© Studio Himmelbauer
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Ernst Lima

Avatare aus Quecksilber


Hier kommt die Zukunft: An dieser Stelle präsentieren wir in jeder Ausgabe Kunstschaffende in und aus Niederösterreich, die jünger als 35 Jahre sind. Diesmal: Künstlerin Ernst Lima.

Ernst Lima trägt den Kopf rasiert und am Scheitel einen tätowierten Kreis. Auf dem Bein ist das Tattoo „both“ zu lesen. „Beides“ kann für vieles stehen, aber der männliche Künstlername der 1994 in Horn Geborenen legt ein Votum für beiderlei Geschlechter nahe. Lima rüttelt daran, dass Körper in unserer Gesellschaft entweder männlich oder weiblich definiert werden.

Aber auch was die Ausdrucksformen angeht, lehnt Ernst Lima ein Entweder-oder ab. Sehen und Hören, Bild und Sound sind gleich wichtig. „Die Musik befreit mich, sie hilft, aus dem Kopf zu kommen“, erzählt die Künstlerin, die gern zwischen Computer und E-Gitarre wechselt. Für das Multitalent bedingen Bild- und Soundkreation einander; karrieremäßig sitzt sie damit bisweilen zwischen den Stühlen von Kunstbetrieb und Musikindustrie.

Ernst Lima studierte in Wien und Marseille Kunst. Sie fing mit traditionellen Druckgrafiken wie Radierung oder Aquatinta an, komponiert ihre Bilder aber mittlerweile nur noch am Computer. Abstrakt und doch gegenständlich, zeigen ihre „digital drawings“ Fetzen und Schemen einander überlagernder Gliedmaßen. Wie in einem Fluss von Werden und Vergehen wirken die Formen mal zerrissen, mal verschmelzend. Die Renderings werden auf Latex und Leder gedruckt. „Diese Stoffe sind kunsthistorisch nicht so belegt wie Leinwand, und ihre Oberflächen erinnern mich an Haut.“

Mit ihren Soundperformances trat Ernst Lima schon beim Popfest Wien und bei der Linzer Ars Electronica auf. Letztes Jahr brachte die Künstlerin eine EP mit fünf Tracks heraus und produzierte ihr erstes Musikvideo. Zu dunklen Beats und Ernst Limas Gesang führt der Videoclip „Staring into Mercury“ in eine Schattenwelt, wo ein Avatar als Alter Ego weilt. Am Höhepunkt des Kurzfilms verflüssigt sich die Figur, ihre statuenhafte Form zerrinnt wie Quecksilber.

„Mich beschäftigt die Zerrissenheit und Spaltung, die durch Social Media in uns entsteht. Der Avatar drückt auch die Unschärfe einer Person aus, die ihr Selbstbild hinterfragt“, erklärt Ernst Lima. Auch wenn soziale Medien uns verunsichern, unter Druck setzen und süchtig machen, sieht die Künstlerin den Cyberspace doch als Raum der Utopie. Etwa durch die Chance, duale Geschlechtervorstellungen zu überwinden.

Ihr aufwendigstes Projekt realisierte die Absolventin der Wiener Akademie der bildenden Künste für ihr Diplom. Während des Corona-Lockdowns im Winter 2021 hallten Klänge durch den hohen Saal des ehemaligen Semperdepots. Für die Arbeit „For the Moment and for the Record“ hängte Ernst Lima ein Pendel an die Decke. Der Kunststoffstab kreiste knapp über einer E-Gitarre, die auf einem Podest lag. Als wünschte sich das Pendel Körperkontakt, stieß es immer wieder auf die Gitarrensaiten nieder und erzeugte dadurch Töne. Hinter dieser Berührung stand eine ausgeklügelte Anordnung: Ernst Lima setzte einen digitalen Mikrocontroller ein, ein sogenanntes Arduino, das die analogen Impulse an das Pendel zurücksandte und so den Kreislauf aufrechterhielt. Die Installation war heuer auch beim Donaufestival in Krems zu erleben.

Aufs Land fährt die in Wien lebende Ernst Lima immer noch gerne. In den vergangenen zehn Jahren hielt sie ein Atelier in Gföhl. „Als ich das kürzlich ausräumte, fand ich vergessene Arbeiten wieder. Im Ansatz waren meine Ideen schon früh da“, erzählt die Künstlerin mit einem Lächeln. Was macht den Kern unserer Identität aus? Ernst Limas Kunst erzählt von beidem, dem Wunsch nach Selbstfindung und nach radikalem Wandel. ● ○