Yvonne Oswald, aus der Fotoserie "Zauberberg Südbahnhotel", 2010
Yvonne Oswald / Landessammlungen NOE
Yvonne Oswald, aus der Fotoserie "Zauberberg Südbahnhotel", 2010

Kunstsommerfrische

Transferleistungen


Wenn die künstlerische Elite des Fin de Siècle im Sommer aufs Land zog, entstand häufig Bemerkens­wertes – auch wenn man zumeist unter sich blieb. Heute fasziniert Künstlerinnen und Schriftsteller der Charme verfallender Tourismusorte.

Der junge Mann ist verstimmt. Jetzt ist er den Weg von der Hauptstadt an den Semmering angetreten – und wer erwartet ihn? Niemand. „Ich habe nie Glück mit meinem Urlaub“, klagt er. „Keinen einzigen bekannten Namen finde ich unter all den Leuten. Wenn wenigstens ein paar Frauen da wären, irgendein kleiner, im Notfall sogar argloser Flirt, um diese Woche nicht gar zu trostlos zu verbringen.“ Der Baron in Stefan Zweigs 1911 verfasster Novelle „Brennendes Geheimnis“ urlaubt in einem Grandhotel in sicherer Entfernung seiner Heimatstadt Wien – und ist doch enttäuscht, die urbane Gesellschaft hier nicht vorzufinden.

Wer auf Reisen geht, möchte Fremdes erkunden. Wer Sommerfrische macht, möchte weg sein, aber doch einen Teil der Stadt mitnehmen. Traditionell war der – möglichst lange – sommerliche Aufenthalt am Lande zumeist Angelegenheit städtischer Schichten. Der Begriff der Sommerfrische wurde bereits im 17. Jahrhundert geprägt: Dem Grimmschen Wörterbuch zufolge zogen damals Bozenerinnen und Bozener temporär von der Stadt in die Berge. Dafür übernahm man den ursprünglich im Veneto geläufigen Ausdruck des „fresco“ oder der „frescatura“ und übersetzte ihn in die „Sommerfrische“.

Die Frauen aus der Stadt hängen ihre Gartenhüte an die Geweihe.

Für die künstlerische und intellektuelle Gesellschaft des Wiener Fin de Siècle spielte die Sommerfrische – etwa in der Region um den Semmering, am Attersee, in Bad Gastein – eine nicht unwesentliche Rolle. Damals erlebten diese Orte einen touristischen Aufschwung. Gustav Klimt schuf am Attersee seine bedeutendsten Landschaftsgemälde, Gustav Mahler ersann dort in einem Komponierhäuschen neue Werke. In Breitenstein am Semmering, in Alma Mahlers Sommervilla, komponierte Ernst Krenek und schrieb Franz Werfel. Die Residenz diente auch als Treffpunkt der Wiener High Society, und Oskar Kokoschka stattete sie mit einem bemerkenswerten Fresko aus. Im Schloss Wartholz bei Reichenau an der Rax, das Ringstraßenarchitekt Heinrich von Ferstel im Auftrag des Erzherzogs Karl Ludwig erbaute, wurden Theaterstücke und Tableaux Vivants aufgeführt. Das Wiener-Werkstätte-Multitalent Kolo Moser unterrichtete ebendort als Zeichenlehrer und weilte oft in der nahen Villa der Familie seiner Frau Ditha Mautner von Markhof, ebenso ein Anziehungspunkt für Kunstschaffende und Intellektuelle aus Wien. Der Blick auf die Berge wurde häufig zum Gegenstand von Mosers Gemälden, in denen er – wie in der „Semmeringlandschaft mit Blick zur Rax“ (1913) – die imposante Kulisse zu flächigen Schichten abstrahierte.

Heimischer Komfort

Wolfgang Kos, Kulturhistoriker und ehemaliger Direktor des Wien Museums, erforscht den Semmering bereits seit den 1980er-Jahren. Demnächst erscheint sein neues Buch „Der Semmering. Eine exzentrische Landschaft“. Im Gespräch mit morgen schränkt er ein, dass er selbst den Ort Semmering nicht unbedingt zu den klassischen Sommerfrische-Destinationen rechne, ähnlich wie Bad Gastein. Schließlich waren diese Orte stets auch im Winter Reiseziel, im Gegensatz etwa zu Reichenau an der Rax. Auch verweilten Sommerfrische-Gäste zumeist mehrere Wochen. Der Begriff werde so etwas unscharf, kritisiert Kos. Im üblichen Sprachgebrauch wird er freilich breiter verwendet.

Eine wesentliche Beobachtung machte Kos bereits in der Anthologie „Schreibtisch mit Aussicht: Österreichische Schriftsteller auf Sommerfrische“, die er 1995 gemeinsam mit seiner Kollegin Elke Krasny herausgab. Darin beobachtete er: „Sommerfrischler nahmen und nehmen stets die Stadt mit aufs Land. Das Ambiente traditioneller Sommerfrischekolonien wie Gmunden, Reichenau oder Pörtschach war von Anfang an von städtischen Umgangsformen, Moden und Prestige-Rangordnungen bestimmt. Die Sommerfrische beschleunigte den Transfer des Wiener Lebensstils in diverse Winkel der Monarchie.“

Das zeigt sich bis heute in der Architektur: Gebäude wie das Südbahnhotel am Semmering, das Landhaus Khuner am Kreuzberg bei Payerbach von Adolf Loos und die Josef-Hoffmann-Villa in Gars am Kamp demonstrieren das Selbst-, vielleicht auch Sendungsbewusstsein einer urbanen großbürgerlichen Schicht – aber auch den Willen, den heimischen Komfort am Lande weiterhin zu genießen. Das betraf, wie es bereits Zweig beschrieb, auch das soziale Umfeld. „Von Arthur Schnitzler, Adolf Loos oder Hermann Bahr weiß man, dass sie deshalb so gern auf dem Semmering waren, weil sie dort ihr gewohntes Leben nicht verlassen mussten. Die Gespräche der Wiener Kaffeehausrunden konnten nahtlos weitergehen“, so Wolfgang Kos in der Publikation „Wohnen im Sommer. Das Phänomen Sommerfrische“, herausgegeben von Theresia Hauenfels und Thomas Jorda. Eine Verbindung wie die platonische Liebe Arthur Schnitzlers zu Olga Waissnix, Wirtin des Hotels Thalhof in Reichenau, blieb da eher die Ausnahme. Denn häufig blieb man unter sich und forcierte nicht unbedingt den Kontakt zu den Einheimischen.

Auch bei der Ausstattung der Aufenthaltsorte hatte man es gern vertraut. Anton Wildgans freute sich etwa über ein „entzückendes Mansardenzimmer“ in seinem Sommerfrischeort Mönichkirchen in der Buckligen Welt, das „in wunderbarer Friedlichkeit“ throne: „Alte Möbel in der Art der Lerchenfelderstraße stehen darin, dann meine Reisebibliothek usw.“, schrieb er. Hugo von Hofmannsthal schilderte 1897 in seiner Erzählung „Das Dorf im Gebirge“ unter dem Eindruck seiner Sommerfrische im Ausseerland, wie Gäste ganze Dörfer in Beschlag nehmen. Bauernfamilien stellten diesen ihre Schlafzimmer zur Verfügung, während sie selbst in Dachkammern auswichen. „Die Frauen aus der Stadt hängen ihre großen Gartenhüte und ihre bunten Sonnenschirme an die Geweihe; in der Schlinge eines Rosenkranzes befestigen sie das Bild einer Schauspielerin, deren königliche Schultern und hochgezogene Augenbrauen unvergleichlich schön einen großen Schmerz ausdrücken.“

Workation

Für Kunstschaffende und Intellektuelle bedeutete das temporäre sommerliche Verweilen am Lande zumeist vor allem eins: nämlich Arbeit. Was heute unter dem Stichwort „Workation“ hip ist, war damals in gehobenen künstlerischen Kreisen eher der Standard als die Ausnahme. Gustav Klimt beschrieb 1902 den Tagesablauf, den er am Attersee pflegte: „Früh morgens, meist um 6 Uhr, ein wenig früher, ein wenig später – steh ich auf – ist das Wetter schön, geh ich in den nahen Wald – ich male dort einen kleinen Buchenwald (bei Sonne) mit einigen Nadelbäumen untermischt, das dauert bis 8 Uhr, da wird gefrühstückt, darnach kommt ein Seebad, mit aller Vorsicht genommen – hierauf wieder ein wenig malen, bei Sonnenschein ein Seebild, bei trübem Wetter eine Landschaft vom Fenster meines Zimmers.“

Darnach kommt ein Seebad, mit aller Vorsicht

Würde einer Grande Dame

Orte wie der Semmering oder Bad Gastein, in denen Grandhotels entstanden, waren frühe exklusive Tourismusdestinationen, in die zumeist städtische Unternehmen investierten. In seinem neuen Buch „Hotel Paradiso“ schreibt der Kulturjournalist Matthias Dusini über den Semmering: „Der Bildungsbürger träumt sich in eine erhabene Vergangenheit hinein, als die Kunst die Nähe von Reichtum und Eleganz suchte. Er vergisst dabei die Gewalt, mit der Investoren bereits damals eine bis dahin unberührte Landschaft nach ihren renditegetriebenen Vorstellungen formten.“ Dem Charme von Bettenburgen außer Dienst kann sich heute freilich kaum jemand entziehen. Das zeigt sich vor allem beim Blick der Kunst auf die einstigen Rekreationsorte des Fin de Siècle. Nicht nur einmal war etwa das seit Langem leerstehende Südbahnhotel am Semmering Sujet von Fotoserien. Eine davon befindet sich in den Landessammlungen Niederösterreich und stammt von der Fotografin Yvonne Oswald. In ihren Bildern breitet sich der einst glanzvolle Speisesaal des Hotels, wie ihn wohl Stefan Zweig erlebt hat, in seiner ganzen Leere aus, haben Möbel ihren Zweck verloren und genügen sich selbst. Das „Märchenschloss“, das der Künstlerin bei ihrem ersten Besuch „sehr, sehr wienerisch“ erschienen war, faszinierte sie von Anfang an. Das schreibt sie im Fotoband „Das Südbahnhotel“, wo sie die Serie publizierte. Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow notiert darin: „Trotz des sichtbaren Niedergangs verliert das Haus keineswegs die Contenance, ganz im Gegenteil. Die an den Leisten abstehenden Tapeten, die löchrigen Bezüge, die abgeschlagenen Kanten der Lackierungen verleihen dem Haus die Würde einer Grande Dame, deren individuelles Alter vor dem Hintergrund einer längeren Geschichte niemals gegen sie verwendet werden darf.“

In Bad Gastein wurde die verfallende Kulisse zum Faszinosum einer Kunstcrowd, die nicht nur aus österreichischen Städten, sondern auch aus dem Ausland anreist: Berliner Galeristen, Zürcher Designerinnen und US-amerikanische Reporter entdecken seit ein, zwei Dekaden die leicht morbide Atmosphäre des Ortes. Der weißhaarige deutsche Alleinunterhalter Friedrich Liechtenstein verhalf ihm mit einem gleichnamigen Album sowie dort gedrehten Videos zu neuer Prominenz über die Grenzen Österreichs hinaus. Ebenso die Hamburger Kuratorin Andrea von Goetz und Schwanenfliess, die mehrere Jahre Kunstschaffende in Gastateliers lud und das Festival Sommer.Frische.Kunst gründete. 2022 soll eine Messe mit dem Titel Art Moves Mountains den hippen Kunstjetset von Zürich bis Berlin anziehen. Bei früheren Gelegenheiten gastierten in Bad Gastein bereits illustre Player wie der Berliner Galerist Johann König, dessen Galerie derzeit zu den angesagtesten im deutschsprachigen Raum zählt.

Zuletzt erhielt der Ort erhöhte Aufmerksamkeit, als er dem Schriftsteller und Regisseur David Schalko als Vorlage für seinen Roman „Bad Regina“ diente. Darin kauft ein chinesischer Investor alles auf, bis nur noch 46 Menschen in dem Ort wohnen. Zu Beginn reflektiert Protagonist Othmar das Faszinosum des Verfallenen: „Othmar hatte sich oft gefragt, wie lange ein Haus ein Haus blieb und ab wann man es wieder Natur nennen müsste. War das alte Helenenbad noch ein Bad? Othmar hatte nie das Bedürfnis gehabt, dort schwimmen zu gehen. Zu viel Marmor. Zu viel Kurort. Erst als es zusperrte, spürte er das Verlangen danach. Ähnliches galt für das Grand Hotel, das Casino, das Sanatorium Kleeberg, die Radon-Bäder, das Kraftwerk – selbst das brutalistische Kongresszentrum, das sie in den Siebzigern in die Mitte des Ortes gestellt hatten, nahm Othmar erst richtig wahr, als es dem Verfall überlassen wurde.“

Der Transfer des Urbanen ins Ländliche funktioniert im 21. Jahrhundert in Bad Gastein ähnlich wie vor hundert Jahren: Über die wiederbelebten Hotelbetriebe dort schreibt etwa die Neue Zürcher Zeitung: „Am Werk waren hier fast ausschließlich Städter, die wissen, wie Städter heute in den Ferien in den Bergen ihre Zimmer eingerichtet haben wollen.“ Das klingt vertraut: nach Stefan Zweig und Anton Wildgans. ● ○