Kolumne

Geraubte Zukunft


Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz an der Montana Universität in Missoula teil. Dort traf ich amerikanische und europäische Germanisten, die sich mit deutschsprachiger, aber vor allem mit österreichischer Literatur beschäftigten. Übermüdet, aber sehr zufrieden bestieg ich das Flugzeug nach Denver. Neben mir saß ein Mann, der mir spontan ein Sandwich anbot. Ich lehnte höflich ab und wandte mich meinem Journalbuch zu. Die letzten zwei Tage waren so intensiv, dass ich nicht zum Schreiben gekommen war. Der Mann ließ aber nicht locker. Er wandte sich mir zu und erzählte, dass er in Missoula seinen Sohn besucht habe, der dort mit seiner Frau eine kleine Pension betreibt. Dann fragte er, ob ich auch Kinder hätte und wie sie hießen. Obwohl ich üblicherweise sehr gern mit Mitreisenden plaudere, war mir diesmal nicht danach. Ich war müde und wollte mir Notizen machen, mich später vielleicht ein wenig ausruhen.

„Meine Tochter hieß Alicia“, verkündete er, als ob er meinen Unwillen nicht gesehen hätte. „Sie starb bei 9/11.“

„Was?“, fragte ich schockiert. „Das ist ja furchtbar.“ Ich war nicht auf solch eine Nachricht vorbereitet und in dem Moment unfähig, etwas Passendes zu sagen. „Es tut mir sehr leid für Sie“, stammelte ich. Schnell machte ich mein Journalbuch zu und auf einmal war ich es, die mit ihm reden wollte. „Wie haben Sie es erfahren?“, fragte ich, weil mir in dem Moment keine bessere Frage einfiel.

John erzählte mir, wie er am besagten Morgen in die Arbeit kam und seine Kollegen rund um den Fernseher stehend in heller Aufregung vorfand. Auf dem Bildschirm stieg schwarzer Rauch aus einem der World-Trade-Center-Tower, schon flog ein Flugzeug in den zweiten und biss sich tief ins Gebäude hinein. In dem Moment läutete Johns Telefon, wahrscheinlich läuteten alle Telefone in Amerika gleichzeitig. Es war Beth, Johns Frau, die fragte, ob er wüsste, ob Alicia im Dienst war. 

„Sie sollen wissen, meine Tochter war Stewardess bei den United Airlines“, sagte er mit gebrochener Stimme. Wie sich später herausgestellt hatte, war Alicia in dem Flugzeug, das in den Südturm flog, was ihr Vater live, schicksalhaft am Bildschirm miterleben musste.

Wir überflogen gerade die Rocky Mountains, da bückte sich John zu seiner Tasche und holte ein paar Fotos heraus. Auf allen Bildern war eine junge Frau zu sehen. Blond, attraktiv, lachend. Ich erfuhr, dass Alicia ihre Eltern eine Woche zuvor angerufen hatte, und ganz aufgelöst und glücklich gewesen war, denn Greg, mit dem sie seit neun Monaten zusammen war, hatte ihr seine Liebe gestanden und war bei ihr eingezogen. Sie wollten heiraten, sobald Alicias Vertrag bei der United auslief. Sie hatte einen Zweijahresvertrag, länger wollte sie nicht fliegen. Sie tat es nur aus Neugierde, weil sie sich die Welt ansehen wollte. Die beiden wohnten in San Francisco. Greg wohnte zum Zeitpunkt meines Gesprächs mit John immer noch dort. Er war Anlageberater. Ein fleißiger junger Mann. Er hätte John als Schwiegersohn gefallen.

Das Flugzeug, in dem wir saßen, begann zu vibrieren und rütteln. Über uns leuchtete die Anzeige „Fasten Seat Belts“. Ich griff nach der Schnalle meines ohnehin geschlossenen Sicherheitsgurts und überprüfte noch einmal, ob er zu war. John, dessen Gurt offen war, reagierte nicht. Die Maschine rüttelte jetzt so stark, dass ich Angst bekam, wir könnten abstürzen. Der Co-Pilot meldete sich und sagte, dass wir eine Gewitterzone überfliegen und die Turbulenzen bald vorüber sein würden. Er bat noch einmal die Passagiere, sich anzuschnallen. Mein Sitznachbar machte auch nach dieser Aufforderung den Sicherheitsgurt nicht zu.

„Sie sollten sich anschnallen“, sagte ich beunruhigt und reichte ihm den Gurt. Er schnallte sich an und griff nach meiner Hand. „Keine Angst“, sagte er, „es wird uns nichts passieren.“ Die Turbulenzen nahmen zu. Die Maschine sackte steil ab und flog von heftigen Stößen durchrüttelt weiter. Die Passagiere schrien, dann war es ganz still. John, als ob er gar nicht bemerkt hätte, in welcher Situation wir uns befinden, erzählte weiter.

„Die Terroristen haben die UAL 175 um acht Uhr vierzig in ihre Gewalt gebracht. So viel ist sicher. Was danach geschah, konnten die FBI-Beamten leicht rekonstruieren.“

Die Passagiere verharrten in einer kollektiven Erstarrung. Einigen sah ich an, dass sie beteten. John hatte keine Angst abzustürzen, im Gegenteil. Im Moment der Gefahr fühlte er sich seiner Tochter näher denn je.

Die Maschine stabilisierte sich inzwischen und flog jetzt ruhiger. Trotzdem hörte ich auf jedes verdächtige Geräusch. Aber es schien alles in Ordnung zu sein, denn die Leuchtschrift „Fasten Seat Belts“ erlosch und die Stewardessen liefen fröhlich den Gang entlang, servierten Getränke und sammelten leere Trinkgefäße ab.

„Nach und nach erfuhren wir alle Details: Im Flugzeug saßen 56 Passagiere, sieben Flugbegleiter sowie zwei Piloten. Die Maschine startete pünktlich um acht Uhr. Kurz vor drei viertel neun riefen zwei Passagiere und ein Flugbegleiter ihre Angehörigen an, dass die Maschine entführt worden war. Die Terroristen hatten die beiden Piloten erschossen und die Steuerung selbst übernommen. Und um neun Uhr drei passierte es, und wir verloren Alicia.“

Die beiden Türme des World Trade Centers kollabierten im Abstand von einer halben Stunde. Die Welt erfuhr es aus den Nachrichten.

Am 11. September jährt sich das Ereignis zum zwanzigsten Mal. Zum wievielten Mal denken die Angehörigen der Opfer: Was wäre wenn? Als Alicia starb, war sie 27 Jahre alt. Was wäre wenn? Wahrscheinlich hätte sie einen neuen Job gefunden, ihren Greg geheiratet, vielleicht ein paar Kinder bekommen. In einem Haus mit Garten, mit Schaukelstuhl auf der Veranda und einer Sandkiste im Gras. Vielleicht hätte sie ein paar Bücher oder Artikel für Fachzeitschriften geschrieben, eine Erfindung gemacht, wunderschöne Bilder gemalt oder Kleider entworfen. Man weiß es nie. Aber so oder so – vor ihr lag eine glänzende Zukunft, der sie mit einem Schlag beraubt wurde.

Wir setzten zum Landeflug an. Die Maschine sank viel zu schnell für meine angegriffenen Nerven und rüttelte kräftig, als sie die dicke Wolkendecke durchbrach. Die Passagiere verhielten sich ruhig, beinah ergeben. Auch John und ich redeten nicht mehr und sahen uns nicht einmal an. Trotzdem spürte ich, dass er zitterte.

Endlich setzte die Maschine auf dem Boden auf. Die Spannung, die in der Kabine wegen der schlechten Wetterbedingungen herrschte, löste sich auf. Die Menschen begannen wieder lauter zu sprechen, und nachdem die Gangway angedockt war, stürmten sie freudig und erleichtert zur Tür. John und ich stiegen als Letzte aus. Wir hatten Zeit. Mein Anschlussflug nach New York ging erst in zwei Stunden, seiner nach Detroit ebenso. Wir setzten uns in ein Café und redeten über unsere Familien und Berufe. John war vor allem an meinen Kindern interessiert und fragte, was sie studierten, was sie machen, welchen Hobbys sie nachgehen.

„Die Kinder sind das Wertvollste auf der Welt“, sagte er. „Sie sind unsere Zukunft. Nur sie geben dem Leben einen Sinn.“

Ich nickte. Tief in meiner Seele tat es mir sehr leid, dass ich beim Geburtstagsfest meines Sohnes nicht dabei sein konnte. In dem Moment packte mich eine so starke Sehnsucht nach meiner Familie, dass mir fast schwindlig wurde. „Was suche ich hier überhaupt?“, fragte ich mich. Warum fliege ich so weit weg, wenn ich alles, was ich zum Leben und zum Glücklichsein brauche, zu Hause habe? 

„Bleiben Sie lange in New York?“, fragte John.

„Vier Tage, dann geht es zurück zu meinen Lieben.“

Wir standen auf und gaben uns die Hand. „Darf ich Sie umarmen?“, fragte er, und als er sah, dass ich nichts dagegen hatte, legte er seine Arme um mich. „Bitte, grüßen sie Ihren Sohn und Ihre Tochter von mir und drücken Sie sie ganz fest.“

„Das werde ich tun“, sagte ich. „Das werde ich ganz bestimmt tun.“ ● ○