Die Themen Politik, Porno und Provokation beschäftigen auch die norwegische Allroundkünstlerin Jenny Hval in ihrer Musik und ihren Büchern. Daher nannte sie ihre Electronic-Band mit Multiinstrumentalist Håvard Volden Lost Girls. „Auch wir wollen Komplexes auf simple Weise ausdrücken, was man im Alltag vielleicht nicht wagen würde“, sagt Hval im morgen-Gespräch. Österreich eigne sich bestens als Schauplatz der erotischen Graphic Novel, „wegen seiner versteckten Ideologien und der Unterdrückung im Untergrund“.
Was dieses Image von Österreich in ihrem Kopf erweckt hat? Markenbotschafter des Landes sind in ihren Augen abgründige Filmwerke wie „Im Keller“ von Ulrich Seidl oder „Die Praxis der Liebe“ von Valie Export, dessen Titel auch Pate stand für Hvals letztes Soloalbum „The Practice of Love“ (2019). Schon 2013 gastierte sie beim Donaufestival in Krems, wo die Lost Girls diesen Herbst auftreten werden.
Hval und Volden sitzen vor ihrem Plattenregal und hüten ihren schlafenden Rentierhund, den sie sich in der Pandemie zugelegt haben. Als der erste Lockdown auch Norwegen zusperrte, haben sich die beiden eine Woche im Tonstudio verbarrikadiert, um nach zehn Jahren gemeinsamen Tourens ihr Lost-Girls-Debütalbum „Menneskekollektivet“ einzuspielen.
Zwischen jedem Take checkten sie die Nachrichtenlage, cancelten Konzerte ihrer Welttournee oder kauften Toilettenpapier. Ihre emotionale Zerstreuung, der plötzliche Wunsch nach Distanz und gleichzeitiger Intimität verbinden die vielen Fragmente zu einem „menschlichen Kollektiv“, wie der norwegische Albumtitel ins Deutsche übersetzt wird. Improvisierte Skizzen des einen wurden vom anderen verfremdet.
Die fünf Songs ignorieren die 2-Minuten-30-Diktatur von Spotify und bäumen sich langsam auf: Warme Synth-Flächen mäandern in Dancefloor-Rhythmen, Voldens schmutzige E-Gitarre elektrifiziert die abstrakte Lyrik von Hval. Viele ihrer Worte sind im Studio improvisiert, einige als Spoken Word vorgetragen, manche im Trip-Hop-Chorus gesungen. Zitate aus dem ersten computergenierten Buch aus dem Jahr 1984 erinnern daran, dass Elektrizität schon damals das Gold der Maschinen war.
Jenny Hval hat sich im Feuilleton eine Reputation als schreibende Konzeptkünstlerin aufgebaut, die sie jedoch in Interviews bisweilen dekonstruiert: „Ich rede einfach, doch ich habe keine Antworten.“ Oder: „Ich kann mich nicht erinnern, was ich damit sagen wollte.“ Auch wenn nicht hinter jedem scheinbaren Konzept eine Theorie stecke, schwäche das keineswegs die Bedeutung ihrer Texte. „Theoriekonzepte neigen bisweilen dazu, dass die Kunst zu erzwungen wirkt“, meint Hval, „doch dieses Album ist alles andere als erzwungen; es ist faul wie wir, aber es macht Spaß.“