Schaltkreis des Wissens: International Institute for Applied Systems Analysis, Laxenburg
Luiza Puiu
Schaltkreis des Wissens: International Institute for Applied Systems Analysis, Laxenburg

Zukunftsforschung

Aussichtsturm im Datenmeer


Seit Corona gehören Modellrechnungen und Prognosen zu unserem Alltag. Nicht immer wird dabei klar kommuniziert, dass Voraussagen spekulativ bleiben. Das International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) ist eine Forschungseinrichtung von Weltrang und erstellt, angesiedelt ausgerechnet im traditionsreichen Barock­schloss Laxenburg, Zukunftsszenarien. Ein Besuch im Reich des Ungewissen.

Eine schmale Treppe führt von den weitläufigen Fluren des Schlosses in das Belvedere. Trompe-l’œil-Fresken zeigen grünberankte Spaliere, rote Blumen und eine Allee, die ins Nichts führt. Auch wenn die Fresken verblasst sind, erzeugen sie das Gefühl, vor einem verwunschenen Park zu stehen. In dem dreigeschoßigen Aussichtsturm des Schlosses Laxenburg, wo dieses malerische Spektakel stattfindet, spielten früher die zahlreichen Kinder der Kaiserin Maria Theresia. Heute stehen hier verwaiste und in die Jahre gekommene Büromöbel herum. Bis vor Kurzem wurde in diesen geschichtsträchtigen Räumen noch geforscht. Wegen der Feuerschutzbestimmungen ist das derzeit nicht möglich. In den darunterliegenden weitläufigen Räumen des Schlosses dagegen arbeiten heute an die 400 Forschende aus aller Welt.

Global vernetzt zu forschen, das war der Gründungsgedanke des Instituts. Im Oktober 1972 trafen sich der US-amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson und der sowjetische Premier Alexei Kosygin in London und unterschrieben die Gründungscharta des IIASA. Zehn weitere Länder aus Ost und West schlossen sich an; sie wollten die internationale wissenschaftliche Kooperation vorantreiben. Und das mitten im feindlichen Klima des Kalten Krieges. Heute wird das IIASA von 24 Mitgliedsstaaten finanziert, es berät unter anderem die Vereinten Nationen. Das Institut widmet sich dabei Themen, die viel zu groß oder zu komplex sind, als dass sie von nur einem Land oder einer einzigen akademischen Disziplin behandelt werden könnten.  

Mediale Aufmerksamkeit

Der höchste, hellste und schönste Raum des Turmes wirkt wie eine Pergola, die Fenster blicken weit über die Landschaft. Dass dieser Bereich des Schlosses für Besprechungen genutzt wurde, verrät ein verlassenes Whiteboard. Was darauf geschrieben steht, ist für Laien nicht zu entschlüsseln: Rechnungen, Pfeile, eine kleine Porträtzeichnung. „Das ist noch von mir“, lacht Sebastian Poledna. Der 41-Jährige ist Gruppenleiter am IIASA und schätzt die globale Ausrichtung des Instituts: „Ich habe schon in verschiedenen Instituten und Unis gearbeitet, aber nirgends war es so international wie hier.“

Wenn man ihn fragt, was er hier eigentlich erforscht, holt er erst einmal tief Luft – denn es ist nicht leicht zu erklären. Kurz und vereinfacht: Sein Team und er entwickeln Modelle, um zukünftige Entwicklungen zu simulieren. Da­runter mathematische Modelle, die auf Papier gelöst werden können, bis hin zu detaillierten Computermodellen, die Massendaten nutzen. Dabei geht es zum Beispiel um Auswirkungen des Klimawandels auf die Wirtschaft oder die ökonomischen Folgen von Naturkatastrophen. Für gewöhnlich tun sie das im – für Laien – obskuren Raum der hochspezialisierten Wissenschaft. 

Nirgends war es so international wie hier.

Bis im Frühjahr 2020 alles anders wurde. Die Coronapandemie brach über die Welt herein und Modellrechnungen wurden alltäglich. Poledna erinnert sich noch an einen Morgen im Frühsommer letzten Jahres: Er saß gerade beim Frühstück, als er plötzlich auf Ö1 die Stimme eines Kollegen erkannte. Polednas Team konnte schon sehr früh zeigen, dass uns die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise noch viele Jahre lang beschäftigen werden und nicht nur einige Monate, wie anfangs gedacht. Diese mediale Aufmerksamkeit hatte es vorher nicht gegeben, denn Polednas Spezialisierung, die makroökonomische Modellierung, stößt normalerweise bei der breiten Öffentlichkeit nicht auf großes Interesse. Ansonsten interessieren sich eher andere Wirtschaftsforschende dafür oder große Banken.

Alles, was Sebastian Poledna für seine Arbeit braucht, ist sein Laptop. Und eine Verbindung zum schnellsten Rechner der Welt; er heißt Fugaku und steht in Tokyo. Der sogenannte Supercomputer ist in der Lage, eine unvorstellbare Menge an Einzeldaten zu verarbeiten und die von den Forschenden entwickelten Modellrechnungen zu lösen. Die IIASA-Forschung versucht auf Basis dieser Modelle verschiedene mögliche Szenarien für die Zukunft zu entwerfen. 

Die Szenarien könnten der Politik helfen, möglichst kluge Entscheidungen zu treffen. Und das ist weitaus komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint, denn die Komplexität hat in unvorstellbarem Ausmaß zugenommen: Durch die Digitalisierung werden immer mehr Daten erhoben, es sind also immer mehr Informationen für die Wissenschaft verfügbar. Auch das Bevölkerungswachstum, die Globalisierung und die Erfassung diverserer Lebensmodelle machen Zukunftsmodellierungen komplexer, vielschichtiger und detaillierter. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit – um den Klimawandel, die Überalterung in Industriestaaten oder die Sicherheit der Energieversorgung. Spätestens jetzt wird klar: Wenn unsere politischen und persönlichen Entscheidungen auf solchen Modellen basieren, müssen diese unbedingt nach streng wissenschaftlichen Kriterien erstellt werden, glaubwürdig und ihre Entstehung transparent sein. 

Mehr Skepsis

Nicht erst seit Corona gibt es neben den renommierten und akkreditierten Expertinnen und Experten viele selbsternannte Zukunftsforschende. Doch wie unterscheidet man seriöse von unseriöser Zukunftsforschung? Leena Srivastava, die stellvertretende wissenschaftliche Leiterin des IIASA, beantwortet die Frage im Video-Interview: „Wenn jemand sagt: ‚So wird die Zukunft sein‘, sollten wir sehr skeptisch sein.“

Ein weiteres Problem seien Berechnungen für die Zukunft, die nur auf Daten aus der Vergangenheit basieren. Srivastava zeigt das an einem drastischen Beispiel aus ihrem Heimatland Indien: Immer wieder kommt es dort bei Wasserkraftwerken zu Unglücken – zuletzt beispielsweise im nordindischen Chamoli mit über 200 Toten. Die Pläne für solche Kraftwerke basieren oft auf historischen Wetterdaten, die mehr als hundert Jahre zurückreichen. Das Problem: Der Klimawandel und die Gletscherschmelze verursachen riesige, nie gekannte Schwankungen, die letztendlich dazu führen können, dass ein Damm bricht und ganze Gegenden verwüstet werden. Gerade weil solche auf der Vergangenheit basierenden Berechnungen so fatal sein können, ist es der Wirtschaftswissenschafterin mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit wichtig zu betonen, dass das IIASA eben keine Prognosen erstellt, sondern nur mögliche Szenarien aufzeigt: „Wir sind nicht Gott. Wir können die Zukunft nicht genau voraussehen.“ 

Um eine Lösung für ein komplexes Problem zu finden, müssen sich Menschen mit möglichst unterschiedlichem Background beraten.

Transparenz

Sie schildert die Arbeit des IIASA in zwei Schritten: Erstens müssen die Modelle nach wissenschaftlichen, evidenzbasierten, transdisziplinären Verfahren erstellt werden. Zweitens sollten sie breit diskutiert werden – mit Interessengruppen aus verschiedenen Fachbereichen: „Wenn Ökonominnen und Ökonomen über ein Thema diskutieren, wird das eine gewisse Tendenz haben. Wenn NGO-Mitarbeiter oder Bäuerinnen über dasselbe debattieren, könnte das Ergebnis ganz anders aussehen. Um eine Lösung für ein komplexes Problem zu finden, ist es unerlässlich, dass Menschen mit möglichst unterschiedlichem Background zusammenkommen und sich beraten.“ Leena Srivastava sieht es auch als Aufgabe der Wissenschaft, sich bei Politik und Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Dabei sei es besonders wichtig, zu berücksichtigen, in welcher Realität das Gegenüber lebt: „Wenn wir einen Politiker zu mehr Klimaschutz drängen, er sich aber vor allem um den Arbeitsmarkt sorgt, werden wir wenig ausrichten können. Wir müssen ihm also möglichst überzeugende und einfühlsame Argumente liefern.“

Lösungen bis 2030

Die Forscherin spricht ruhig. Dennoch merkt man ihr an, wie sehr sie die Lage in ihrer Heimat mitnimmt. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs wütet die Pandemie dort besonders stark, Hunderttausende sind schon gestorben, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Trotzdem versucht sie, die Frage zu beantworten, was wir schon jetzt aus dieser Gesundheitskrise gelernt haben könnten: „Ungleichheiten und Abhängigkeiten wurden sichtbarer. Zum Beispiel haben wir in Österreich gesehen, wie abhängig wir von den Pflegekräften aus dem Osten sind. Wir haben gespürt, wie verletzlich wir sind. Und in Bezug auf den Klimawandel haben wir vielleicht ein neues Bewusstsein entwickelt für die globale Vernetzung und die Folgen unseres Lebensstils. Im bescheidensten Szenario führt das zu mehr Umweltschutz – auch ohne Druck der Politik.“

Die Coronakrise ist auch eine globale Wirtschaftskrise. Könnte sie dazu führen, dass Klimaschutz jetzt für viele neben existenziellen Sorgen keinen Platz mehr hat? Weil sich Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft und die vielen anderen Bereiche in der realen Welt gar nicht trennen lassen, kann man sie auch nicht getrennt studieren. Deshalb geht es am IIASA immer um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Systemen. Einer österreichischen Landwirtin würde Srivastava die inter- und transdisziplinäre Arbeit des IIASA folgendermaßen erklären: „Wir schätzen ihren ökologischen Fußabdruck ein, erforschen alle Möglichkeiten, die negativen Auswirkungen auf die Umwelt zu reduzieren und dabei gleichzeitig ihre ökonomische Situation kurzfristig und langfristig zu verbessern. Dann beraten wir die Regierung, welche Schritte am dringendsten sind.“

Und die Zeit drängt: „Die Welt braucht Lösungen bis 2030, und die können wir nur gemeinsam erreichen. Deshalb sind alle von uns erhobenen Daten und Ergebnisse Open Source, also allen zugänglich. Wir wollen andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterstützen und sie ermutigen, sie auch für ihre Forschung zu nutzen.“ Das Ergebnis dieser Forschung sind Zukunftsszenarien: vielschichtige Konglomerate, die Orientierung bieten können für die kommenden Zeiten. Die Zukunft bleibt, so formuliert es Leena Srivastava am Ende unseres Gesprächs, „ein höchst unsicherer und ungewisser Ort“. ● ○