Camille Blake

Donaufestival

Stimmungsbarometer


Clubkultur, Musik, Festivals: Diese kulturellen Sparten traf die Pandemie am härtesten. Die Absage des Donaufestivals 2020 schmerzte heftig – zumal das fein austarierte Programm, das der künstlerische Leiter Thomas Edlinger und sein Team zusammengestellt hatten, nicht einfach als Ganzes verschoben werden konnte. 2021 verlegte man jedenfalls das mittlerweile schon fast traditionelle Event vom Frühling auf den Herbst (1. bis 3. und 8. bis 10. Oktober, Krems, Infos: donaufestival.at) und erdachte ein neues Motto: „In the Year of the Metal Ox“ lautet der diesjährige Titel, der sich auf das chinesische Sternzeichen des Jahres 2021 bezieht. Teile des für 2020 geplanten Programms aus Kunst, Theorie, Musik und Performance werden nun nachgeholt – unter anderem der Auftritt des Electro-Duos Lost Girls, das wir in diesem Special porträtieren und das mit Artists wie UCC Harlo (hier im Bild), Forensic Architecture, Nazar und Black Country, New Road zu den Highlights des Festivals zählt. Zudem befragten wir internationale Acts über ihre Donaufestival-Erfahrungen und sprachen mit Edlinger über ein pandemiemüdes Publikum, neu kalibrierte Vorstellungen von Zukunft und Gegenwart sowie die künstlerischen Ansprüche seines Festivals. Eine von dessen Aufgaben sieht er übrigens darin, „eine gewisse gesellschaftliche Stimmung zu antizipieren“. Wie diese im Oktober wohl sein wird?

O-Töne

Groove, Rhythmus, Schlaf


Wie erlebt man das Donaufestival von der Bühne aus? morgen befragte Künstlerinnen und Künstler, die in Krems musizierten, tanzten, auflegten und Kunst schufen zu ihren Erlebnissen. Sie erzählten von Indoor-Gärten und Publikumsverschnürungen, vom Schlamm der Konzerthallen und einer Musikrichtung namens Gqom. Auch der Riesling blieb in Erinnerung.

Circuit des Yeux

Meine Erinnerungen an die Performance beim Donaufestival sind warm und lebendig. Es waren sehr viele Besucherinnen und Besucher vor Ort. Ich erinnere mich an volle Hallen und Gänge. Vor meinem Konzert kam ich in ein Gedränge. Zum Glück stieß ich sofort auf Musik und Kunstinstallationen, die mich beruhigten. Der Klangraum Krems in der Minoritenkirche, in dem ich auftrat, war ein fast perfekter Ort – ein höhlenhafter Raum mit hohen Türen. Er war erfüllt von einer alten Energie. Sie trug meine Songs ganz natürlich, ohne den atmosphärischen Schlamm vieler Konzerthallen, ins Publikum. Ich erinnere mich an ein hingerissenes Publikum von ungefähr 500 Leuten. Das Besondere daran: Es war kein einziges Mobiltelefon zu sehen. Ich wusste schon beim ersten Song, dass unsere Herzen auf einzigartige Weise miteinander verbunden waren.

Danach verkaufte ich meine Platten, CDs und T-Shirts selbst am Gang. Es war ein etwas unbehaglicher, aber intimer Austausch, meine Musik von Angesicht zu Angesicht an die Zuhörerinnen und Zuhörer zu bringen, Hände zu schütteln und wildfremde Menschen zu umarmen. 

Ich bin eigentlich sehr ruhig und zurückhaltend. Ich war das Mädchen, das in der Klasse ganz hinten saß und fast nie etwas sagte. Als Jugendliche hatte ich viele Ideen, aber es brauchte lange Zeit und enorme Energie, um sie in Worte zu fassen und meiner Umwelt mitteilen zu können. Heute habe ich das Gefühl, dass ich nur auf der Bühne zu hundert Prozent ich selbst bin. Es ist eine sehr starke, ermächtigende Erfahrung. Krems war meine erste und bislang einzige Begegnung mit Österreich. Das Festival wird mir immer im Gedächtnis bleiben, weil es meinem künstlerischen Streben sehr entgegenkam.

Wird immer im Gedächtnis bleiben

Circuit des Yeux ist der Bühnenname der US-amerikanischen Musikerin Haley Fohr. Die in Chicago lebende Sängerin, Komponistin und Multiinstrumentalistin lotet in ihren dunklen Songs, die an Vorbilder wie Nico oder Scott Walker anschließen, das Verhältnis zwischen Persönlichem und Universellem aus. Ihr erstes Österreich-Konzert zählte zu den Höhepunkten des Donaufestival 2018.

Karin Pauer

Das Schöne an unserem Stück ist, dass es total Prä-Corona ist. Mein Partner Aldo Giannotti und ich machten das Publikum dabei zu einer Community. Man kommt sich sehr nahe, es ergeben sich vorübergehende Beziehungen zwischen den Menschen im Raum. Wir führen sie teilweise herum und strukturieren ihre Positionen um. Dadurch ergeben sich jedes Mal neue Konstellationen. 

Die Leute sind aufgefordert, über ihr eigenes Verhalten in einer Gemeinschaft zu reflektieren. Spannend finde ich die kulturellen Unterschiede. Ich spielte das Stück auch schon in Rumänien, da ging das Publikum voll mit. Am Donaufestival war es etwas härter zu knacken. Publikumspartizipation ist eine feine Linie. Es soll nicht unangenehm werden. Mir ist eine sanfte Form von Partizipation am liebsten, wo sich die Leute nicht unwohl fühlen. Je länger sie im Raum waren, umso mehr haben sie sich darauf eingelassen. Wie bei einer Massage wurden sie langsam sanfter. Am Ende waren alle ganz offen und entspannt. Für mich war das eine sehr intensive und auch emotionale Erfahrung. Ich versuche als Performerin immer mit der Stimmung im Raum zu arbeiten. Das ist eine Praxis, die ich bei jeder Arbeit anwende.

Intensive Erfahrung

Generell lebt das Donaufestival von der Nähe. Es passiert viel auf einmal, es gibt laufend Austauschmöglichkeiten mit dem Publikum. Das Programm ist auch sehr schön verwoben. Man geht von einem Programmpunkt zum anderen, oft passiert am Weg dorthin noch irgendwas. Das Festival ist sehr vielseitig, und es geschieht ständig Unerwartetes. Die Pandemie bedeutete für meine Arbeit einen massiven Einschnitt. Ich dachte, das Stück sei damit gestorben und wir können es vielleicht nie wieder zeigen. Tatsächlich passt es durch unser neues Empfinden von Nähe und Distanz jetzt inhaltlich wieder sehr gut. Ich führte es gerade in einem Museum in Bologna zum ersten Mal seit der Pandemie wieder auf, natürlich in einer corona-tauglichen Adaption. Momentan herrschen überall andere Regeln. Als ich im Juni ein Solo im Tanzquartier Wien spielte, musste ich drei Meter Abstand zum Publikum einhalten. Bei einem Tanzfestival in Budapest durften nur geimpfte Leute rein, dafür gab es überhaupt keine Abstandsregeln. In Italien war es eine Mischvariante. Für die Parts, wo wir näher ans Publikum herangetreten sind, haben wir uns maskiert. Aber langsam kommen wir wieder zusammen.

Die Wiener Performerin und Choreografin Karin Pauer zeigte gemeinsam mit dem Künstler Aldo Giannotti beim Donaufestival 2019 das Stück „this is where we draw the line“, bei dem das Publikum mit ständig neuen Verknüpfungen von Schnüren räumliche Konstellationen verändert.

DJ Lag

Ich glaube nicht, dass ich diese Tournee und meinen Auftritt beim Donaufestival jemals vergessen werde. Es war erst meine zweite internationale Tour außerhalb von Südafrika. Krems war eine große Show. Ich habe in dieser Nacht erstmals in einer Halle vor so vielen Leuten aufgelegt. Wenn ich mich recht erinnere, war das auch das erste und bislang einzige Mal, dass ich auf der Bühne mein T-Shirt ausgezogen habe. So aufgeregt war ich. Auf dieser Reise habe ich einiges zum ersten Mal erlebt. Ich war erstmals länger allein unterwegs – bei der Tournee davor hatte mich jemand begleitet. Am Bahnhof Krems sah ich meinen Namen zum ersten Mal auf einer Plakatwand. Auch das war ein sehr besonderer Moment.

Ein sehr besonderer Moment

Mich überraschte, dass unser Sound die Menschen auf der ganzen Welt zum Tanzen bringt. Wir erwarteten nicht, dass Gqom so gut ankommen würde. Bei den ersten Auftritten in Europa und den USA hatte ich Angst, dass die Leute die Musik nicht fühlen würden, aber das ist nie passiert. Es braucht nur ein oder zwei Songs, und schon bewegen wir uns alle gemeinsam. Wenn ich auf Reisen bin, werde ich manchmal gefragt, was ich so mache. Wie ich Gqom beschreibe? Es ist der Sound einer Zulu-Trommel und ein Groove und ein Bass und ein Rhythmus. Normalerweise gibt es heute fast überall Internet. Das ist hilfreich, denn so kann ich den Leuten meine Arbeit online zeigen und ihnen noch andere südafrikanische Künstlerinnen und Künstler empfehlen. Gqom trat in den letzten Jahren einen erstaunlichen Siegeszug an. Unsere Musik bewegte sich um die ganze Welt. Sogar Beyoncé nahm einen Song in dem Stil auf. Ich habe „My Power“ für ihr Album „Lion King: The Gift“ koproduziert. Der Sound ist also jetzt schon sehr populär. Er ist aber nur ein Teil des Ganzen. Afrikanische Musik an sich ist nicht mehr aufzuhalten. Sie wird immer breiter wahrgenommen. Ich bin gespannt, was noch alles passieren wird.

DJ Lag, südafrikanischer Produzent und DJ, zählt zu den Pionieren und Aushängeschildern der Gqom-Szene. Gqom ist eine Abwandlung von Housemusic. Zu dem peitschend-minimalistischen Sound muss man einfach tanzen. Den ersten Beweis dafür hierzulande erbrachte DJ Lag mit seinem schweißtreibenden Set beim Donaufestival 2017.

Marina Gioti

Die Premiere meiner Performance fand 2016 in Athen statt. Ich traf Thomas Edlinger, den künstlerischen Leiter des Donaufestivals, danach auf der Documenta und schlug ihm diese Arbeit für Krems vor. Sie dreht sich darum, wie die Technologie so gut wie alle Aspekte unseres Lebens beeinflusst. Sogar den Schlaf. Thomas fand, dass das gut zum damaligen Festivalmotto „Endless Now“ passte, und war gleich an Bord. „Polysomnogarden“ ist eine sehr komplizierte Installation. Wir errichteten dafür im Forum Frohner einen Garten mit echten Pflanzen. Er wurde völlig verkabelt, weil riesige kinetische Skulpturen darin standen. Diese synchronisierten wir mit Daten meines Schlafes. Um alles vorzubereiten, war ich schon sieben Tage vorher in Krems. Ich glaube, ich war eine der ersten Kunstschaffenden vor Ort. Ich hatte richtig Spaß in dieser schönen Kleinstadt. Es gab auch eine Weinverkostung, der Riesling war großartig. Die Produktion war eine perfekte Zusammenarbeit und das erfolgreichste Set-up dieser Installation, eine meiner besten Erfahrungen als Künstlerin. Manchmal gehen Leute lieber den einfachen Weg. Nicht so das Donaufestival. Sonst hätten sie meine Arbeit nicht ausgewählt. An drei Tagen zählten wir fast tausend Besucherinnen und Besucher. Ich war rundum happy. Auch die Aufmerksamkeit des Publikums war erstaunlich, und es stellte sehr gute Fragen. Manchmal saßen die Leute stundenlang in der Installation herum wie in einem Chill-out-Space. Du befindest dich sozusagen im Schlaf einer anderen Person und untersuchst den Rhythmus des schlafenden Körpers. 

Erstaunliche Aufmerksamkeit

Die Installation wirkt sehr friedvoll, aber meine Arbeit ist auch politisch. Der Kapitalismus stiehlt uns den Schlaf. Wenn du schläfst, hast du das Gefühl etwas zu verpassen. Solche Überlegungen stehen dahinter. Corona hat uns nicht direkt in den Schlaf-, sondern in den Schlummermodus versetzt. Wir haben ja trotzdem gearbeitet und diese furchtbaren Zoom-Calls durchgestanden. Jetzt machen wir wieder Babyschritte in der richtigen Welt. Es fühlt sich noch sehr seltsam an.

Ich selbst habe einen wunderbaren Schlaf, aber es geht nicht allen so. Momentan interessieren mich Schlafprobleme sehr. Wenn ich die Installation wieder machen würde, würde ich die Daten einer Person mit einer Schlafstörung als Grundlage nehmen. Das Ganze hätte eine ganz andere Atmosphäre. Es würde nicht wie ein Garten aussehen, mehr wie eine Folterkammer.

Die griechische Künstlerin Marina Gioti startete als Filmemacherin, ehe sie sich verstärkt der bildenden Kunst zuwandte. Beim Donaufestival 2018 zeigte sie die Installation „Polysomnogarden“ – ein sich wandelndes Realtime-Environment.

Thomas Edlinger
Heribert Corn
Thomas Edlinger

Thomas Edlinger

„Was kann man als zeitgenössisch betrachten?“


Sind Festivals träge? Ist die Umweltkatastrophe bereits eingetreten? Wie wird ein künftiges Publikum Kunst, die auf die Pandemie antwortet, wahrnehmen? Was wurde aus den großen Zukunftsvisionen? Und wie schlägt sich die identitätspolitische Debatte auf den Betrieb nieder? morgen traf Thomas Edlinger, der das Donaufestival seit 2017 leitet, um diese Fragen zu besprechen.

Planen, absagen, neu planen, umplanen – wer 2020 und 2021 Festivals auszurichten hatte und hat, ist nicht zu beneiden. Auch der künstlerische Leiter des Donaufestivals in Krems, Thomas Edlinger, wird sein Programm wohl bis zur letzten Minute adaptieren müssen. Wer weiß schon, wie die Lage bezüglich Sperrstunden und Auslastung im Oktober aussehen wird. Bereits jetzt geht die Angst vor einer vierten, mit weiteren Lockdowns verbundenen Welle um. Doch etwas Gutes hatte Corona für den Festivalleiter schon: Der welthistorische Einschnitt habe, so sagt er, eine unerwartete Erfahrung von Vernetztheit und Gleichzeitigkeit möglich gemacht.

morgen: Sie sind seit 2017 Leiter des Donaufestivals. Mit welchen Vorhaben für die Zukunft sind Sie damals angetreten und inwiefern haben Sie diese zur Erfüllung gebracht? 

Thomas Edlinger

:

Ich übernahm das Donaufestival zu einem Zeitpunkt, an dem ich bereits auf sehr viel aufbauen konnte, was mein Vorgänger Tomas Zierhofer-Kin über die Jahre in die Wege geleitet hatte. Ich wollte über die Idee von Leitmotiven inhaltliche Akzentuierungen setzen, die sich ästhetisch und diskursiv im Programm wiederfinden. Sie sollten etwas Symptomatisches unserer Gegenwart beschreiben. Ich wollte auch ein Überraschungsformat schaffen, das man nicht vorher googeln kann, bei dem die Erfahrung also nicht im Vorhinein simulierbar ist. Es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass die Leute glauben, etwas zu kennen, weil sie es am Handy gesehen haben. Das trifft bis zu einem gewissen Grad natürlich zu, verfehlt aber auch immer etwas. Außerdem riefen wir eine vom Festival unabhängige Publikation ins Leben, weil ich es für eine interessante Idee halte, etwas über die Erfahrung einer verdichteten Festivalatmosphäre Hinausgehendes zu produzieren. 

Sie sprechen von Konkretem. Hatten Sie aber auch eine umfassendere Vision oder Fragestellung, von der Sie ausgingen?

Es ist nicht mehr so einfach, Kategorien wie Progressivität oder Avantgarde zu bestimmen. Es geht um die Frage, was man im forcierten Sinn als zeitgenössisch bezeichnen könnte. Das ist ja eine Art Grundidee des Donaufestivals, der ich mich verpflichtet fühle. Vieles von dem, was mittlerweile herausfordernd zeitgenössisch ist, unterläuft und unterbricht genau das Anforderungsprofil an diese Vorstellung. Wir hatten zum Beispiel einmal im Rahmen einer Festivalausgabe, die mit der Erfahrung von Zeitlichkeit zu tun hatte, eine Art Ruhezone von Marina Gioti installiert (siehe auch Seite 38, Anm.). Da wurde die militärisch oder kapitalistisch motivierte Beforschung von Schlaf reflektiert. Das war weder laut noch aggressiv.

Dystopische Elemente haben sich in den letzten Jahren stark durch die künstlerischen Positionen des Donaufestivals gezogen – nun ist mit der Pandemie tatsächlich ein dystopischer Ausnahmezustand eingetreten. Hätten Sie ein Ereignis wie Corona aus Ihrer eigenen Festivalprogrammierung deduzieren können? 

Kurze Antwort: Nein. Das Dystopische würde ich allerdings sowieso zurückweisen, begonnen haben wir etwa mit dem in der Regel sehr positiv besetzten Begriff der Empathie. Es stimmt aber, dass mir eine Art visionärer, umstürzlerischer Zukunftsbegriff, also eine „große Zukunft“, nicht mehr haltbar erschien. Mir kam aber selbst in die Quere, dass die Vorstellung der „endlosen Gegenwart“ durch die Pandemie auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Dieser Begriff war 2018 das Motto des Festivals und meinte eine Zukunft, die nicht mehr als Alterität zur Gegenwart gedacht werden kann. Die Pandemie ist, denke ich, doch ein Ereignis im starken Sinn, das die Karten neu mischt, ein welthistorischer Einschnitt, von dem viele und auch ich geglaubt haben, dass er nicht mehr möglich sei. Diese buchstäbliche Erfahrung von Vernetztheit und Gleichzeitigkeit, die neu ist, hatte ich nicht am Schirm.

Seit Sie das Motto der „endlosen Gegenwart“ ausgaben, entwickelten Bewegungen wie Fridays for Future zumindest aus der Dystopie heraus eine Art Zukunftsvorstellung. Verwunderte Sie das?

Nein, gar nicht. Die Ökologiebewegung ist ja nichts Neues, und es ist eher eigenartig, dass sie zuvor so wenig Gehör und Gewicht bekommen hatte, sicherlich aufgrund von politischem Gegendruck. Heute herrscht in breiten Teilen der Weltbevölkerung die Einschätzung vor, dass es so nicht weitergehen kann. Was dahinter auch noch steckt, ist eine diffuse Ahnung davon, dass man die tipping points, die points of no return längst überschritten haben könnte. Dass es also nicht mehr um den roten Knopf geht, den eine Supermacht drückt, sondern, dass die Katastrophe bereits passiert sein könnte und wir ihre Folgen maximal verlangsamen, aber nicht mehr aufhalten können.

Im Oktober wird die Pandemie vielleicht so weit im Griff sein, dass sich die allgemeine Stimmung sehr von der im Lockdown vorherrschenden unterscheiden wird. Das Publikum wird wohl keine Lust auf Lockdown-Arbeiten haben. Wie geht man damit um? 

Diese Frage beschäftigt mich sehr, da die Aufgabe eines Festivals ja ist, auch eine gewisse gesellschaftliche Stimmung zu antizipieren, sich die Frage zu stellen, wie sich das im Oktober anfühlen wird. Ich denke, dass Sie recht haben, dass es ein Zeitpunkt sein wird, an dem das Publikum nicht mehr so stark an pandemiedefinierten Arbeiten interessiert sein wird. Zum Glück zeigen wir ja einige Werke aus dem Programm von 2020, die also zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als Corona noch keine Rolle gespielt hat. Durch die Pandemie motivierte Arbeiten wird’s wohl auch geben, aber voraussichtlich in veränderter Form. 

Inwiefern macht so eine Situation auch die Trägheit des Festivalbetriebs deutlich und wie wichtig ist so etwas wie Aktualität überhaupt?

Die Trägheit einer Programmierung auf der einen und die Spontaneität auf der anderen Seite hängt stark von den Genres ab.  Alles, was in den Performancebereich geht, hat deutlich mehr Vorlaufzeit, auch bildende Kunst ist sehr langfristig, Musik dagegen etwas kurzfristiger. Im Performancebereich war zu bemerken, dass pandemiebedingt kaum etwas produziert wurde, und wenn, dann nur unter Pandemiebedingungen wie dem Einsatz von Zoom. Die Funktionsweise von längerfristigen Koproduktionen, die sich ein Jahr lang aufbauen, ist ins Stocken geraten. Das ist jetzt etwas kurzfristiger geworden, es wird wohl allerdings wieder in die alten Bahnen zurückgehen, nicht zuletzt, weil das anders als über Zusammenarbeiten nicht finanzierbar ist.

Festivals sind so aufwendig, kostspielig und offensichtlich auch nicht sehr pandemieresistent. Warum boomt dieses Format?

Festivals, die im kommerziellen Sinn erfolgreich sind wie ein Sonar oder ein Primavera, sind stark mit touristischen Überlegungen verknüpft, finden also an Orten statt, die auch touristisch interessant sind. Durch den Easyjet-Tourismus sind sie für viele Menschen erreichbar. Spezialisierte Festivals wie das Donaufestival, von denen es in Europa viele gibt, geben Künstlerinnen und Künstlern – und zwar auch solchen, die nicht mehrheitsfähig sind – ein Publikum. Festivals können dafür Aufmerksamkeit schaffen. Filmfestivals sind ein gutes Beispiel für die temporäre Attraktivität von Minderheitenprogrammen. Da gibt es ja sogar das eigene Genre Festivalfilm.

Ich wollte ein Überraschungsformat schaffen.

Eine Gegenwartsfrage: Wie beeinflusst Sie die identitätspolitische Debatte als Festivalleiter? Verweigern sich männliche Künstler, wenn beispielsweise im Line-up nicht ein bestimmter Anteil an Frauen auftritt? 

Beim Donaufestival nicht, weil die Verhältnisse ungefähr ausgeglichen sind, aber natürlich bekomme ich die Diskussion mit; und wir werden uns 2022 auch einem verwandten Thema als Festivalmotto widmen. Das Thema ist ständig da, und natürlich gibt es hier auch Konflikte und Auffassungsunterschiede innerhalb des Teams. 

Welche Lektion aus der Pandemie haben Sie für die Zukunft mitgenommen?

Eine Lektion der Pandemie ist schon, dass man digitale Anreicherungen mitzudenken versucht, also Hybridformate. Das kann sinnvoll sein. Da sind wir dann beim ökologischen und finanziellen Fußabdruck: Wenn eine interessante Person in Indonesien sitzt, muss man diese für einen Vortrag oder eine Diskussion nicht extra einfliegen. ● ○

Lost Girls

Das menschliche Kollektiv


Die norwegische Experimental-Pop-Band Lost Girls spielt beim Donaufestival 2021. morgen ließ sich von dem Duo erklären, warum „Alice im Wunderland“ seine Musik beeinflusst, wie sein Debütalbum „Menneskekollektivet“ der Pandemie trotzte und was es von der Zukunft der Musik erwartet.

Die letzten Tage vor dem Ersten Weltkrieg. Ein Hotelzimmer in den österreichischen Bergen. Drei Frauen tauschen sexuelle Erfahrungen aus – zuerst theoretisch, dann praktisch. Die drei Damen heißen Alice, nach Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, Dorothy, nach der Figur aus dem „Zauberer von Oz“ und Wendy, wie eine der Protagonistinnen aus dem Märchen „Peter Pan“. 

Dieser Plot entstammt der Graphic Novel „Lost Girls“ (1991), geschrieben von Comic-Innovator Alan Moore, illustriert von Grafikerin Melinda Gebbie. Moore tätowierte mit Comics wie „Watchmen“ oder „V wie Vendetta“ dem stereotypen Superhelden-Genre eine mehrdimensionale Charaktertiefe unter die Haut.

Politik, Porno, Provokation

Die Themen Politik, Porno und Provokation beschäftigen auch die norwegische Allroundkünstlerin Jenny Hval in ihrer Musik und ihren Büchern. Daher nannte sie ihre Electronic-Band mit Multiinstrumentalist Håvard Volden Lost Girls. „Auch wir wollen Komplexes auf simple Weise ausdrücken, was man im Alltag vielleicht nicht wagen würde“, sagt Hval im morgen-Gespräch. Österreich eigne sich bestens als Schauplatz der erotischen Graphic Novel, „wegen seiner versteckten Ideologien und der Unterdrückung im Untergrund“. 

Was dieses Image von Österreich in ihrem Kopf erweckt hat? Markenbotschafter des Landes sind in ihren Augen abgründige Filmwerke wie „Im Keller“ von Ulrich Seidl oder „Die Praxis der Liebe“ von Valie Export, dessen Titel auch Pate stand für Hvals letztes Soloalbum „The Practice of Love“ (2019). Schon 2013 gastierte sie beim Donaufestival in Krems, wo die Lost Girls diesen Herbst auftreten werden. 

Hval und Volden sitzen vor ihrem Plattenregal und hüten ihren schlafenden Rentierhund, den sie sich in der Pandemie zugelegt haben. Als der erste Lockdown auch Norwegen zusperrte, haben sich die beiden eine Woche im Tonstudio verbarrikadiert, um nach zehn Jahren gemeinsamen Tourens ihr Lost-Girls-Debütalbum „Menneskekollektivet“ einzuspielen.

Zwischen jedem Take checkten sie die Nachrichtenlage, cancelten Konzerte ihrer Welttournee oder kauften Toilettenpapier. Ihre emotionale Zerstreuung, der plötzliche Wunsch nach Distanz und gleichzeitiger Intimität verbinden die vielen Fragmente zu einem „menschlichen Kollektiv“, wie der norwegische Albumtitel ins Deutsche übersetzt wird. Improvisierte Skizzen des einen wurden vom anderen verfremdet. 

Die fünf Songs ignorieren die 2-Minuten-30-Diktatur von Spotify und bäumen sich langsam auf: Warme Synth-Flächen mäandern in Dancefloor-Rhythmen, Voldens schmutzige E-Gitarre elektrifiziert die abstrakte Lyrik von Hval. Viele ihrer Worte sind im Studio improvisiert, einige als Spoken Word vorgetragen, manche im Trip-Hop-Chorus gesungen. Zitate aus dem ersten computergenierten Buch aus dem Jahr 1984 erinnern daran, dass Elektrizität schon damals das Gold der Maschinen war.

Jenny Hval hat sich im Feuilleton eine Reputation als schreibende Konzeptkünstlerin aufgebaut, die sie jedoch in Interviews bisweilen dekonstruiert: „Ich rede einfach, doch ich habe keine Antworten.“ Oder: „Ich kann mich nicht erinnern, was ich damit sagen wollte.“ Auch wenn nicht hinter jedem scheinbaren Konzept eine Theorie stecke, schwäche das keineswegs die Bedeutung ihrer Texte. „Theoriekonzepte neigen bisweilen dazu, dass die Kunst zu erzwungen wirkt“, meint Hval, „doch dieses Album ist alles andere als erzwungen; es ist faul wie wir, aber es macht Spaß.“ 

Vielleicht spielen wir nur noch für den Hund.

Unfaire Bezahlung

Im Song „Carried by Invisible Bodies“ thematisieren die Lost Girls das Schreiben und das resonanzlose Vakuum ihrer „fiktionalen Konversation“. Ist die Zukunft der Livemusik auch zur virtuellen Einseitigkeit verdammt? 

Von einsamen Streaming-Konzerten vor einer Kamera halten die beiden wenig. Um das Publikum zu berühren, brauche es die Präsenz der Musikerinnen und Musiker sowie eine echte Interaktion im Publikum. Auch die begleitende Verschränkung von Popmusik mit Social Media nerve zunehmend.

Wenig spannend findet Hval die Vorstellung, dass ein Computerprogramm jedes ihrer geschriebenen Worte sammeln und daraus ein neues Textwerk schaffen könnte. Vielleicht auch, weil sie sich schon an generativer Kunst abgearbeitet hat, als sie in Echtzeit geschriebene Worte von einer Sprachsoftware vorlesen ließ und live bearbeitete. „Um Technologie organisch, progressiv und interessant einzusetzen, muss man Technologieexpertin werden. Wir arbeiten mit Chatbots und Programmen, deren Rahmen jemand anderer für uns erschaffen hat“, sagt Hval.

Die wahren Bedenken der Lost Girls zur Zukunft der Musik: Wie sie weiterhin abseits einer kommerzialisierten Industrie arbeiten können. Einer brutalen Streamingwelt, in der Spotify mit unfairer Bezahlung und Algorithmen den Erfolg von Musik bestimme, wollen sie sich nicht anpassen. „Vielleicht verschwinden wir einfach“, meint Hval lapidar. „Und spielen nur noch für unseren Hund.“ ● ○