliche sollen Platz für Treffen haben, gleichzeitig ist das Gebäude ein öffentlicher Ort. „Was wir in dieser krisenhaften Zeit vielleicht bieten können, ist ein Raum, in dem es ausnahmsweise nicht um höher, schneller, weiter, besser geht“, sagt sie. Der dadurch nicht weniger wertvoll ist – und in dem über die lustvolle Auseinandersetzung mit Kunst auch eine mit Gesellschaftsfragen angeregt wird. ● ○