Thomas Edlinger
Heribert Corn
Thomas Edlinger

Thomas Edlinger

„Was kann man als zeitgenössisch betrachten?“


Sind Festivals träge? Ist die Umweltkatastrophe bereits eingetreten? Wie wird ein künftiges Publikum Kunst, die auf die Pandemie antwortet, wahrnehmen? Was wurde aus den großen Zukunftsvisionen? Und wie schlägt sich die identitätspolitische Debatte auf den Betrieb nieder? morgen traf Thomas Edlinger, der das Donaufestival seit 2017 leitet, um diese Fragen zu besprechen.

Planen, absagen, neu planen, umplanen – wer 2020 und 2021 Festivals auszurichten hatte und hat, ist nicht zu beneiden. Auch der künstlerische Leiter des Donaufestivals in Krems, Thomas Edlinger, wird sein Programm wohl bis zur letzten Minute adaptieren müssen. Wer weiß schon, wie die Lage bezüglich Sperrstunden und Auslastung im Oktober aussehen wird. Bereits jetzt geht die Angst vor einer vierten, mit weiteren Lockdowns verbundenen Welle um. Doch etwas Gutes hatte Corona für den Festivalleiter schon: Der welthistorische Einschnitt habe, so sagt er, eine unerwartete Erfahrung von Vernetztheit und Gleichzeitigkeit möglich gemacht.

morgen: Sie sind seit 2017 Leiter des Donaufestivals. Mit welchen Vorhaben für die Zukunft sind Sie damals angetreten und inwiefern haben Sie diese zur Erfüllung gebracht? 

Thomas Edlinger

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Ich übernahm das Donaufestival zu einem Zeitpunkt, an dem ich bereits auf sehr viel aufbauen konnte, was mein Vorgänger Tomas Zierhofer-Kin über die Jahre in die Wege geleitet hatte. Ich wollte über die Idee von Leitmotiven inhaltliche Akzentuierungen setzen, die sich ästhetisch und diskursiv im Programm wiederfinden. Sie sollten etwas Symptomatisches unserer Gegenwart beschreiben. Ich wollte auch ein Überraschungsformat schaffen, das man nicht vorher googeln kann, bei dem die Erfahrung also nicht im Vorhinein simulierbar ist. Es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass die Leute glauben, etwas zu kennen, weil sie es am Handy gesehen haben. Das trifft bis zu einem gewissen Grad natürlich zu, verfehlt aber auch immer etwas. Außerdem riefen wir eine vom Festival unabhängige Publikation ins Leben, weil ich es für eine interessante Idee halte, etwas über die Erfahrung einer verdichteten Festivalatmosphäre Hinausgehendes zu produzieren. 

Sie sprechen von Konkretem. Hatten Sie aber auch eine umfassendere Vision oder Fragestellung, von der Sie ausgingen?

Es ist nicht mehr so einfach, Kategorien wie Progressivität oder Avantgarde zu bestimmen. Es geht um die Frage, was man im forcierten Sinn als zeitgenössisch bezeichnen könnte. Das ist ja eine Art Grundidee des Donaufestivals, der ich mich verpflichtet fühle. Vieles von dem, was mittlerweile herausfordernd zeitgenössisch ist, unterläuft und unterbricht genau das Anforderungsprofil an diese Vorstellung. Wir hatten zum Beispiel einmal im Rahmen einer Festivalausgabe, die mit der Erfahrung von Zeitlichkeit zu tun hatte, eine Art Ruhezone von Marina Gioti installiert (siehe auch Seite 38, Anm.). Da wurde die militärisch oder kapitalistisch motivierte Beforschung von Schlaf reflektiert. Das war weder laut noch aggressiv.

Dystopische Elemente haben sich in den letzten Jahren stark durch die künstlerischen Positionen des Donaufestivals gezogen – nun ist mit der Pandemie tatsächlich ein dystopischer Ausnahmezustand eingetreten. Hätten Sie ein Ereignis wie Corona aus Ihrer eigenen Festivalprogrammierung deduzieren können? 

Kurze Antwort: Nein. Das Dystopische würde ich allerdings sowieso zurückweisen, begonnen haben wir etwa mit dem in der Regel sehr positiv besetzten Begriff der Empathie. Es stimmt aber, dass mir eine Art visionärer, umstürzlerischer Zukunftsbegriff, also eine „große Zukunft“, nicht mehr haltbar erschien. Mir kam aber selbst in die Quere, dass die Vorstellung der „endlosen Gegenwart“ durch die Pandemie auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Dieser Begriff war 2018 das Motto des Festivals und meinte eine Zukunft, die nicht mehr als Alterität zur Gegenwart gedacht werden kann. Die Pandemie ist, denke ich, doch ein Ereignis im starken Sinn, das die Karten neu mischt, ein welthistorischer Einschnitt, von dem viele und auch ich geglaubt haben, dass er nicht mehr möglich sei. Diese buchstäbliche Erfahrung von Vernetztheit und Gleichzeitigkeit, die neu ist, hatte ich nicht am Schirm.

Seit Sie das Motto der „endlosen Gegenwart“ ausgaben, entwickelten Bewegungen wie Fridays for Future zumindest aus der Dystopie heraus eine Art Zukunftsvorstellung. Verwunderte Sie das?

Nein, gar nicht. Die Ökologiebewegung ist ja nichts Neues, und es ist eher eigenartig, dass sie zuvor so wenig Gehör und Gewicht bekommen hatte, sicherlich aufgrund von politischem Gegendruck. Heute herrscht in breiten Teilen der Weltbevölkerung die Einschätzung vor, dass es so nicht weitergehen kann. Was dahinter auch noch steckt, ist eine diffuse Ahnung davon, dass man die tipping points, die points of no return längst überschritten haben könnte. Dass es also nicht mehr um den roten Knopf geht, den eine Supermacht drückt, sondern, dass die Katastrophe bereits passiert sein könnte und wir ihre Folgen maximal verlangsamen, aber nicht mehr aufhalten können.

Im Oktober wird die Pandemie vielleicht so weit im Griff sein, dass sich die allgemeine Stimmung sehr von der im Lockdown vorherrschenden unterscheiden wird. Das Publikum wird wohl keine Lust auf Lockdown-Arbeiten haben. Wie geht man damit um? 

Diese Frage beschäftigt mich sehr, da die Aufgabe eines Festivals ja ist, auch eine gewisse gesellschaftliche Stimmung zu antizipieren, sich die Frage zu stellen, wie sich das im Oktober anfühlen wird. Ich denke, dass Sie recht haben, dass es ein Zeitpunkt sein wird, an dem das Publikum nicht mehr so stark an pandemiedefinierten Arbeiten interessiert sein wird. Zum Glück zeigen wir ja einige Werke aus dem Programm von 2020, die also zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als Corona noch keine Rolle gespielt hat. Durch die Pandemie motivierte Arbeiten wird’s wohl auch geben, aber voraussichtlich in veränderter Form. 

Inwiefern macht so eine Situation auch die Trägheit des Festivalbetriebs deutlich und wie wichtig ist so etwas wie Aktualität überhaupt?

Die Trägheit einer Programmierung auf der einen und die Spontaneität auf der anderen Seite hängt stark von den Genres ab.  Alles, was in den Performancebereich geht, hat deutlich mehr Vorlaufzeit, auch bildende Kunst ist sehr langfristig, Musik dagegen etwas kurzfristiger. Im Performancebereich war zu bemerken, dass pandemiebedingt kaum etwas produziert wurde, und wenn, dann nur unter Pandemiebedingungen wie dem Einsatz von Zoom. Die Funktionsweise von längerfristigen Koproduktionen, die sich ein Jahr lang aufbauen, ist ins Stocken geraten. Das ist jetzt etwas kurzfristiger geworden, es wird wohl allerdings wieder in die alten Bahnen zurückgehen, nicht zuletzt, weil das anders als über Zusammenarbeiten nicht finanzierbar ist.

Festivals sind so aufwendig, kostspielig und offensichtlich auch nicht sehr pandemieresistent. Warum boomt dieses Format?

Festivals, die im kommerziellen Sinn erfolgreich sind wie ein Sonar oder ein Primavera, sind stark mit touristischen Überlegungen verknüpft, finden also an Orten statt, die auch touristisch interessant sind. Durch den Easyjet-Tourismus sind sie für viele Menschen erreichbar. Spezialisierte Festivals wie das Donaufestival, von denen es in Europa viele gibt, geben Künstlerinnen und Künstlern – und zwar auch solchen, die nicht mehrheitsfähig sind – ein Publikum. Festivals können dafür Aufmerksamkeit schaffen. Filmfestivals sind ein gutes Beispiel für die temporäre Attraktivität von Minderheitenprogrammen. Da gibt es ja sogar das eigene Genre Festivalfilm.

Ich wollte ein Überraschungsformat schaffen.

Eine Gegenwartsfrage: Wie beeinflusst Sie die identitätspolitische Debatte als Festivalleiter? Verweigern sich männliche Künstler, wenn beispielsweise im Line-up nicht ein bestimmter Anteil an Frauen auftritt? 

Beim Donaufestival nicht, weil die Verhältnisse ungefähr ausgeglichen sind, aber natürlich bekomme ich die Diskussion mit; und wir werden uns 2022 auch einem verwandten Thema als Festivalmotto widmen. Das Thema ist ständig da, und natürlich gibt es hier auch Konflikte und Auffassungsunterschiede innerhalb des Teams. 

Welche Lektion aus der Pandemie haben Sie für die Zukunft mitgenommen?

Eine Lektion der Pandemie ist schon, dass man digitale Anreicherungen mitzudenken versucht, also Hybridformate. Das kann sinnvoll sein. Da sind wir dann beim ökologischen und finanziellen Fußabdruck: Wenn eine interessante Person in Indonesien sitzt, muss man diese für einen Vortrag oder eine Diskussion nicht extra einfliegen. ● ○