Dieser Mann ist gefährlich. Ja, er ist einer der weltweit bekanntesten zeitgenössischen Komponisten, und er ist 95. Zuvorderst aber ist er: hochgefährlich. Als er Ende Juni dieses Jahres den neu geschaffenen Alban-Berg-Ring auf Lebenszeit verliehen bekam, ätzte er schmunzelnd, es habe offenbar einen Gesinnungswandel in den vergangenen 50 Jahren gegeben, denn als er einst den 3. Akt der Oper „Lulu“ von Alban Berg in eine spielbare Fassung gebracht habe, sei er dafür von den selbsternannten Berg-Verteidigern zerpflückt und wüst beschimpft worden, heute aber verleihe ihm ausgerechnet das Alban-Berg-Gremium die höchstmögliche Auszeichnung. Nun ja, das mit der höflichen Altersmilde wird bei Friedrich Cerha wohl nichts mehr. Es soll Zeitgenossinnen und Zeitgenossen geben, die meinen, der Fritz sei mitunter störrisch und aufbrausend wie manche seiner Stücke. Sich zu fügen war jedenfalls noch nie Cerhas Sache. Anbiederung und Anpässlerei schon gar nicht. Als er zarte zehn war, wurde es ihm in einem Ferienheim zu eng, woraufhin sich der spätere Musik-Revolutionär nicht resignierend der Situation ergab, sondern kurzerhand ausbüxte. Die Gendarmerie musste ihn einfangen und zurückeskortieren. Dabei hatte sich die Freiheit doch so grenzenlos sinnvoll angefühlt: Friedrich hatte sich Fahrenden angeschlossen, war in deren Planwagen mitgefahren und hatte es genossen, mit dem Sippenoberhaupt musikalisch zu improvisieren. Selbstbestimmung. Der Einzelne und das Kollektiv – es sind die Themen, die Friedrich Cerha fortan persönlich wie künstlerisch nicht mehr loslassen.
Wien, Hietzing, Botschaftsviertel. Wir nehmen im hellbraunen Ledersofa vor dem offenen Kamin Platz. Friedrich Cerha trägt eine helle Sommerhose, ein luftiges Hemd und elegante, schwarze Ledersandalen. Traude Cerha nimmt – der niedrige Tisch mit einem Krug frischen Wassers zwischen ihnen – gegenüber von ihrem Mann Platz. Ihr schwarzes Sommerkleid ist so klar geschnitten, als hätte der Schneider den zurückhaltenden Intellekt und die Herzensgüte der zierlichen Trägerin im Sinn gehabt. Traude Cerha ist Musikerin, Musikvermittlerin, Musikforscherin und nicht zuletzt Managerin ihres Ehemannes.