Wanat

„Sicher nicht die E-Roller!“


Martha Wanat berät Privatunternehmen und die öffentliche Hand in Sachen Mobilität. Nun gastiert sie bei der Globart Academy im Stift Melk. Mit morgen sprach sie über die Zukunft des Verkehrs, Vorbilder in anderen Ländern und darüber, was Dörfer und Städte voneinander lernen sollten.

morgen: Sind Sie heute schon geradelt? 

Martha Wanat

:

Heute noch nicht. Ich sitze seit der Früh im Home­office. Aber zum Einkaufen nehme ich dann das Fahrrad. 

Welches Rad haben Sie? 

Ein Brompton, ein klassisches englisches Faltrad, mit einer großen Tasche vorne, wunderschöne schwarze Vintage-Lackierung! 

Wie viele Kilometer legen Sie pro Jahr zurück? 

Im Coronajahr waren es weniger als sonst, weil viele Wege aufgrund der digitalen Telearbeit entfallen sind. In einem normalen Jahr aber lege ich mit dem Rad geschätzte 3.000 bis 3.500 Kilometer zurück, im Schnitt also knapp zehn Kilometer pro Tag – wobei ich aber liebend gerne auch Langstrecke fahre. Ich mache am Wochenende gerne große Touren mit 70 bis 100 Kilometern. Da kann ich den Gedanken freien Lauf lassen und vom Alltag abschalten.

Sie sind Wirtschafts- und Kulturwissenschaftlerin, erstellen mit Ihrer Beratungsagentur MOND – Mobility New Designs Mobilitätskonzepte für Private sowie die öffentliche Hand und betreiben mit Ihrem Team einen Concept-­Store für Fahrradmobilität. Wofür schlägt Ihr Herz? 

Wir sind ein Team aus Verkehrs- und Wirtschaftswissenschaftlerinnen, Architekten, Marketingleuten, Politikberatern und Mechanikern und haben in der Tat mehrere Standbeine. Wir bieten Standort- und Infrastrukturanalysen, Mobilitätsstrategien und nachhaltige Fuhrparkkonzepte an. Zudem arbeiten wir in Kooperation mit Architekturbüros Projekte im Bereich Mobilität und Mobilitätsinfrastruktur aus, beispielsweise Fahrradgaragen in Bürobauten. Außerdem bieten wir Fahrradflotten und Dienstrad-Programme an. Nicht zuletzt betreiben wir mitten in Berlin einen Concept-Bike-Store mit diversen Service­angeboten. Mein Herz schlägt eindeutig für klimaneutrale Mobilitätskonzepte – am stärksten also wahrscheinlich für meine Beratungstätigkeit mit MOND. 

Sie haben mehrere Standbeine und Interessen. Wie sehr kann man bei alledem objektiv und neutral bleiben? 

Das will ich gar nicht. Ich verstehe unser Unternehmen als eine Organisation mit einer klaren Haltung und einer politischen Agenda – nämlich Städte lebenswerter, gesünder und luftiger zu machen. In der Mobilitätsberatung bekennen wir uns voll und ganz zu nachhaltigen, klimaneutralen Lösungen – was aber nicht heißt, dass wir das Auto per se verteufeln. Der motorisierte Individualverkehr hat seine Berechtigung und es gibt einige Bereiche, wo er Sinn macht. Damit ein Konzept funktioniert und auch wirklich angenommen wird, ist es nötig, individuelle Lebenskulturen zu akzeptieren. Jede Form der Dogmatik und Radikalität ist weltfremd. Es braucht Flexibilität. 

Was sind objektive Argumente für eine mobile Transformation? 

Einerseits Klimaneutralität, Reduktion von CO2-Ausstoß, Ressourcenverbrauch und ökologischem Fußabdruck, andererseits Fitness, Gesundheit und generell Erhöhung von Lebensqualität. Für die Arbeitgeber geht es auch um eine intensivere Mitarbeiterbindung sowie um eine Reduktion von Mobilitätskosten. 

Auf Ihrer Webseite bezeichnen Sie sich als Mobilitätsinnovatorin. Was kann man sich unter Innovation in diesem Bereich vorstellen? 

Sicher nicht die E-Tretroller, die auf unseren Straßen herumstehen und eine durchschnittliche Lebensdauer von drei Monaten haben, ehe sie auf den Schrottplatz landen! Als Innovation bezeichne ich die Bereitschaft, sich auf die Perspektiven anderer einzulassen und neue Partnerschaften auszuprobieren, aber auch die Prozesse und Produkte, die aus einem ganzheitlichen, interdisziplinären Ansatz hervorgehen. Innovation bedeutet Umdenken, auch wenn das manchmal ein bisschen unbequem ist.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen? 

Für den Immobilienentwickler Quantum, der in ganz Deutschland tätig ist, haben wir in Düsseldorf eine Fahrradgarage entwickelt, die es in sich hat. Ebenerdig befahrbar, keine Rampen, keine verdrehten Abfahrten ins Untergeschoss, 420 Stellplätze, mit Umkleidekabinen, Duschen und sogar einer Werkstatt, insgesamt freundlich und hell gestaltet. 

Was können Sie Kommunen und der Privatwirtschaft mit auf den Weg geben? 

Wenn wir von einer Verkehrs- und Mobilitätswende sprechen, dann gibt es ein Wort, an dem wir nicht vorbeikommen werden – und zwar Infrastruktur. Es reicht nicht, Radwege und schöne Garagen zu bauen. Man muss das Thema umfassender denken. In Norddeutschland und in den Niederlanden sind große Radgaragen an Bahnhöfen und Verkehrsknotenpunkten eine Selbstverständlichkeit. In Amsterdam und Kopenhagen sind die Ampelphasen so geschaltet, dass die grüne Welle nicht die Auto-, sondern die Radfahrerinnen und Radfahrer bevorzugt. In Paris werden Schnellstraßen nach und nach zu Fußgängerzonen umgebaut. Und in Luxemburg steht der öffentliche Verkehr kostenlos zur Verfügung. Es geht um eine ausgeklügelte Park-, Lade- und Digitalinfrastruktur. Es geht um durchdachte Schnittstellen für Modal-Split-Lösungen. Und es geht um gute, nutzerfreundliche Apps. 

Jede Form der Dogmatik und Radikalität ist weltfremd.

Wie lange wird es dauern, bis dieses Wissen auch bei uns Praxis werden wird? 

Zehn Jahre oder mehr.

Haben wir noch zehn Jahre, bis wir endlich anfangen umzudenken? 

Nein.

Wie lautet Ihre Vision? 

Die Stadt sollte mehr Dorf werden, das Dorf sollte mehr Stadt werden. Das heißt: In der Stadt wünsche ich mir mehr Nachbarschaft, mehr Aufenthaltsqualität, mehr hochwertige Subzentren und eine 15-Minuten-Stadt, wo alles im Alltag Nötige ohne Auto in einer Viertelstunde erreichbar ist und wie sie die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo derzeit in Paris umsetzt. Und auf dem Land wünsche ich mir eine bessere Infrastruktur und Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr sowie einen höheren Standard bei Dienstleistungen, Nahversorgung und alltäglichem Komfort in der eigenen Mobilität. 

Wird Ihr Beruf als Mobilitätsinnovatorin eines fernen, utopischen Tages obsolet sein? 

Sie meinen, wenn die Städte und Konzerne eh schon alles richtig machen und ich eines Tages nicht mehr politische Arbeit leisten muss? Wenn dann endlich alles wieder gut ist? Das wäre schön! ● ○