Lost Girls

Das menschliche Kollektiv


Die norwegische Experimental-Pop-Band Lost Girls spielt beim Donaufestival 2021. morgen ließ sich von dem Duo erklären, warum „Alice im Wunderland“ seine Musik beeinflusst, wie sein Debütalbum „Menneskekollektivet“ der Pandemie trotzte und was es von der Zukunft der Musik erwartet.

Die letzten Tage vor dem Ersten Weltkrieg. Ein Hotelzimmer in den österreichischen Bergen. Drei Frauen tauschen sexuelle Erfahrungen aus – zuerst theoretisch, dann praktisch. Die drei Damen heißen Alice, nach Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, Dorothy, nach der Figur aus dem „Zauberer von Oz“ und Wendy, wie eine der Protagonistinnen aus dem Märchen „Peter Pan“. 

Dieser Plot entstammt der Graphic Novel „Lost Girls“ (1991), geschrieben von Comic-Innovator Alan Moore, illustriert von Grafikerin Melinda Gebbie. Moore tätowierte mit Comics wie „Watchmen“ oder „V wie Vendetta“ dem stereotypen Superhelden-Genre eine mehrdimensionale Charaktertiefe unter die Haut.

Politik, Porno, Provokation

Die Themen Politik, Porno und Provokation beschäftigen auch die norwegische Allroundkünstlerin Jenny Hval in ihrer Musik und ihren Büchern. Daher nannte sie ihre Electronic-Band mit Multiinstrumentalist Håvard Volden Lost Girls. „Auch wir wollen Komplexes auf simple Weise ausdrücken, was man im Alltag vielleicht nicht wagen würde“, sagt Hval im morgen-Gespräch. Österreich eigne sich bestens als Schauplatz der erotischen Graphic Novel, „wegen seiner versteckten Ideologien und der Unterdrückung im Untergrund“. 

Was dieses Image von Österreich in ihrem Kopf erweckt hat? Markenbotschafter des Landes sind in ihren Augen abgründige Filmwerke wie „Im Keller“ von Ulrich Seidl oder „Die Praxis der Liebe“ von Valie Export, dessen Titel auch Pate stand für Hvals letztes Soloalbum „The Practice of Love“ (2019). Schon 2013 gastierte sie beim Donaufestival in Krems, wo die Lost Girls diesen Herbst auftreten werden. 

Hval und Volden sitzen vor ihrem Plattenregal und hüten ihren schlafenden Rentierhund, den sie sich in der Pandemie zugelegt haben. Als der erste Lockdown auch Norwegen zusperrte, haben sich die beiden eine Woche im Tonstudio verbarrikadiert, um nach zehn Jahren gemeinsamen Tourens ihr Lost-Girls-Debütalbum „Menneskekollektivet“ einzuspielen.

Zwischen jedem Take checkten sie die Nachrichtenlage, cancelten Konzerte ihrer Welttournee oder kauften Toilettenpapier. Ihre emotionale Zerstreuung, der plötzliche Wunsch nach Distanz und gleichzeitiger Intimität verbinden die vielen Fragmente zu einem „menschlichen Kollektiv“, wie der norwegische Albumtitel ins Deutsche übersetzt wird. Improvisierte Skizzen des einen wurden vom anderen verfremdet. 

Die fünf Songs ignorieren die 2-Minuten-30-Diktatur von Spotify und bäumen sich langsam auf: Warme Synth-Flächen mäandern in Dancefloor-Rhythmen, Voldens schmutzige E-Gitarre elektrifiziert die abstrakte Lyrik von Hval. Viele ihrer Worte sind im Studio improvisiert, einige als Spoken Word vorgetragen, manche im Trip-Hop-Chorus gesungen. Zitate aus dem ersten computergenierten Buch aus dem Jahr 1984 erinnern daran, dass Elektrizität schon damals das Gold der Maschinen war.

Jenny Hval hat sich im Feuilleton eine Reputation als schreibende Konzeptkünstlerin aufgebaut, die sie jedoch in Interviews bisweilen dekonstruiert: „Ich rede einfach, doch ich habe keine Antworten.“ Oder: „Ich kann mich nicht erinnern, was ich damit sagen wollte.“ Auch wenn nicht hinter jedem scheinbaren Konzept eine Theorie stecke, schwäche das keineswegs die Bedeutung ihrer Texte. „Theoriekonzepte neigen bisweilen dazu, dass die Kunst zu erzwungen wirkt“, meint Hval, „doch dieses Album ist alles andere als erzwungen; es ist faul wie wir, aber es macht Spaß.“ 

Vielleicht spielen wir nur noch für den Hund.

Unfaire Bezahlung

Im Song „Carried by Invisible Bodies“ thematisieren die Lost Girls das Schreiben und das resonanzlose Vakuum ihrer „fiktionalen Konversation“. Ist die Zukunft der Livemusik auch zur virtuellen Einseitigkeit verdammt? 

Von einsamen Streaming-Konzerten vor einer Kamera halten die beiden wenig. Um das Publikum zu berühren, brauche es die Präsenz der Musikerinnen und Musiker sowie eine echte Interaktion im Publikum. Auch die begleitende Verschränkung von Popmusik mit Social Media nerve zunehmend.

Wenig spannend findet Hval die Vorstellung, dass ein Computerprogramm jedes ihrer geschriebenen Worte sammeln und daraus ein neues Textwerk schaffen könnte. Vielleicht auch, weil sie sich schon an generativer Kunst abgearbeitet hat, als sie in Echtzeit geschriebene Worte von einer Sprachsoftware vorlesen ließ und live bearbeitete. „Um Technologie organisch, progressiv und interessant einzusetzen, muss man Technologieexpertin werden. Wir arbeiten mit Chatbots und Programmen, deren Rahmen jemand anderer für uns erschaffen hat“, sagt Hval.

Die wahren Bedenken der Lost Girls zur Zukunft der Musik: Wie sie weiterhin abseits einer kommerzialisierten Industrie arbeiten können. Einer brutalen Streamingwelt, in der Spotify mit unfairer Bezahlung und Algorithmen den Erfolg von Musik bestimme, wollen sie sich nicht anpassen. „Vielleicht verschwinden wir einfach“, meint Hval lapidar. „Und spielen nur noch für unseren Hund.“ ● ○